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Judiths Liebe

Was wissen wir über das Schicksal? Was über den Tod? Und was über die Liebe? Nicht viel, und wenn wir Meir Shalev und seinem neuen, dritten Roman, "Judiths Liebe", folgen wollen, eigentlich gar nichts. Sicher ist da nur, daß es sie gibt. Aber, und das ist Meir Shalevs großes, ein durch und durch emphatisches Credo, man kann von ihnen erzählen.

Peter Michalzik | 07.04.1998
    Die Geschichte, die Shalev erzählt, beginnt und endet mit einem Datum, dem 10. Februar 1950. Was ist damals geschehen? "Wir haben vielleicht einmal im Jahr in Israel etwas Schnee, nichts, was man mit Europa vergleichen könnte", so Meir Shalev. "Aber, im Februar 1950 lag das ganze Land unter einer Schneedecke, auch Tel Aviv und das Jordantal. Da ging etwas vor. Ich habe dieses wirkliche Datum in meiner Geschichte von Judith verwendet. Ich wollte betonen, daß ihr Tod etwas Besonderes ist. Klar kann man durch einen Unfall sterben, man kann auch in Israel durch Schnee sterben, aber es passiert nie. Jemand sagt im Buch auf Jiddisch, der Mensch tracht und Gott lacht, darum geht's. Die teufliche Bedeutung dahinter, das Gelächter des Schicksals. Schicksal ist ironisch, es schnappt zu, wenn man verheiratet, glücklich ist, wenn man denkt, die Liebe ist in mein Leben gekommen, alles ist o.k. Da tötet dich plötzlich ein vollkommen unwahrscheinlicher Schnee."

    Judith, die merkwürdige Hauptperson von Shalevs neuem Buch, wurde am 10. Februar 1950 vom Ast eines schneebelandenen Eukalyptusbaums erschlagen. Sie ist die Mutter von Sejde, was auf Jiddisch "Großvater" bedeutet. Judith hat ihrem Sohn diesen Namen gegeben, um den Todesengel zu täuschen: findet er statt eines Greises einen Knaben, so ihre Idee, wird er weiterziehen. Die Rechnung geht auf, aber ist Sejde so vielleicht am Tod seiner Mutter schuldig, weil er kurz zuvor den Todesengel erfolgreich weitergeschickt hat? Wir wissen es nicht und wir erfahren es nicht.

    Die Geschichte von Judith liegt im Dunkel wie ihre Entscheidungen. Sie hat ihren Mann betrogen, der wanderte dann mit ihrer Tochter nach Amerika aus, sie bringt einen toten Jungen zur Welt, sie lebt in Moshe Rabinowitz' Kuhstall, liebt die Kuh Rachel und schreit jede Nacht. Mehr sagt uns Shalev nicht. Auch wer Sejdes Vater ist, liegt im Dunkel. Ist es vielleicht Moshe Rabinowitz? Oder ist es der Viehhändler Globermann, mit dem sie jeden Dienstag Grappa trinkt? Oder aber Jakob, der Judith mit aller Kraft liebt, derer eine Seele fähig ist? Wer ist Sejdes Vater?

    "Er hat einen Vater, aber niemand weiß, wer er ist. Drei Männer lieben seine Mutter, und man kann davon ausgehen, daß einer der Vater ist. Sejde ähnelt allen dreien, und alle drei erziehen ihn. So behandelt er sich selbst, als hätte er drei Väter. Aber ich würde sagen, er hat einen Vater mit drei Köpfen. Ich denke übrigens, die Hauptfrage des Buches ist nicht, wer ist der wirkliche Vater, das ist gar nicht so wichtig. Die Hauptfrage, aber vielleicht sollte ich das in einem Interview gar nicht sagen, lautet: Wen wird Judith von diesen dreien als ihren Ehemann wählen? Sejde erzählt die Geschichte seiner Mutter, indem er versucht, das herauszubekommen. Aber niemand weiß alles über Judith. Und vor allem weiß niemand, warum alle drei Männer sie lieben. Sie ist weder besonders attraktiv noch besonders charmant. Ich glaube, manchmal liebt man wegen Kleinigkeiten - es ist mir passiert, warum soll es also nicht jedem anderem so gehen?"

    Auch die drei Männer haben ihre Geheimnisse. Moshe, ein bärenstarker Bauer, wird von Judith schließlich als Ehemann auserwählt, weil sich ein lange gesuchter Zopf findet, den Moshe als Kind hatte. Damals sah er aus wie ein Mädchen. Am schlauesten ist Globermann, der Viehhändler. Er hat viel von der praktischen Weisheit seines ostjüdischen Vaters gelernt, er weiß um die Kraft kleiner Aufmerksamkeiten und scheint sein manchmal tiefschürfendes Menschenbild aus einer hochentwickelten Verhaltenslehre der Kuh entwickelt zu haben. Jakob dagegen gibt für Judith alles auf und lernt alles neu für sie. Aber am Ende, obwohl alles dafür spricht, obwohl er fast zum Herren des Schicksals geworden wäre, bekommt er sie doch nicht.

    Trotzdem sind seine neuerworbenen Fähigkeiten nicht umsonst gewesen. Für das Hochzeitsmal hatte er Kochen gelernt, jetzt, nachdem Judith tot ist, sitzt er mit Sejde bei vier köstlichen, durch Jahrzehnte getrennten Mahlzeiten beisammen. Er erzählt Sejde dabei, was er weiß, und so kann Sejde uns die Geschichte der drei Lieben Judiths, die auch die seiner drei Väter ist, wenigstens in Annäherung erzählen. Shalevs Buch "Judiths Liebe" ist ein Märchen aus der Pionierzeit Israels. Eine buntes, lebendiges, überbordendes Buch, das von unterdrücktem Schmerz handelt. Es spielt vor der Gründung des Staates Israel in einem Dorf - einem landwirtschaftlichen Kollektiv - im Tal Jesreel. Ein Tal, aus dem Meir Shalev selbst stammt - und doch ist dieser Ort merkwürdig zeit- und ortlos. Ein entrücktes Märchenland, Ort poetischer Huldigungen an Liebe und Schönheit und Tal eines nicht zu verstehenden Schicksals.

    Warum schreibt Shalev, der seine politischen Meinung jede Woche in der israelschen Zeitung Haaretz mehr als deutlich macht, so fern jeder Politik, so poetisch? "Als Leser, und da habe ich eine bedeutendere Laufbahn denn als Schriftsteller, als Leser mag ich politische Literatur überhaupt nicht. Ich will von klassischen Motiven lesen, Familie, die Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen Geschwistern, Eltern und Kindern. Ich will etwas über die grundlegenden Gefühle erfahren. Fast alle Schriftsteller schreiben darüber, und das ist nicht weiter verwunderlich, weil da niemand eine Antwort weiß. Das steckt eine Frage, die niemand beantworten kann. Wir können diese Gefühle nur beschreiben. Wenn ich über Politik schreiben würde, würde ich das zerstören. Ich empfinde beim Schreiben als Künstler, nicht als politischer Mensch. Ich würde mich unehrenhaft fühlen, würde mich fragen, warum mixe ich Politik in eine Liebesgeschichte. Will ich etwa auf mein Buch aufmerksam machen? Klar, wenn ich über ein Mädchen vom rechten und einen Jungen vom linken Flügel schreiben würde, die sich verlieben, und eine Affäre haben, dann wäre das ein politischer Roman. Aber genau das will ich nicht. Ich will, daß die Liebe regiert, daß sie zu ihrem eigenen Recht kommt. Wenn Shakespeare über Romeo und Julia geschrieben hat, war das auch nicht unbedingt politisch."

    Entstanden ist so ein Buch, das sich für viele Deutungen öffnet. Welcher christliche Leser wird bei drei Vätern nicht an die Dreifaltigkeit denken und so in Sejde nach einem Widerhall Christi suchen? Und wer würde hier nicht eine hochsymbolische Gründungsgeschichte des Staates Israel vermuten - die neuen Stammväter verbunden nicht durch die Liebe zu Gott sondern einer Frau. Und Sejde die erste Frucht dieser Verbindung? Was aber sagt uns dann, daß Sejde selbst keinerlei Beziehungen zu Frauen hat und so offensichtlich kinderlos bleiben wird. Ein Buch der Fragen mehr als der Antworten.