Tullia Zevi war nicht nur Jahre lang Präsidentin der jüdischen Gemeinden Italiens, sondern auch eine bekannte Journalistin und Schriftstellerin.
"Wir lebten in Mailand, ich bin dort geboren, meine Mutter kam aus Ferrara. Immer wenn wir nach Ferrara fuhren, zu den jüdischen Feiertagen, um die Verwandten zu besuchen, band meine Mutter, die eine panische Angst davor hatte, dass Koffer verloren gehen, ein rotes Band an jedes Gepäckstück. Jeder Besuch in Ferrara war für mich so, als ob ich von einer ganz besonderen Herzlichkeit umgeben werde".
Ihre Familie, Juden sephardischen Ursprungs, befand sich 1938, als Benito Mussolini in Italien die antisemitischen Rassengesetze einführte, in den Ferien in der Schweiz. Man beschloss, nicht mehr in die Heimat zurückzukehren - zu ihrem großen Bedauern, berichtete Tullia Zevi später:
"Was mir immer fehlte, im Ausland, war die Erinnerung an die italienische Provinz, wo jüdische Familien wie die unsere vollständig integriert lebten, wo man, bis 1938, keine Unterschiede zwischen jüdischen und christlichen Italienern machte. Und meine Familie lebte dort sehr zurückgezogen."
Nach den Ferien in der Schweiz zog die entschieden antifaschistische Familie Zevi nach Paris, wo sie studierte. Im Sommer 1939 emigrierte die Familie in die USA und Tullia setzte ihre Studien an der Juilliard School fort. Um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, spielte sie Harfe, unter anderen auch im Orchester von Leonard Bernstein. In New York wurde Tullia Zevi zu einer der angesehensten antifaschistischen Aktivistinnen und betreute ein Radioprogramm bei der National Broadcasting Company, das für italienische Partisanen bestimmt war. 1943 kehrte sie als Partisanin nach Italien zurück. Dort blieb sie schließlich und war maßgeblich am Wiederaufbau der italienisch-jüdischen Gemeinden beteiligt.
Mit der Besetzung Italiens 1943 wurde es für Italiens Juden gefährlich
Tullia Zevis Lebensgeschichte, ihre Erlebnisse und Erinnerungen, sind Teil eines immensen Archivprojekts. Betreut wird von dem italienischen und in New York lebenden Journalisten und Historiker Alessandro Cassin. Er arbeitet am jüdischen Kulturzentrum Centro Primo Levi, das seinen Sitz in Manhattan, Midtown hat:
"Die Geschichte der italienischen Juden kennt außerhalb Italiens, bis auf einige Experten, so gut wie niemand. In New York finden Sie ein wirklich großes Interesse an allen jüdischen Themen, doch wenn man auf das Thema Juden und Italien zu sprechen kommt, dann gibt es immer wieder erstaunte Gesichter."
Nur etwas mehr als 2.000 italienische Juden emigrierten nach 1938 in die USA, vor allem nach New York. Bis zu diesem Jahr hatten sie als Juden im faschistischen Italien nichts zu fürchten. Etwa 90 Prozent aller italienischen Juden standen voll hinter dem Duce, zu dessen Ideologie, ganz anders als im Dritten Reich, nie der Antisemitismus gehörte. Doch mit der Achse Rom-Berlin 1938 änderte sich das. Antisemitismus wurde fortan von ganz oben angeordnet. Mit gravierenden Folgen für das alltägliche Leben. Aber erst mit der Besetzung Italiens in Folge des Sturzes von Mussolini 1943 wurde es für Italiens Juden lebensgefährlich. Die meisten blieben allerdings in Italien. Viele von ihnen wurden von Deutschen in Vernichtungslager verschleppt. Von den 1938 in Italien lebenden circa 40.000 Juden emigrierten nur knapp 2.000 Personen. Im Vergleich dazu verließen nach 1933 etwa 400.000 deutsche und österreichische Juden ihre Heimat. Über ihre Emigration und ihre Lebensgeschichten findet sich viel Literatur in Belletristik und Forschung.
Ganz anders sieht das im Fall der aus Italien emigrierten Juden aus. Um dieses Forschungsmanko zu beseitigen, sammeln Alessandro Cassin und seine Mitarbeiter seit Jahren alle nur erdenklichen Informationen, Daten, Biografien zu den in die USA emigrierten Juden aus Italien:
"Man weiß so gut wie gar nichts über das künstlerische, kulturelle und wissenschaftliche Wirken jener italienischen Juden, die hierher kamen. Dabei hatte diese kleine Gruppe von Emigranten einen ziemlich großen Einfluss in den USA. Da gab es zum Beispiel vier Nobelpreisträger. Die italienischen Emigranten nahmen bald schon wichtige Positionen in Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Literatur ein. Die Geschichten dieser Personen wollen wir erzählen."
"Hinterließen bedeutende Spuren"
Die Geschichten von italienischen Emigranten, von denen viele illustre Namen trugen. Aus Italien flohen der später berühmte Architekt Giorgio Cavaglieri, die Dichterin Amelia Rosselli, der Physiker Emilio Gino Segré, der durch seine federführende Beteiligung am Manhattan-Projekt zur Entwicklung einer Atombombe bekannt wurde, der international bekannte Wirtschaftswissenschaftler Franco Modigliani, der Mathemater Roberto Mario Fano, der als einer der Väter des Computers in die Wissenschaftsgeschichte einging, und viele andere. Alessandro Cassin:
"Ein anderer Punkt, der bei diesem Forschungsprojekt von Interesse ist: Die meisten der jüdischen Emigranten aus Italien kehrten sofort nach Kriegsende in ihre Heimat zurück. Ganz im Gegensatz zu Juden aus Deutschland und Österreich. Auch wenn die Italiener nur kurz in den USA blieben, hinterließen sie bedeutende Spuren."
Und so kam es, dass in der Nachkriegszeit zahlreiche der einstigen Emigranten, zurückgekehrt in ihre Heimat, enge wissenschaftliche Beziehungen zwischen Italien und den USA schufen. Wie zum Beispiel der Physiker Emilio Gino Segré, berichte Historiker Cassin:
"Er arbeitete in Rom, ihm gelang 1937 der erste unumstrittene Nachweis des Elements Technetium, war dann am Manhattan-Projekt in Los Alamos beteiligt, erhielt den Nobelpreis und hatte in den USA glänzende berufliche Aussichten. Und doch kehrte er 1974 nach Rom zurück, um eine Professur für Kernphysik anzunehmen. Ihm sind die engen Beziehungen zwischen italienischen und amerikanischen Universitäten zu verdanken, die noch heute existieren."
Die jüdischen Emigranten gaben ihrer Heimatland eine zweite Chance. Eine Chance, von dem das Nachkriegsitalien enorm profitierte, denn das blühende kulturelle Leben im demokratischen Italien der 1950 und 1960er-Jahre ist auch den zurückgekehrten Juden zu verdanken. Ihre weitgehend vergessene Bedeutung wird Yorker Primo Levi Center endlich der Vergessenheit entrissen.