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Jüdische Gemeinde
"In Erfurt fühle ich mich sicherer als in Berlin"

Rund 800 Juden leben in Thüringen, es ist eine der kleinsten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Fast alle Mitglieder stammen aus Russland. Kürzlich hieß es: Thüringen trägt Kippa. Alle Parteien machten mit - bis auf die AfD, obwohl die ansonsten um Russlanddeutsche wirbt.

Von Henry Bernhard |
    Der Vorsitzende der Thüringer jüdischen Landesgemeinde trägt eine Kippa, er steht vor einem siebenarmigen Leuchter
    Reinhard Schramm, Vorsitzender der Thüringer jüdischen Landesgemeinde (Deutschlandradio / Henry Bernhard)
    Die Tür der Erfurter Synagoge hat außen keine Klinke. Eine Sicherheitsfrage. Also muss jeder anklopfen. 15 Männer und fünf Frauen kommen an diesem Freitagabend zum Sabbat-Gottesdienst. Jeder, der eintritt, legt kurz die rechte Hand auf die Mesusa, einen kleinen Behälter am Türpfosten, in dem ein Stück der Thora steckt, und küßt danach seine Finger. Drinnen grüßt man mit "Schalom" oder "Strastwuitje". Denn fast alle Gemeindemitglieder stammen aus der Sowjetunion.
    Die Frauen gehen gleich hoch, auf die Empore. Die Männer setzen sich drinnen alle auf die rechte Seite. Die linke bleibt leer. Da saßen früher die Frauen, murmelt einer der Männer, aber seit der orthodoxe Rabbi da sei, ist das nicht mehr erlaubt. Ins Mikrofon aber will keiner so recht reden. Das Deutsch sei nicht so gut. Oder: Man wolle keine Öffentlichkeit.
    Rabbiner Benjamin Kochan sagt: "Ich begrüße alle ganz herzlich. Und wir beginnen unseren Gottesdienst auf der Seite 21. Schabat schalom! Natschinajem… dwazat adin!"
    Das Gesangsbuch ist dreisprachig. Hebräisch, die deutsche Laut-Umschrift des Textes, die deutsche Übersetzung. Nicht alle Männer singen mit.
    Die Synagoge ist sehr schlicht gehalten. Außer zwei Menora, Kerzenleuchtern, gibt es kaum ein Schmuckstück im Raum. Der Vorgängerbau wurde 1938 bei den antisemitischen Pogromen geplündert, zerstört und abgebrannt; der Nachfolgerbau von 1952 durfte nach Anweisungen der Stadt Erfurt nur unscheinbar sein – innen wie außen.
    Innenraum der Erfurter Synagoge
    Die Erfurter Synagoge ist schlicht gehalten - innen wie außen (Deutschlandradio / Henry Bernhard)
    Der Rabbiner Benjamin Kochan ist in Russland geboren. Im Alter von 14 Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland. Seit knapp drei Jahren ist er in Erfurt. Sein Vorgänger trat 2010 sein Amt an – als erster Rabbiner in Erfurt seit 72 Jahren. Kochan ist orthodox – und traf in Erfurt, wo ein Großteil der etwa 800 Thüringer Juden leben, auf eine Gemeinde, die mehrheitlich in einer religionsfeindlichen Umgebung aufgewachsen ist.
    Die Jungen ziehen weg, die Alten bleiben
    Benjamin Kochan: "Ich bin eigentlich aufgewachsen in solchen Verhältnissen, also, ich verstehe die Leute. Ich kann das alles nachvollziehen. Daher ist es für mich nicht leicht, aber ich kann damit gut umgehen. Da ist es mir einfacher, eine passende Sprache mit den Leuten zu finden.
    Das heißt, die Leute haben wenig Erfahrung mit Judentum, aber das, was sie wissen, sie erwarten von einem Rabbiner, dass er zumindest es richtig macht!" Er lacht.
    Die Aushänge im benachbarten Gemeindezentrum sind ausschließlich auf Russisch. Nicht ganz leicht für Mitglieder ohne Russisch-Hintergrund wie Daniel Kohn, der spät zum Judentum gefunden hat und bald in die Gemeinde aufgenommen werden will.
    Daniel Kohn sagt: "Ich habe, genauso wie viele DDR-Bürger, meine sechs Jahre Russisch gelernt, hab viel vergessen, manche Wörter, die sie sprechen, erinnern mich daran, was ich mal gelernt habe. Ja, es erdrückt einen erst, weil man denkt, das Russische dominiert sehr in der Gemeinde. Aber, wenn man dann genauer guckt, dann ist es nicht ganz so. Man findet auch deutsche Hinweise oder hebräische."
    Die Jüngeren, schon hier Geborenen, sprächen ohnehin als erste Sprache Deutsch, meint der Rabbiner. Die Gemeindearbeit sei eine ganz normale.
    Aushänge im Gemeindezentrum auf Russisch
    Die meisten Aushänge im Gemeindezentrum sind auf Russisch (Deutschlandradio / Henry Bernhard)
    Benjamin Kochan: "Im Mittelpunkt steht sicher die Synagoge, das heißt, wir stellen sicher, dass wir die Feiertage zusammen feiern, dass wir den Kiddusch, die Mahlzeiten haben, die feierlichen Mahlzeiten. Genauso wichtig ist uns die Kinder- und Jugendarbeit. Dafür haben wir eine Sonntagsschule. Und wir schaffen auch ein Netzwerk mit anderen Gemeinden. Es gibt gemeinsame Schabbatot, das heißt, dass die Kinder sich treffen für Schabbat, dass sie es zusammen erleben, dass sie ein Gefühl bekommen, dass sie zu einer großen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, in der Welt gehören, dass sie nicht in Erfurt auf einer Insel sind."
    Viele der Jüngeren zögen jedoch weg aus Thüringen, in den Westen, zu den besseren Jobs, da sie hier noch kaum verwurzelt seien. Zurück bleiben oft die Alten. Zwei Sozialarbeiter der Gemeinde kümmern sich um sie. Dabei könne man sich als Jude in Erfurt vergleichsweise sicher fühlen, meint Kochan, der hier dennoch die Kippa öffentlich unter einer Mütze trägt und schon einmal auf der Straße von einem Araber als Jude beschimpft wurde.
    Benjamin Kochan sagt: "Also, es steht zwar kein Polizeiauto vor der Tür, aber es gibt immer Polizeiautos während des Gottesdienstes. Und es gibt auch Kameras, die dann direkt an die Zentrale ein Bild liefern. Ich fühle mich viel sicherer z.B. in Erfurt als in Berlin! Das kann ich auf jeden Fall sagen, ja!'"
    "Sie müssten sich von Herrn Höcke distanzieren"
    Die Unterstützung der Landespolitik für die jüdische Gemeinde ist groß. Als es vor kurzem hieß, "Thüringen trägt Kippa", stand Ministerpräsident Bodo Ramelow selbstverständlich in der ersten Reihe, neben Vertretern von CDU, SPD und Grünen, die sich nicht nur an solchen Tagen für jüdische Kultur in Thüringen und gegen Antisemitismus engagieren.
    Die AfD wurde nicht gesehen, obwohl sie andernorts um Juden und Russlanddeutsche wirbt, die Angst vor einer Islamisierung haben. Die Partei ist auch nicht in der Gemeinde willkommen, solange Landesverband und Fraktion voll hinter dem Vorsitzenden Björn Höcke stehen, der in seiner Dresdner Rede im vergangenen Jahr die deutsche Gedenkkultur verächtlich gemacht und einer "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gefordert hat. Das sagt der Vorsitzende der Landesgemeinde, Reinhard Schramm:
    "Eigentlich, wenn sie einen anderen Weg einschlagen würden, dann müssten sie sich davon distanzieren. Und sie müssten sich von Herrn Höcke distanzieren. Und da gibt es auch keinen Kompromiß. Das, was er vorschlägt, ist Relativierung des Nationalsozialismus und damit der Verbrechen. Insofern werden wir auf diese Partei nicht zugehen. Wir schauen, was sie tun, wenn sie was Böses tun, reagieren wir, und haben die Hoffnung, dass es nicht zu viele Mitläufer gibt."
    Aber Schramm gibt die Hoffnung nicht auf. Er geht sogar seit Jahren zu jungen Neonazis ins Gefängnis, um ihnen von der Geschichte seiner Familie im Holocaust zu erzählen.