Irgendwo müsste die Postkarte liegen, Frantisek Banyai wühlt sich durch die Ablage auf seinem Schreibtisch.
"Mir hat neulich jemand eine Postkarte geschenkt; ich bin jetzt nicht ganz sicher, ob ich sie noch hier habe."
Postkarten sind die Leidenschaft von Frantisek Banyai; er sammelt alte Aufnahmen von Synagogen und anderen jüdischen Einrichtungen aus ganz Europa. Jetzt geht ein Lächeln über sein Gesicht, er hat die gesuchte Karte unter einem Papierstapel gefunden – sie zeigt das jüdische Rathaus in Prag; so wird schon seit jeher das Gebäude mitten in der Altstadt genannt, in dem die Fäden des jüdischen Lebens in Böhmen und Mähren zusammenlaufen.
"Die deutsche Abteilung ist riesig"
"Das ist ein recht geläufiges Motiv; das jüdische Rathaus gibt es auch aus anderen Perspektiven. Aus meinem Sammlungsgebiet ist das eine der häufigsten Ansichtskarten."
Für Frantisek Banyai ist es trotzdem eines der persönlichsten Motive: Auf dem Foto von 1882 ist im zweiten Stock des Gebäudes genau das Fenster zu sehen, hinter dem Banyai gerade steht. Im jüdischen Rathaus von heute sieht es so aus, als hätte sich in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten nichts geändert: Das Büro von Banyai, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Prag, ist ausgestattet mit schweren, antiken Möbeln. Im dunkel gebeizten Wandschrank stehen kunstvolle Glasvasen und ein goldener siebenarmiger Leuchter. Einzig der Bildschirm auf dem Schreibtisch ist ein Zeichen aus der Gegenwart; über ihn beugt sich Banyai gerade und zeigt seine Homepage, auf der er seine Postkartensammlung erfasst hat: Mehr als 3.000 Exemplare, ein Motiv nach dem anderen lässt sich anklicken.
"Die deutsche Abteilung ist riesig. Das hier ist, schauen Sie nur, die Berliner Sammlung. Die meisten Karten sind aus den Jahren zwischen 1895 und 1925, danach werden es deutlich weniger."
"Fangt nicht beim Holocaust an"
Frantisek Banyai ist 72 Jahre alt, er trägt einen grauen Vollbart und eine rote Strickweste, auf seinem Kopf die Kippa. Wohlhabend geworden ist er mit einer IT-Firma – wohl auch wegen seines Faibles für das Digitale hat er seine Sammlung ins Internet gestellt, die ansonsten zu Ausstellungen bis nach New York oder Jerusalem unterwegs ist. Gewaltig ist das Interesse am untergegangenen jüdischen Leben – an Zeugnissen aus jener Zeit, in der die Synagogen in Böhmen und Mähren und im Rest Europas noch zum Stadtbild gehörten.
"Ich habe gar nicht aus nostalgischen Gründen angefangen zu sammeln, sondern nur aus Lust auf das Sammeln selbst. Erst heute mache ich mir diesen nostalgischen Aspekt bewusst. Mir wird immer wieder klar, dass man – sobald man über die jüdische Community spricht – mit dem Holocaust anfängt. Ich zeige in solchen Fällen jetzt meine Postkarten und sage: Fangt nicht beim Holocaust an, sondern lieber mit dem, worum Europa sich gebracht hat."
In Prag verwaltet Banyai heute als Gemeindevorsitzender die Überreste des einstigen kulturellen Reichtums – 170 Friedhöfe, 30 Synagogen, so zählt er auf, viele davon dringend renovierungsbedürftig.
"Das ist eine Aufgabe für die nächsten 20, 25 Jahre. Wenn man aus einem Steak Hackfleisch macht, dann wird da aber nie wieder ein Steak draus. Wir wollen uns auf das konzentrieren, was in unseren Möglichkeiten steht. Alles andere ist nur hypothetisch und kein Thema für uns."
"Jüdische Wurzeln verheimlicht"
Es ist das gleiche Problem, vor dem alle jüdischen Gemeinden stehen – trotzdem gibt es eine tschechische Besonderheit: Das jüdische Leben ist hier während des Kommunismus systematisch unterdrückt worden. Mit Auswirkungen, die heute das Gemeindeleben prägen, sagt Frantisek Banyai.
"Man hat jüdische Wurzeln in vielen Familien verheimlicht, viele Kinder haben erst in höherem Alter erfahren, dass sie zur jüdischen Gemeinde gehören."
Das sei heute anders. Die Gemeinde kümmere sich deshalb nicht nur um die letzten, inzwischen hochbetagten Holocaust-Überlebenden aus ihren Reihen, sondern verstärkt auch um die junge Generation – ein Novum in der jüngeren Zeit.
"Wir haben 300, 350 Schüler auf der jüdischen Schule. Ich behaupte natürlich nicht, dass die alle später als Erwachsene aktive Gemeindemitglieder werden – aber der große Vorteil ist: Für sie ist die Gemeinde nichts Fremdes, sie können jederzeit kommen."
"Der Abstand zur Gemeinde existiert nicht mehr"
Frantisek Banyai selbst ist in einer Familie aufgewachsen, in der die Religion keine Rolle gespielt hat, und noch heute, sagt er kokettierend, habe er nur selten das Bedürfnis, in eine Synagoge zu gehen. Und dann fügt er einen Satz hinzu, der zeigt, wie sehr sich das jüdische Leben in Tschechien verändert hat in den vergangenen Jahren:
"Ich sehe das an meiner Enkelin. Wir sind neulich irgendwo hingeflogen, und auf einmal hat meine kleine Enkelin angefangen, dort im Flugzeug ein hebräisches Lied zu singen, ein jüdisches Gebet. Mir kam das erst ganz fremd vor, und es zeigt: Die Gemeinde ist etwas ganz Natürliches – etwas, wovor die jungen Leute keine Angst mehr haben müssen, so wie es bei uns war bis 1989. Der Abstand zur Gemeinde, der existiert nicht mehr."
Er blickt auf seine Postkarte vom jüdischen Rathaus, auf dieses fast 150 Jahre alte Bild. Doch Frantisek Banyai muss heute nicht mehr in die Vergangenheit abtauchen, wenn er jüdisches Gemeindeleben sehen will.