Sexualisierte Gewalt
Hohe Haftstrafe für Judotrainer

In Hagen ist ein Judotrainer unter anderem wegen schweren sexuellen Missbrauchs von 23 Judoschülern zu neun Jahren und acht Monaten Haft verurteilt worden. Der Täter erschlich sich Vertrauen, nutzte das Sportumfeld aus und blieb lange unentdeckt.

Von Andrea Schültke | 11.11.2023
Nahaufnahme eines Judokampfes: Verhakte Füße scheinen einen Wurf vorzubereiten.
Sexualisierte Gewalt im Sport: Im Judo gibt es wie in vielen Sportarten spezifische Einfallstore für Täter. (imago / Wallmüller / Michael Wallmueller)
Triggerwarnung:
Text und Audio enthalten Beschreibungen sexualisierter Gewalt, die verstörend und retraumatisierend wirken können.

Hilfe und Beratung für Betroffene gibt es am Hilfetelefon 0800-22 555 30
und online: hilfe-telefon-missbrauch.online

Die Ansprechstelle Safe Sport ist telefonisch unter 0800-1 222 00 und im Internet unter ansprechstelle-safe-sport.de erreichbar.
„Der Verurteilte hat sich den Judosport gezielt ausgesucht, um mit Kindern in Kontakt zu kommen“. Davon ist Staatsanwältin Dorothée Jacobi in ihrem Plädoyer überzeugt. Sie zählt die Situationen auf, bei denen der Judolehrer die Übergriffe verübt hat: beim Bodenkampf, in der Umkleide, auf der Toilette oder beim nackt Wiegen.
„Nackt Wiegen ist verboten. Das ist ein Verbot des Deutschen Judobundes im Jugendbereich“, betont Erik Goertz, Geschäftsführer des Judoverbandes Nordrhein-Westfalen. Athleten im Judosport werden in Gewichtsklassen eingeteilt. Wie andere Fälle zeigen, missbrauchen Täter im Judo gerade das für ihre Zwecke.

Vertrauen missbraucht

Sie fordern Kinder auf, sich zum Wiegen komplett auszuziehen. Ein Test im Rahmen der Täterstrategie. Folgt das Kind seinen Anweisungen, weiß der Täter: Das Kind vertraut ihm grenzenlos und wird auch bei späteren Taten keinen Widerstand leisten. So war es wohl auch im Fall des Judotrainers aus dem Märkischen Kreis. Durch den anonymen Hinweis eines Vaters hatte Erik Goertz von dem Fall erfahren:
„Das tut einfach weh, weil das ja nicht Ziel unserer Sportart ist. Wir wollen ja eigentlich Kinder stärken an der Stelle und das macht einen betroffen. Das muss man wirklich so sagen."
Der Verurteilte habe sich Kinder als Opfer herangezüchtet, beschreibt die Staatsanwältin das planmäßige Vorgehen des Täters.

Taten machen fassungslos

Der habe seine sexuelle Befriedigung über die Interessen der Kinder gestellt, sie zu Anal- und Oralverkehr genötigt, Gegenstände eingeführt und nicht aufgehört, selbst wenn die Kinder Schmerzen gehabt hätten.
Dass Taten wie diese 20 Jahre unentdeckt bleiben konnten, macht die Beteiligten fassungslos.
Es scheint, als hätten hier die Strukturen des Sports die Übergriffe begünstigt. Der Verurteilte war der erste Vorsitzende in einem kleinen Verein und dort wohl der einzige Judotrainer. Offenbar ohne weitere Kontrolle habe er in Eigenregie schalten und walten können.
Eine Trainerlizenz hatte der Ehrenamtler nicht. Diese sei aber auch keine Voraussetzung, um Training zu geben, erklärt der Verband. Auch das ein Dilemma des Sports: Ehrenamtlich tätige Menschen werden händeringend gesucht. Die, die sich engagieren wollen, werden häufig mit offenen Armen aufgenommen. So war es auch beim Verurteilten. Der hatte sogar im Landesverband ein Ehrenamt inne.

Täterstrategie: Kontakt zu Familien aufbauen

Auch das gehört zu einer Täterstrategie: sich unentbehrlich machen, sowohl im Sport als auch in den Familien. Teilweise habe der Verurteilte zu den Eltern seiner Judoschüler freundschaftliche Beziehungen aufgebaut und Vertrauen missbraucht. Vor allem das der Kinder. Rechtsanwalt Martin Düerkop hat acht von ihnen und ihre Familien als Nebenkläger vertreten. Er schildert, wie der Verurteilte die Kinder unter Druck gesetzt hat:
„Wenn denen dann erzählt worden ist, wenn du das erzählst, dann muss ich lange ins Gefängnis. Das macht schon was mit einem derartigen Kind. Und das kommt dann in einem aus meiner Sicht im jugendlichen Alter unlösbaren Interessenkonflikt“.
Und ist wohl einer der Gründe, warum die Taten so lange unentdeckt geblieben sind. Das Gericht hatte über mehr als 1.200 Taten an 23 Betroffenen verhandelt.

Zwei weitere Anzeigen eingegangen

Im Laufe des Prozesses sind zwei weitere Anzeigen eingegangen, bestätigt die Staatsanwaltschaft Hagen auf Anfrage des Deutschlandfunks. Und: Die Behörde habe auch an einer Schule ermittelt. Dort hatte der Verurteilte Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurse gegeben. Ebenfalls ein Strukturproblem: Eltern wollen ihre Kinder durch solche Kurse stark machen, wollen, dass sie sich wehren können. Täter wie der Verurteilte nutzen das gezielt aus. Wer Selbstbehauptungskurse Kurse anbietet, muss keinerlei Voraussetzungen erfüllen:
„Dieser Begriff ist nicht geschützt. Also das kann im Prinzip jeder anbieten und es gibt gar keine Kontrolle dafür“, erläutert Judo-Funktionär Erik Goertz.
Laut Staatsanwaltschaft hat es aus den Kursen an der Schule keine Hinweise auf Übergriffe gegeben. Das gelte auch für Judo-Ferienkurse auf einer Nordseeinsel. Diese hatte der Verurteilte mehrmals im Jahr für Inselkinder angeboten.

Urteil spiegelt Leid nicht wider

Nun hat das Landgericht Hagen den Mann für 685 Fälle des sexuellen und schweren sexuellen Missbrauchs und Körperverletzung zu einer Haftstrafe von neun Jahren und acht Monaten verurteilt.
„Auf den ersten Blick spiegelt das das Leid der Vielzahl der betroffenen Kinder aus mancher Sicht nicht wider“, sagt Anwalt Martin Düerkop über eine der höchsten bisher bekannt gewordenen Gefängnisstrafen im Tatkontext Sport.
Sie wäre wohl noch höher ausgefallen, hätte nicht ein Geständnis des Mannes den Kindern die Aussage vor Gericht erspart.
Eine Sicherungsverwahrung wurde nicht verhängt. Ein Gutachter hatte nach DLF-Informationen ohne Gespräch mit dem Häftling nach Aktenlage entschieden, von dem Mann gehe in Zukunft keine Gefahr aus.

Blick auf Präventionsmaßnahmen

Wie immer führen Fälle wie der in Hagen reflexartig dazu, den Blick auf Präventionsmaßnahmen zu richten: „Wir müssen den Fokus darauf stärken. Und ja, vielleicht war es fahrlässig, aber wir sind ja guten Willens. Wir haben in den letzten Jahren auch viel gemacht, aber es reicht nicht. Und das Motto ist Tempo anziehen, verstärken an der Stelle“, sagt Goertz.
Alle Sportarten können laut wissenschaftlicher Untersuchungen von sexualisierter Gewalt betroffen sein. Judo ist da keine Ausnahme. Und hat wie alle Sportarten das Problem, mit Kinderschutzkonzepten – wenn es sie denn gibt - die Basis zu erreichen, etwa die 450 Judovereine in NRW. Das bestätigt auch der jüngste Sportentwicklungsbericht: Etwa 40 Prozent der Vereine in Deutschland engagieren sich nicht im Bereich Kinderschutz und Prävention sexualisierter Gewalt.
In Hagen wurde das den mehr als 23 Betroffenen Judoka und ihren Familien zum Verhängnis. Oder wie Staatsanwältin Dorothée Jacobi dem Täter sagte: „Sie haben Seelen zerstört.“
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.