Freudiges Wiedersehen und ausgelassene Stimmung zu Beginn des jüdischen Jugendkongresses in Frankfurt am Main. Manche tragen bunte Kostüme, denn es ist Purim, eine Art jüdischer Karneval, bei dem die Errettung des jüdischen Volkes vor den Persern durch die biblische Ester gefeiert wird. Allerdings ist auch die aktuelle Bedrohung Thema des viertägigen Beisammenseins: "Terrorgefahr – der islamische Fundamentalismus. Herausforderungen und Perspektiven " steht auf allen Einladungsflyern und Kongressmappen. Von der Bedrohung lassen sich die jungen Erwachsenen hier aber nicht abschrecken. Im Gegenteil:
Ivgenij sagt: "Jeder sollte mal Selbstverteidigungskurse besucht haben, das ist generell eine gute Sache, auch als Sport. Aber vor Terroranschlägen wird das nicht schützen. Das hätte den Leuten in Brüssel jetzt auch nicht geholfen. Für Panik sehe ich derzeit keine Gründe. Ich kenne einige Leute, die mit dem Gedanken spielen, auszuwandern. Aber das sind nicht die meisten. Ich sehe die Terrorgefahr hier in Deutschland wesentlich geringer als in Israel. Aus Angstgründen von hier nach Israel auszuwandern macht keinen Sinn, weil da gibt's noch mehr Terroranschläge."
Marina aus Nürnberg erklärt: "Allgemein nicht nur für Juden wird's langsam kritisch. Jetzt ist Gegner nicht der Jude, sondern allgemein der Mensch. Deswegen ist es jetzt gefährlich, egal ob Du jetzt in Deutschland bist oder in Amerika oder in Kanada."
Maria aus Fürth ergänzt: "Ich sehe Deutschland als mein Land an. Ich möchte nicht, wenn es dem Land schlecht geht, einfach abhauen. Was ist mit den anderen Menschen? Man muss Lösungen finden."
"Man darf die Augen nicht verschließen"
Es gehe auch nicht darum, junge Leute zu verunsichern. Aber man dürfe die Augen nicht verschließen, sagt Abraham Lehrer, Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland: "Ich weiß nicht, ob sie sich mehr damit beschäftigen müssen als Nicht-Juden. Aber ich glaube Juden haben ein besseres Feingefühl, eine größere Empfindlichkeit für diese Dinge, weil Juden im Laufe ihrer Geschichte immer wieder verfolgt worden sind, angegriffen worden sind. Von daher haben wir vieles aus unserer Geschichte, unserer Vergangenheit gelernt und wissen, wenn wir uns nicht damit beschäftigen, dann wird es uns vielleicht wieder überrennen."
Hochrangige Terrorexperten sind beim jüdischen Jugendkongress zugegen. Holger Münch etwa, Präsident des Bundeskriminalamtes. Ziel der IS-Terroristen sei es, in Europa Verunsicherung zu verbreiten, sagt er.
"Wir sehen auch, dass der IS das Flüchtlingsthema gezielt nutzt. Zwei der Attentäter, die in Paris eine Rolle gespielt haben, sind über den Flüchtlingsstrom eingereist über die Balkanroute. Wir gehen davon aus, dass das sehr bewusst geschah. Es sind nicht sehr viele, die drei Mal registriert werden auf dem Weg bis Kerneuropa. Und wenn man dann seinen Reisepass mitnimmt zum Anschlag, so dass man letztlich eine Visitenkarte für die Polizei hinterlässt, dann kann man davon ausgehen, dass das auch sehr schnell erkannt werden sollte."
Durch die militärischen Erfolge der Gegner sei der IS derzeit in der Defensive. Es gebe auffallend viele Aufrufe, dass vor allem gebildete und technisch versierte Kämpfer gebraucht würden und diese sich eben nicht nach Europa absetzen sollten. Zwar gebe es - wie jetzt in Brüssel geschehen - gezielte Kampfaufträge an Einzelne. Aber eine massenweise Einschleusung von Dschihadisten sei derzeit nicht erkennbar, meint auch Peter Neumann, Terrorismusexperte am Londoner King's College. Die Syrien-Flüchtlinge, von denen viele säkular und eben nicht religiös seien, seien keine IS-Sympathisanten, aber, so Neumann:
"Ich glaube nicht, dass es unter den Flüchtlingen unmittelbar ein großes Rekrutierungspotential gibt, aber wenn das nicht klappt in den nächsten fünf bis zehn Jahren, dass es dann eine Art von Frustration gibt, die sich in Richtung des Salafismus oder des dschihadistischen Salafismus lenken lassen kann, die dann aufbaut möglicherweise auf bereits vorhandene Vorurteile gegenüber Juden und gegenüber dem Westen. Ich glaube nicht, dass es jetzt eine unmittelbare Gefahr ist, aber eine mittelfristige Gefahr schon."
Jüdisches Engagement für Flüchtlinge
Daher gebe es auch in der jüdischen Gemeinschaft eine große Bereitschaft, sich für Flüchtlinge einzusetzen. Benjamin Fischer ist Präsident der Europäischen Union jüdischer Studenten, in der rund 160.000 Mitglieder organisiert sind.
"In der Schweiz gab es Studierende, die Anziehsachen und Spenden gesammelt haben, die ganze Lastwagen gefüllt haben und dann eine Tour durch den Balkan gemacht haben, um eben direkt bei den Flüchtlingen zu sein."
Mit Flucht, Vertreibung und Integration kenne man sich bestens aus. Und gerade Juden hätten einen besonderen Zugang zu arabischen und muslimischen Flüchtlingen. Fischer: "Nach den 1990er Jahren kamen mit den so genannten Kontingent-Flüchtlingen eine Vielzahl von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion hier nach Deutschland. Plötzlich musste eine recht kleine jüdische Gemeinschaft eine Vielzahl Geflüchteter integrieren. Das geschah vor allem mit der russischen Sprache. Nun ist es so, dass viele der Geflüchteten aus Syrien Russisch sprechen. Und der Erfahrungsschatz, der damals gewonnen werden konnte, lässt sich nun ganz direkt anwenden bei den Geflüchteten zum Beispiel aus Syrien. Ich selber spreche auch Arabisch. Es gibt viele Juden, die arabisch sprechen aufgrund der Herkunft aus arabischen Ländern."
So hat die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland im letzten Jahr auch ein Pilotprojekt gestartet: Israelische Jugendliche leisten einen Freiwilligendienst in Deutschland. Gerade syrische Flüchtlinge seien in ihrer Heimat mit einer anti-israelischen und anti-jüdischen Schulbildung und Propaganda groß geworden. Nun wolle man diese Stereotype aufbrechen, sagt Laura Ester Cazés, die den Freiwilligendienst bei der Zentralwohlfahrtstelle koordiniert. "Die Freiwilligen, die jetzt im Pilotjahrgang sind, sind Menschen, die in Jugendorganisationen groß geworden sind, die sich ganz stark machen für eine Koexistenz. Da kann man die Stadt Haifa als gutes Beispiel nennen, in der sowohl christliche Araber, muslimische Araber, jüdische Menschen, Drusen, Tscherkessen leben und das eigentlich sehr gut funktioniert."
Auch in Syrien gebe es ein ähnliches Vielvölkergemisch. Wichtig sei zum Beispiel die Vermittlung arabischer Israelis in deutsche Asylbewerberheime, sagt Laura Ester Cazés von der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland. So könne die alte Konfrontation Juden und Israelis gegen Muslime und Araber durchbrochen werden.