Archiv

Jüdinnen und Juden in der Politik
Wahlheimat Deutschland

Daniel Cohn-Bendit, Mike Samuel Delberg, Michael Groys, Anetta Kahane, Sergey Lagodinsky, Karin Prien und Anna Staroselski erzählen, was ihr Jüdischsein für ihr Engagement bedeutet. Einige haben lange überlegt, wie offen sie damit umgehen sollen. Auf Antisemitismus und Nahost möchten sie nicht reduziert werden.

Von Carsten Dippel |
Wahlheimat Deutschland: Ein Tanach mit jüdischen Bibeltexten steht neben einem Berlin-Reiseführer und anderen Büchern in einem Bücherregal eines Berliner Cafés.
Wahlheimat Deutschland: Ein Tanach mit jüdischen Bibeltexten steht neben einem Berlin-Reiseführer und anderen Büchern in einem Bücherregal eines Berliner Cafés. (picture alliance / Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB / Jens Kalaene)
Von Ignatz Bubis ist der Satz überliefert, Deutschland sei noch nicht reif für einen jüdischen Bundespräsidenten. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Unternehmer und langjähriges FDP-Mitglied, reagierte auf die an ihn herangetragene Idee, er solle sich doch um das Amt des höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland bewerben. Im Jahre 1993 schien Bubis das als kühne, als allzu kühne Idee.
"Ich spreche sehr offen über meine jüdischen Werte und Prinzipien, an die ich glaube und an denen ich festhalte", sagt Anna Staroselski.
Für sie ist Ignatz Bubis, der die Shoah als Kind überlebte und für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland in den 80er und 90er Jahren eine prägende Gestalt war, ein wichtiges Vorbild. Die 25-jährige Geschichtsstudentin arbeitet im Büro eines FDP-Bundestagsabgeordneten. Sie ist selbst auch Mitglied des Berliner Landesverbandes der Freien Demokraten.
Portraitaufnahme: Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland von 1992 bis 1999, in seinem Büro in Frankfurt am Main (1997)
Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland von 1992-1999, in seinem Büro in Frankfurt am Main (1997) (picture-alliance / dpa | Arne Dedert)
Anna Staroselski sagt: "Ich versuche, das zu verbinden, in dem ich mein Jüdischsein offen auslebe, dass ich die Tradition wunderschön finde und ich spreche auch gern darüber. Aber ich möchte eben gern auch über andere Themen sprechen".
Mike Samuel Delberg war schon früh politisch aktiv. Er hat seine politische Heimat in der CDU gefunden, für die er im Bundestagswahlkampf die Onlinekampagne mitverantwortet. Delberg hat lange überlegt, ob er wirklich in eine Partei eintreten solle.
"Wenn du wirklich etwas umsetzen möchtest in diesem Land, möchtest du es dann von außen tun, in einer NGO oder als Aktivist, oder ein Teil des politischen Systems werden? Das war irgendwann der Anstoß gewesen, dass ich gesagt habe: Ich möchte die Strukturen dieses Landes nutzen" merkt Mike Delberg an.
In der jüdischen Tradition wird die Idee von Zaka, Gerechtigkeit, großgeschrieben. In einer Gesellschaft Verantwortung für Menschen zu übernehmen, denen es nicht so gut geht, ist ein wichtiger Anstoß für das politische Engagement von Michael Groys. Er wuchs in der Ukraine auf, kam als Kind Ende der 90er Jahre nach Deutschland. Sein Herz schlägt für die SPD. Dort ist er seit vielen Jahren Mitglied und aktiv im Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten.
"Aus dem Judentum speist sich für mich die Verantwortung zu einer sozialen Gesellschaft, wo starke Menschen schwache unterstützen. Ich würde mir wünschen, dass wir an dieser Demokratie arbeiten, weil Demokratie nur so stark ist, wie diese mit Minderheiten umgeht".

Erbe der Sozialdemokratie

Juden setzten sich schon früh im 19. Jahrhundert für demokratische Rechte und Emanzipation ein. Sie standen auf den Barrikaden der 1848er Revolution, sie warben, wie Gabriel Riesser leidenschaftlich für die Ideen der Paulskirche. Anfangs waren sie im liberalen Lager zu finden. Nachdem sich dieses im Zuge der Reichsgründung zunehmend national färbte, zog es jüdische Politiker verstärkt ins linke Lager. So war es kein Zufall, dass sie zu prägenden Figuren der Sozialdemokratie wurden, wie Ferdinand Lassalle.
Den Antisemiten, die immer stärker an Einfluss gewannen, waren sie freilich - egal wo politisch verortet - ein Dorn im Auge. Und dennoch haben Juden bis ans Ende der Weimarer Republik an dieses Deutschland geglaubt, sagt der Historiker Julius Schoeps. Der Mord an Außenminister Walter Rathenau 1922, begangen von Rechtsterroristen, hat jedoch auf dramatische Weise gezeigt, wie fragil das war.
Portraitaufnahme: Julius Schoeps, Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für Europäisch-Jüdische Studien (MMZ)
Julius Schoeps, Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für Europäisch-Jüdische Studien (MMZ). (picture alliance/dpa | Soeren Stache)
"Rathenau kämpfte für Freiheit, Gleichheit, Demokratie. Aber seine Gegner sahen in ihm nicht den Freiheitskämpfer, nicht den Demokraten. Sondern sie sahen in ihm den Juden. Studenten brüllten auf den Straßen: 'Schlagt ihn Tod den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!' Die jüdische Gemeinschaft war in einem Abwehrkampf und konnte nicht nachvollziehen, warum die Mehrheitsgesellschaft gegen die Juden war", erklärt Julius Schoeps.

Die Reparatur der Welt

Für Sergey Lagodinsky war das jüdische Erbe der Sozialdemokratie ein wichtiger Anstoß zur Gründung des jüdischen Arbeitskreises in der SPD im Jahr 2007:
"Ich wollte Brücken bauen und beides schaffen: Einerseits die zunehmende Entfremdung zwischen jüdischer Gemeinschaft und politischem Spektrum links der Mitte überwinden, denn es gab damals schon die Tendenzen der Enttäuschung von vielen jüdischen Menschen besonders gegenüber der SPD und den Grünen. Das hat mit außenpolitischen Themen zu tun. Aber auch darüber hinaus, wie Politik in Deutschland mit jüdischen Themen umgeht".
Der Rechtsanwalt und Publizist Sergey Lagodinsky, aufgenommen am 9.4.2018 im Rahmen einer Pressekonferenz in Berlin
Grün, jüdisch, europäisch
Unter den vielen Anwärtern für das Europäische Parlament ist auch Sergey Lagodinsky, der als jüdischer Kontingentflüchtling vor 25 Jahren aus der Sowjetunion nach Deutschland kam. Er war zunächst in der SPD, nun kandidiert er für die Grünen.
Aus Ärger über Thilo Sarrazin verließ Lagodinsky die SPD und wechselte zu den Grünen, für die er jetzt im Europaparlament sitzt. Ein Gedanke, der in seiner politischen Arbeit immer wieder auftauche, sei das Konzept von Tikun Olam, das in der jüdischen Tradition eine wichtige Rolle spielt und so viel heißt wie: 'Reparatur der Welt'.
"Für mich ist der Begriff eher das Progressive und die Tatsache, dass in der jüdischen Religion dieser Gedanke von Tikun Olam sehr stark ausgeprägt ist, dass wir nur dann gut leben können, wenn wir für ein gutes Leben für andere sorgen, dass wir nur dann mit uns im Reinen sein können, das ist schon etwas, das für mich prägend ist", sagt Sergey Lagodinsky.

Familiengeschichte: Flucht und Shoa

Karin Prien hat sich erst spät dazu entschieden, ihre jüdische Herkunft in die Öffentlichkeit zu tragen. Die derzeitige Bildungsministerin in Schleswig-Holstein trat 1981, mit 16 Jahren, in die CDU ein. Aufgewachsen ist Karin Prien in Amsterdam. Ihre Großeltern hatten vor den Nazis Zuflucht in Holland gefunden. Beide Familien, mütterlich und väterlich, haben Angehörige in der Shoah verloren. Eine Erfahrung, die Karin Prien begleitet und geprägt hat, auch wenn die jüdische Tradition zu Hause keine große Rolle spielte.
"Insbesondere mit meinem Großvater spielte die Frage, wie muss man eigentlich mit einer solchen historischen Erfahrung umgehen, was muss man eigentlich tun, um das zu verhindern, da spielte das politische Engagement von Kindesbeinen an eine große Rolle. Deshalb habe ich auch sehr früh angefangen, mich zu engagieren", erläutert Karin Prien.
Karin Prien (CDU), Bildungsministerin von Schleswig-Holstein.
Karin Prien (CDU), Bildungsministerin von Schleswig-Holstein. (picture alliance/dpa | Carsten Rehder)
Manchmal, so sagt sie, sei sie froh, dass sie ihre fachliche Expertise in Bildungsfragen habe. Der jüdische Hintergrund spiele für sie persönlich eine Rolle, kaum jedoch politisch.
"Es war eben schon die Frage, ob man überhaupt öffentlich darüber spricht, dass man jüdischer Abstammung ist. Das war in unserer Familie lange so, dass meine Mutter das überhaupt nicht wollte, weil sie immer Angst hatte, dass das doch irgendwie negative Konsequenzen haben könnte".
Prien engagiert sich seit vielen Jahren gegen Antisemitismus, positioniert sich gegen die umstrittene "Werteunion". Es war eher ein Anstoß von außen, der sie vor einigen Jahren schließlich doch dazu brachte, über ihre Familiengeschichte zu sprechen. "Ich bin Jüdin" – ein solcher Satz wirkt wie ein Outing, wie die Preisgabe eines Geheimnisses. Die Reaktionen in der Partei darauf seien sehr gemischt gewesen, erzählt Prien.
Und weiter: "Ich kann mich sehr gut erinnern, dass mich ein Parteifreund ansprach, ob das denn nötig gewesen sei. Das fand ich schon eine bemerkenswerte Aussage. Aber insgesamt ist es eher positiv aufgenommen worden".

Als "die" Jüdin wahrgenommen

Anna Staroselski ist in Stuttgart aufgewachsen. Ihre Eltern kommen aus der Ukraine. Als Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion steht sie auch in der Öffentlichkeit. Im Frühjahr war sie zu Gast in der Talkrunde von Markus Lanz, bei der es um die Debatte zum Antisemitismus unter Muslimen ging. In einem solchen Rahmen als Gesprächspartnerin eingeladen zu sein, die ein Gefühl für die Empfindungen in der jüdischen Community mitbringt, sei wichtig und hilfreich, sagt sie. Nicht selten jedoch werde sie, gerade im politischen Bereich, auf eine Weise als "die" Jüdin wahrgenommen, die sie als unangenehm empfinde.
"Ich möchte nicht auf ein bestimmtes Merkmal meiner Identität reduziert werden. Das kommt schon häufig vor, dass ich vor allem über das Jüdische gefragt werde, obwohl ich mir wünschen würde, dass ich für meine Ideen und Themen, die mich beschäftigen, wahrgenommen würde", sagt Anna Staroselski.
Anna Staroselski lebt observant. Das heißt, sie hält sich, so gut es geht, auch in ihrem Alltag an die Halacha, an das jüdische Religionsgesetz.
"Ich würde mich als traditionelle Jüdin bezeichnen. Häufig bete ich auch mit meinem Siddur, finde das schön, weil das ein spiritueller Moment ist. Ich möchte auch im Alltag mal einen Cut machen und mir ist die Tradition sehr, sehr wichtig".
Ihre Eltern sind in der Sowjetunion mit der jüdischen Tradition kaum in Berührung gekommen. Religion war verpönt im kommunistischen Regime. An ihrer Schule in Stuttgart war Anna die einzige Jüdin. Aber sie besuchte den jüdischen Religionsunterricht und lebte ein halbes Jahr in Israel.

Mangende Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens

Wenn Mike Delberg durch Berlin läuft, hat er meist die Kippa auf. Von den Warnungen, es gebe No Go Areas für Juden, hält er nicht viel. Blauäugig sei er nicht, aber selbstbewusst genug. Und er möchte damit ein Zeichen setzen. Für Delberg, der im Präsidium von Makkabi Deutschland sitzt, ist die jüdische Identität ein starkes Motiv auch, auch in seinem politischem Engagement.
Mike Samuel Delberg, Repräsentant der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, steht vor der Neuen Synagoge in Berlin.
Mike Samuel Delberg, Repräsentant der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, steht vor der Neuen Synagoge in Berlin. (picture alliance/dpa | Carsten Koall)
"Das Judentum ist ein Teil meines Lebens. Dieser Teil prägt mich und hat mich zu dem gemacht, der ich bin und ich habe keinen Grund, das zu verstecken oder irgendwo aus der Gleichung herauszunehmen", merkt Mike Delberg an.
Wenn er mit seiner Kippa durch die Straßen läuft, spürt er, wie weit das heutige Deutschland noch immer von einer Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens entfernt ist.
Mike Delberg sagt: "Ich werde beobachtet. Ich falle auf, weil es eben keine Normalität ist, eine Kippa in den Straßen von Berlin zu tragen".
Die Politik mache in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Für ihn ist das eher ein Anstoß, sich in die Debatten als jüdischer Politiker einzubringen.
"Über Juden zu sprechen, ohne einen Juden am Tisch zu haben, macht es auch schwer, die richtigen Entscheidungen für die jüdische Gemeinschaft zu treffen. Deswegen sage ich von Anfang an: Ich lege die Karten auf den Tisch. Ich bin, wer ich bin und spreche aus dieser Perspektive heraus mit aller Offenheit und ich bin froh, dass das so angenommen wird", sagt Mike Delberg.

"Ich nenne es meinen jüdischen Touch"

"Als ich '68 kam, hat man mir gesagt, Dani, du musst hier aufpassen, du bist nicht in Frankreich. Wir dürfen nicht auffallen, ich sollte mich nicht so politisch exponieren als Jude", erzählt Daniel Cohn-Bendit.
Daniel Cohn-Bendit hat viele politische Schlachten in Frankreich und der Bundesrepublik geschlagen. Eine Ikone der Linken, der 68er, später der Grünen, für die er zehn Jahre lang im Europaparlament saß.
"Das Coming Out der jüdischen Gemeinde, zumindest in Frankfurt, war die Auseinandersetzung über (das Theaterstück) "Die Stadt, der Müll und der Tod" von Fassbinder. Da ist plötzlich ein Teil der jüdischen Gemeinde, Bubis, aber auch andere, haben 'ne Bühne besetzt. Das war ein politischer Akt gegen den Antisemitismus. Sich so zu exponieren, das war ein Durchbruch in Deutschland. Plötzlich war die jüdische Gemeinde in der Tradition der Nach-68er aktiv. Wir lassen uns das nicht gefallen".
In den Protesten rund um das von der französischen Regierung verhängte Aufenthaltsverbot im Mai 1968 spielte seine jüdische Herkunft eine Rolle. Da waren jene, die sich mit ihm solidarisierten und seine Wiedereinreise nach Frankreich forderten und die Losung skandierten: "Wir sind alle deutsche Juden!"
Seiner eigenen jüdischen Identität habe er sich selbst aber erst in den letzten Jahren, nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik, eingehender gewidmet. Für ihn habe das in seinem politischen Engagement kaum eine Rolle gespielt.
Daniel Cohn-Bendit blickt an eine Wand gelehnt in einen Bereich außerhalb des Bildausschnitts.
Daniel Cohn-Bendit war über fünf Jahrzehnte politisch aktiv. (picture alliance/dpa | Arne Dedert)
Daniel Cohn-Bendit: "Eine Grundeinstellung gegenüber Ereignissen, die sich heute in der Welt abspielen, hat etwas, ich nenne es meinen jüdischen Touch: Die Augen zu öffnen für eine Welt, die barbarisch vernichten kann. Dass Vernichtung etwas ist, was immer wieder in irgendeiner Form aufkommen kann. Dieses Gefühl ist für mich eine bittere Wahrheit."

Jüdisches Leben in DDR und Wendezeit

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, bedeutete die NS-Diktatur das Ende des jüdischen politischen Engagements in Deutschland – und zwar für Jahrzehnte. Das galt nach 1945 für West wie Ost, nur wurden in der DDR die Weichen ganz anders gestellt. Es waren jüdische Remigranten, die hierher in der Hoffnung auf ein besseres Deutschland zurückkehrten. Wie die Eltern von Anetta Kahane, die dann doch in einer Art permanentem Zwiespalt steckten.
"Für mich war das immer eine ganz ambivalente Sache, 'ne doppelte Belastung, dass meine Eltern sowohl traumatisiert waren als auch in der DDR irgendwie viel wegstecken mussten an Antisemitismus und Fremdheit. Meine Eltern sind in den 50er Jahren aus der Gemeinde ausgetreten, das hat die Partei so verlangt. Sie kamen traumatisiert zurück, waren aber gleichzeitig auch Helden. So im Narrativ der DDR waren das antifaschistische Widerstandskämpfer – und Juden, das hat man dann immer verschwiegen " berichtet Anetta Kahane.
Portraitaufnahme: Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung.
Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. (picture alliance/dpa | Christoph Soeder)
Max Kahane hatte einst im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft. Später schloss er sich der Résistance an, wo er auf seine spätere Frau traf. Sie haben engste Familienangehörige in der Shoah verloren, waren selbst im Lager. Sie kehrten als überzeugte Kommunisten zurück. Kahane war Mitgründer der ostdeutschen Nachrichtenagentur ADN. Seine Tochter Anetta, Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung, kämpft seit mehr als zwei Jahrzehnten gegen Rassismus und Antisemitismus. Als Frau, als politisch Engagierte, als Jüdin schlägt ihr heute der Hass von vielen Seiten entgegen.
"Gesellschaftspolitisch engagieren wollte ich mich immer, aber das war in der DDR einfach nicht möglich. Und gerade so ab 1982, '83 war ich sehr daran interessiert, auch in der jüdischen Gemeinde mehr zu machen mit Menschenrechten oder Engagement für Sinti und Roma. Und die Gemeinde wollte das nicht".
Die kleine Jüdische Gemeinde in der DDR, unter den Argusaugen der Partei, wollte nicht anecken und Dinge tun, die auch nur irgendwie nach Opposition aussahen.
"Es gab zwar Punkte, wo es eine kleine Widerborstigkeit gab, gerade in Bezug auf den Antizionismus, aber im Prinzip war der Grundtenor: 'Die DDR ist die beste Heimat für Juden, weil hier ist Antifaschismus und "Der Faschismus mit der Wurzel ausgerottet!"', so diese Art von Sprache haben die dann auch benutzt", erläutert Anetta Kahane.
Kahane wurde selbst als 19-Jährige von der Stasi angeworben. Einige Jahre später brach sie damit, was ihr Vater gewissermaßen als Verrat an der DDR ansah: die ganze Schizophrenie ihres prekären Daseins als Juden in der DDR.
"Natürlich haben die gemerkt, dass sie sich in einer Gesellschaft befanden, die zwar antifaschistisch hieß, aber es war im Grunde ja eine kleinbürgerliche Gesellschaft, irgendwie auch fremd, blieben ja mit ihren Geschichten ganz alleine."
In der Wendezeit hat sie sich im 'Neuen Forum' engagiert, ihre politische Rolle entdeckt, sich für Ausländer, Menschenrechte und Minderheiten in der DDR eingesetzt und auch erfahren, dass man nun tatsächlich etwas bewegen konnte. Der Zentrale Runde Tisch formulierte im April 1990 eine bahnbrechende Erklärung:
"Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land."
In der Folge kamen jüdische Familien aus der Sowjetunion auf unbürokratischem Wege in die DDR. Anetta Kahane war maßgeblich daran beteiligt, diese jüdische Einwanderung im vereinten Deutschland über die "Kontingentflüchtlingsregelung" auf rechtliche Füße zu stellen.

Inspiriert durch Glasnost und Perestroika

Von Astrachan, ganz im Süden Russlands, bis ins Herz der europäischen Demokratie ist es ein langer Weg. Es war der durch Gorbatschow eingeleitete Umbruch in der Sowjetunion, die Politik von Glasnost und Perestroika, die Sergey Lagodinsky zu einem politisch bewussten Menschen inspiriert hat.
"Ob man es will oder nicht, sind wir in einer Realität, die geprägt ist von der Auseinandersetzung mit der Geschichte in Deutschland. Und insofern betrachte ich auch unsere Politik als einen ständigen Dialog darüber, wie wir unsere Vergangenheit mit der Zukunft zusammenbringen können. Und in diesem Dialog spielen jüdische Perspektiven eine wichtige Rolle."
Bei heiklen Themen wie dem muslimischen Antisemitismus besäßen Jüdinnen und Juden eine Art Navigationskompass, sagt Lagodinsky.
Dr. Sergey Lagodinsky
Dr. Sergey Lagodinsky (IMAGO / IPON)
"Was das Schlimmste sein könnte - und das ist häufig der Fall gewesen - ist, wenn die deutsche Gesellschaft mit sich selbst redet, glaubt aber, mit Juden zu reden. Dass jüdische Perspektiven konstruiert werden. Es ist unglaublich wichtig, dass sich diese Menschen artikulieren und die Möglichkeit bekommen, sich selbst als Stimmen in Deutschland zu emanzipieren", sagt Sergey Lagodinsky.
Manchmal sei das eine Gratwanderung. Lagodinsky ist Jurist. Seine Expertise liegt in der Außenpolitik. Seine Schwerpunkte sind Rechtsstaatlichkeit, das Verhältnis zur Türkei und die digitale Demokratie.
Sergey Lagodinsky: "Warum soll ich auf einmal Nahostpolitiker werden, nur weil ich jüdisch bin?"
Wie schwierig die Gratwanderung ist, hat Michael Groys im vergangenen Jahr erfahren. Da beschlossen die deutschen Jusos, die palästinensische Fatah-Jugend als ihre Schwesterorganisation anzuerkennen. Und mehr noch: In der Arbeit der Willy-Brandt-Stiftung in Jerusalem sollte diese ein Vetorecht erhalten. Groys äußerte sein Unverständnis, schrieb an den SPD-Bundesvorstand, erhielt erst lange keine und dann eine enttäuschende Antwort.
Der Publizist Rafael Seligmann im August 2013 in Berlin.
"Ich dachte, Nazis würden aussterben – das war naiv"Flucht aus Nazi-Deutschland, Neubeginn in Palästina, 1957 Rückkehr nach Deutschland: Im zweiten Teil seines Familienromans erzählt Rafael Seligmann die Geschichte seiner Eltern Hannah und Ludwig. "Mich hat beim Schreiben erschreckt, dass der Judenhass, den ich 1957 verspürte, noch besteht", sagte er im Dlf.
"Ich höre jeden Tag als Jude diesen Satz: 'Antisemitismus hat in diesem Land keinen Platz!' Was heißt das konkret? Ich habe das Gefühl: Erinnerung ist einfach, da wehrt sich keiner gegen. Aber wie sieht die Gegenwart aus und wie wird die Zukunft sein? Wer wird sie gestalten und wie werden wir sie gemeinsam gestalten? Auf die Fragen sehe ich keine wirklichen Antworten".