Götz Aly beschreibt es, als hätten viele Menschen in der Ukraine hatten nur auf diese Gelegenheit gewartet: Kaum hatte sich 1918 eine "Ukrainische Volksrepublik" gegründet, da fielen die Einwohner über ihre jüdischen Nachbarn her. In den folgenden zwei Jahren erlebte das Land mehr als 1.500 Pogrome. Götz Aly schreibt: "Überall wurden Juden in ihren Häusern verbrannt, auf offener Straße erstochen, erschlagen, zu Tode getreten oder erschossen. Ganze Familien kamen um. Sie hinterließen niemanden, der über ihre Schicksale hätte berichten können."
Zehntausende Juden fielen dieser Gewaltorgie zum Opfer. Und doch war es nur eine neue Episode in der Geschichte von Diskriminierung, Terror und Mord, wie sie für ganz Europa seit dem Mittelalter dokumentiert ist. Dennoch macht Aly hier etwas Neues aus.
Antisemitismus aus Neid
"Kauft nicht bei Juden" hatte es in der Ukraine schon 1884 geheißen. Begonnen hatte es schleichend, wie Götz Aly erklärt.
"Plötzlich werden Juden - etwa in Russland zuallererst - vom Studium ausgeschlossen, es wird quotiert, sie dürfen zu bestimmten Zahlen die Gymnasien nicht mehr besuchen, werden zu bestimmten Berufen nicht mehr zugelassen – und das hat nichts, aber auch gar nichts mit dem mittelalterlichen Antisemitismus zu tun, sondern das ist ganz neu und hat zu tun mit der allgemeinen sozialen Frage, mit der sozialen Mobilisierung."
Denn in dieser Zeit ab 1880 wandelten sich Wirtschaft und Gesellschaft rapide. Götz Aly weist für mehrere osteuropäische Länder statistisch nach, dass Juden sich darauf relativ gut einzustellen wussten. Damit aber wurden sie von ihren Neidern rasch zu Sündenböcken gestempelt für alles, was es an neuen sozioökonomischen Ungerechtigkeiten gab.
Die Triebfeder des Hasses: der Nationalismus
Dann kam der Erste Weltkrieg: Nie zuvor hatte in Europas Gesellschaften Gewalt eine solche Rolle gespielt. Und nie war der Nationalismus in Osteuropa so präsent wie in den neuen Staaten nach 1919. Das war für den Antisemitismus wohl der entscheidende Treibsatz.
"All das geschah in materiell und menschlich verheerten Ländern, denen es an innerer Integration, Selbstbewusstsein, allgemein akzeptierten Verfassungsorganen und wirtschaftlicher Zukunft mangelte. Der 1917/18 bejubelte Sturz alter Obrigkeiten, Rangordnungen und Konventionen entfachte die Glut von Antisemitismus und Gewalt - weil die neukonstituierten Staaten nationalistischer Niedertracht sehr viel weitere Spielräume eröffneten als die multinationalen Monarchien."
Götz Aly hebt allerdings hervor, dass es Antisemitismus aus wirtschaftlichem Neid heraus auch in Westeuropa gab. Zum Beispiel in Frankreich. Dort fanden zahllose osteuropäische Juden Zuflucht. Weiterfliehen nach Amerika wie vor 1914 aber konnten sie nicht mehr - denn die USA und Kanada hatten die Einwanderungsregeln verschärft. Viele fliehende Juden blieben unterwegs hängen - auch in deutschen Überseehäfen.
Deutscher Antisemitismus vor 1933 und danach
Immerhin bot dieses Deutschland in der Weimarer Zeit ein auf den ersten Blick überraschendes Bild.
"Wenn man die Erscheinungsform vor 1933 betrachtet, ist es eine der schwächsten Formen des Antisemitismus in Europa überhaupt, er ist ganz verhalten, ganz gedämpft - ich bezeichne diesen Antisemitismus als verklemmt. Das Gefährliche am deutschen Antisemitismus hat Theodor Herzl - also eigentlich der prominenteste Begründer des Zionismus ganz früh erkannt - er hat nämlich gesagt: Gerade wo es so gedämpft ist, lauert hinter einer Fassade eine riesige Gefahr."
Aly macht für die Weimarer Republik einen - so wörtlich - hinterhältigen Neid-Antisemitismus aus. Und der fand schließlich ein typisch deutsches Ventil.
"Die Leute haben ihren Hass 1933 - ihren verborgenen Hass, ihren kleinen bösen Neid - an den Staat abgetreten, sozusagen die Vollmacht erteilt: Mach doch du, lieber Staatsapparat, mit den Juden, was ihnen gebührt - uns kümmert das nicht so genau."
Allerdings widerspricht Aly einer verbreiteten These: Der europäische Antisemitismus des 20. Jahrhunderts habe sich nicht bevorzugt in Diktaturen ausgebreitet; sondern dort, wo die Bevölkerung politisch mitbestimmen konnte.
Das Paradoxon: Antisemitismus wuchert in Demokratien
"Es sind demokratische Massenbewegungen, die den Antisemitismus dort voranbringen, gerade in Frankreich oft schon damals getragen von Leuten, von Führern, die sich vormals zum Sozialismus bekannten, und die allesamt national-soziale Ideen entwickelt haben, also ähnlich wie heute Marine Le Pen sozusagen den sozialen Fortschritt für die kleinen Leute, Sicherheit, Geborgenheit, nationalen Protektionismus und Hass gegen Minderheiten, gegen Fremde förderten."
Im Buch formuliert Aly: "Gute, niemals zu missbilligende Bildungspolitik und der staatlich geförderte Wille zu massenhafter Aufwärtsmobilität - also die größten Erfolge im Europa des 20. Jahrhunderts - steigerten den Hass. Dieselbe Ambivalenz muss für die schönsten, gleichfalls bewahrenswerten politischen Ideen der europäischen Neuzeit in Betracht gezogen werden. Sie heißen: Demokratie, Volksfreiheit, Volkswille, Selbstbestimmung und soziale Gleichheit."
Wohl drängt sich die Frage auf, ob dieser Antisemitismus ein zwangsläufiger Bestandteil des demokratischen Systems war - oder nicht vielmehr das Zeichen einer geistigen Fehlfunktion auf mehreren Ebenen. Mit dem Historiker Heinrich August Winkler formuliert: Das westliche Projekt Demokratie selbst ist nicht dadurch widerlegt, dass Menschen in Demokratien politisch versagen. Ein Arbeitsfeld für die politische Bildung also. Götz Aly zitiert den Dichter Emile Zola - der nahm vor hundert Jahren Politik und Medien in die Pflicht: "Es ist ein Verbrechen, das einfache Volk zu vergiften, die Leidenschaften der Reaktion und der Intoleranz zu entfesseln - und dazu den schändlichen Antisemitismus zu benutzen, an dem das große liberale Frankreich der Menschenrechte stirbt, wenn es nicht davon geheilt wird."
Götz Alys Buch kommt im Jahre 2017 genau richtig - denn es zeigt auch, wie sehr Europas Hass auf die Juden befeuert wurde vom Nationalismus. Er prägte das Denken in ethnischen Kategorien - und damit wurden Juden zu einer Gruppe abgestempelt, die angeblich ‚anders' sei. Erst als eine solche Gruppe konnten sie vollends ins Fadenkreuz geraten. Und in ihnen fand die menschenverachtende Mischung aus Neid und Nationalismus ihre wehrlosesten Opfer.
Götz Aly: "Europa gegen die Juden 1880-1945"
S. Fischer, 431 Seiten, 26,- Euro
S. Fischer, 431 Seiten, 26,- Euro