Schon am Eingang zum Zentrum der Jüdischen Gemeinde in Erfurt wird man mit der Angst der rund 500 Juden hier konfrontiert. Noch beim Besuch 2017 war die Eingangstür zum Grundstück offen. Und das, obwohl schon im Jahr 2000 genau hier ein Brandanschlag verübt wurde. Jetzt ist das Bewusstsein für die Bedrohung präsent. Das liegt auch an der persönlichen Erfahrung vieler Mitglieder.
Reinhard Schramm, Vorsitzender der jüdischen Landesgemeinde, wurde als Kleinkind mit seiner Mutter vor den Nazis versteckt und hat so die Schoah überlebt. Aufgrund dieser Erfahrung unterstützt Schramm öffentlich eine offene Flüchtlingspolitik, was in Thüringen nicht selbstverständlich ist. Fast jeder Vierte wählte die AfD unter Björn Höcke.
"Wir sind für die Aufnahme von Flüchtlingen"
Reinhard Schramm sagt: "Die AfD macht einen Fehler, weil sie davon ausgeht, wenn sie gegen Muslime etwas tut, hat sie uns auf ihrer Seite. Das ist eine ganz gehässige Herangehensweise, weil sie natürlich weiß, dass es Antisemitismus unter Muslimen gibt und das wissen wir natürlich auch. Und wir wissen, dass es auch andere Muslime gibt. Wir sind der Meinung, so wie Europa versagte, 1938 Juden in Not aufzunehmen, so können wir nicht wieder versagen, in dem wir andere Leute in Not nicht aufnehmen. Deswegen sind wir für die Aufnahme von Flüchtlingen von Nahost-Muslimen. Muslimischer Antisemitismus ist genauso zu bekämpfen, wie rechter oder linker Antisemitismus, und ich denke wir tun das zumindest mit unseren Möglichkeiten, mit Worten", sagt Schramm.
Dazu gehört, dass die Jüdische Gemeinde die Errichtung des ersten Neubaus einer Moschee in den neuen Bundesländern befürwortet. Der Grundstein wurde im November 2018 in einem Gewerbegebiet gelegt. Dennoch verzögern sich die Bauarbeiten. Reinhard Schramm:
"Wir haben die Ahmadiyya-Gemeinde unterstützt. Wir waren bei der Grundsteinlegung dabei. Wir sind der Meinung, Religionsfreiheit gehört auch ihnen. Und ich finde es nicht schön, dass es die hässlichste Gegend von Erfurt nur gibt, um eine Moschee aufzubauen, auch wenn es so eine kleine ist. Aber auch was man beachten muss: Zwei Feinde hat diese Ahmadiyya-Gemeinde, nämlich die Rechten, die demonstriert haben, und die, die nicht gekommen sind, nämlich die muslimischen Gruppen, die die Ahmadiyya-Gemeinde nicht nur ignorieren, sondern ganz schlecht behandeln".
Jüdische und muslimische Gemeinde unterstützen einander
Die beiden kleinen Gemeinden unterstützen sich gegenseitig. Am Jahrestag der Pogromnacht des 9. November organisierte die Moscheegemeinde eine Menschenkette vor der Erfurter Synagoge als Zeichen der Solidarität mit der jüdischen Gemeinde, an der rund 40 Menschen teilnahmen.
Reinhard Schramm glaubt an den Dialog generell und mit Wählern der AfD insbesondere. Der frühere DDR-Bürger wehrt sich dagegen, den Erfolg der Partei als ein rein ostdeutsches Phänomen darzustellen.
"Erst mal finde ich es unverschämt, wie die Ostdeutschen auch als Politiker dargestellt werden, so als wären das die Dümmsten auf dieser Welt. Wenn ich denke, Deutschland kriegt vom Osten solche Politiker wie Merkel, wie Gauck und wir kriegen aus Dankbarkeit Höcke und Gauland zurück".
"Solche Positionen kann ich nicht teilen"
Der gebürtige Berliner Alexander Nachama amtiert seit 2018 als Rabbiner der jüdischen Landesgemeinde Thüringen und betreut die jüdischen Gemeinden Erfurt, Jena und Nordhausen. Der liberale Rabbi sammelte viel Erfahrung im Umgang mit Rechtsradikalen in den fünf Jahren als erster Rabbiner nach der Shoah in Dresden.
Er erzählt: "In Dresden gab es eine große Gruppierung, die sich Pegida nennt, die aber nicht so groß ist. Und da gab es einige sogenannte ‚Israel-Freunde‘ darunter, die auch mit der Israel-Fahnen zu den Demonstrationen gegangen sind und uns immer gefragt haben, warum wir nicht auch teilnehmen, und das auch teilweise auch sehr fordernd: Sie machen auch was für uns, warum machen wir nicht auch etwas für sie. Und der gemeinsame Feind wären die Muslime. Das war unangenehm, es war schwierig", sagt Nachama.
Der 35-jährige Rabbiner zieht klare Grenzen im Umgang mit der AfD. Er distanziert sich besonders von der Äußerung des früheren AfD-Chefs Alexander Gauland, Hitler und die Nazis seien nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte, und von der Aussage von Björn Höcke, das Holocaust Mahnmal in Berlin sein ein "Denkmal der Schande".
"Solche Positionen kann ich nicht teilen. Das kann kein Jude teilen. Insofern ist klar, dass es keine Grundlage gibt. Es ist auch wichtig, klar zu machen, dass viele der Positionen der AfD nicht unseren eigenen Positionen entsprechen. Die Frage zum Beispiel, wie man mit Flüchtlingen umgeht, wie man mit Muslimen umgeht."
Für einen vorsichtigen Dialog
Einen vorsichtigen Dialog mit solchen Andersdenkenden befürwortet Rabbiner Alexander Nachama schon. Es ist ihm auch gelungen, die vermeintlichen Israel-Freunde in Dresden zum Nachdenken anzuregen.
"Es gab einen, der immer mit der Israel-Fahne hingegangen ist, der mich häufiger angerufen hat, der immer berichtet hat, wie toll das war usw., und eines Tages aber anrief und meinte, auf der letzten Demonstration, da wäre gegen die Beschneidung gesprochen worden und die sei auch im Judentum wichtig. Habe ich ihm also bestätigt und dann hat er gesagt: Okay, dann geht er nicht mehr hin. Dann dachte ich: Eine Israel-Fahne weniger."
"Natürlich haben wir Angst"
Um den großen Tisch im Sitzungssaal der Erfurter Gemeinde sitzen mehrere Mitglieder, aber allein Ina ist als einzige Frau bereit, über das heikle Thema AfD zu sprechen – ohne Nennung ihres Nachnamens. Denn Ina hat in der Ukraine unter Antisemitismus gelitten. In Erfurt ist sie Co-Redakteurin des zweisprachigen Gemeindeblatts "Schofar", Widderhorn, das auf Deutsch und Russisch erscheint.
Hat sie Angst, wenn sie ins Gemeindehaus kommt?
Ina antwortet: "Natürlich haben wir Angst… Angst, was in der Zukunft passiert, habe ich. Angst um meine Tochter zum Beispiel. Was passiert in Deutschland, wenn die AfD 50 Prozent hat, zum Beispiel." – "Und was passiert dann? Würden Sie nach Israel gehen?" – "Probleme würde ich lösen, wenn das Problem kommt." – "Aber haben Sie schon einen Koffer vorbereitet?" – "Noch nicht."
Weniger proisraelische Aktionen
Matthias Tarwitz ist der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft DIG Erfurt, die auch Begegnung mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde sowie Ausflüge zu Stätten jüdischen Erbes in Thüringen organisiert. Die zunehmend aggressivere Stimmung beeinträchtigt auch manche Aktivitäten der DIG, sagt Matthias Tarwitz:
"Die DIG-Stände, die wir vor Jahren in Fußgängerzonen gemacht haben oder in Flüchtlingslager gegangen sind mit Israel-Fahnen, wo die Kinder mit Israel-Fähnchen herumgerannt sind, ich glaube nicht, dass es sie wieder gibt, zumindest in der nächsten Zeit sehe ich das nicht." – "Warum?" – "Weil Mitglieder von uns Angst haben, sich dahin zu stellen." – "Hat das mit der AfD zu tun?" – "Die befeuern natürlich dieses rechtspopulistische Denken und Hass, Gewalt im Netz."
Die DIG freut sich über neue Freunde Israels, aber der Vorsitzende Matthias Tarwitz muss in letzter Zeit solche Freunde genauer beobachten.
"Wir haben inzwischen ein Mitglied, der bei der AfD ist, der sich mehr oder weniger reingeschmuggelt hat." – "Ist das ein Ausschlusskriterium für Sie?" – "Für mich ja, persönlich, definitiv. Aber es gibt Beschlüsse und in unserer Charta wurde demokratisch entschieden. Ich hätte es verhindert, gerne, aber es ist mir nicht gelungen", sagt Tarwitz.
Schließlich traf sich Matthias Tarwitz mit dem AfD-Mitglied. Er wollte wissen, warum er Israel liebt. Der Mann sagte, er fände das israelische Militär ganz toll. Tarwitz beschloss daraufhin, das Mitglied mit der Sicherheit eines israelischen Referenten zu beauftragen, der vor kurzem als Gast der DIG im Bildungszentrum der Jüdischen Gemeinde einen Vortrag hielt.