Am kommenden Versöhnungstag Yom Kippur, dem heiligsten Tag für gläubige Juden, wird Assaf Levitin das liturgische Gedicht oder Pijut "Adon Haselikhot", ein Gebet der Buße und Reue in der Synagoge der liberalen jüdischen Gemeinde in Hannover vorsingen.
Er erklärt: "Und das ist alphabetisch geschrieben, das ist typisch für Pijutum, das geht nach dem hebräischen Alphabet - bis zum Tav".
Der 43-jährige Assaf Levitin war als professioneller Sänger Ensemblemitglied am Theater Dortmund und am Opernhaus Zürich. Gerade absolviert er sein Studium als Kantor am liberalen Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. Worin unterscheidet sich der Gesang eines klassischen Solisten von dem eines Kantors?
Assaf antwortet: "Es ist eine andere Aufgabe, ein Gebet zu führen als Vorsänger und nicht als Solist. Entweder man wirft irgendeinen Anfang von einer Melodie in den Raum, damit das Publikum mitsingt, und das ist erwünscht. Oder es gibt ein Give-and-Take. Man singt die erste Hälfte des Satzes und das Publikum soll darauf reagieren. Beim Vorbeten geht es nicht so sehr um mich als Solist. Wichtig ist: War das gut? Und nicht: War ich gut?"
"Man muss die Liturgie gut kennen"
Der zweite der "Drei Kantoren" ist der 34-jährige Amnon Seelig. Er singt seit Jahren in verschiedenen Chören. Bereits mit 17 sang er aber auch in israelischen Synagogen in einem Männerchor. Bei den Jüdischen Kulturtagen in Düsseldorf trat Seelig mit den "Drei Kantoren" auf. Diese singen in jüdischen Gemeinden, aber auch für interessierte Deutsche auf Festivals jüdischer Musik. Seit vergangenem Dezember ist Amnon Seelig Vorbeter der orthodoxen Gemeinde in Düsseldorf.
Amnon: "Der große Unterschied ist zwischen Chorsänger und Chazan, und Kantor: Als Chazan hat man viel mehr zu singen ... und muss man viel mehr Bewusstsein haben und sich in der Liturgie sehr gut auskennen."
Im Gegensatz zu einem Solisten muss ein guter Kantor mit seiner Beter-Gemeinschaft zurechtkommen. Er muss den Spagat zwischen der Einführung neuer Melodien und der Rücksicht auf die einheimische Tradition, dem sogenannten Minhag, vollziehen. Das ist nicht immer leicht, wie Amnon Seelig in der Synagoge des Jüdischen Altersheims in Berlin erfuhr:
"Es gibt immer diese eine Melodie von Lewandowski aus der Freitagabend-Liturgie. Und ich mag diese Melodie nicht! Ich wollte einfach eine andere Melodie für diesen Text singen. Und dann habe ich angefangen, das nächste Stück zu singen, von dem anderen Komponisten. Aber die alten Leute im Altersheim haben einfach automatisch das falsche Stück gesungen - also was sie gewöhnt sind. Ich war naiv genug zu denken, dass ich mit meiner Ausbildung und mit meiner kräftigen Stimme sie übertönen kann. Das war aber ein Fehler: Ich konnte nicht."
Die musikalischen Grenzen zwischen der Synagoge und der Bühne, zwischen der liturgischen jüdischen und der populären Musik, sind fließend. Auf der neuen CD singen "Die Drei Kantoren" zum Beispiel "Adonay Roi" (Gott ist mein Beschützer) aus dem Buch der Psalmen zur Melodie des deutsch-jüdischen Komponisten Max Janowski. Dessen Melodie zum Gebet "Avinu Malkenu" wurde durch Barbara Streisand weltberühmt.
Bayerische Volksmelodien und arabische Vertonungen
Assaf Levitin lektorierte 2004 das Buch mit Doppel-CD "Nigunei Magenza - Jüdische liturgische Gesänge aus Mainz". Zurzeit schreibt Levitin seine Masterarbeit über den jüdisch-osmanischen Komponisten Alberto Hemsi. Der liturgische Unterschied zwischen sephardischen und Aschkenasi-Synagogen ist viel größer als der zu nichtjüdischen zeitgenössischen Melodien des jeweiligen Landes, sagt Assaf Levitin:
"Die aschkenasische Musik ist stark beeinflusst von Gassenhauern, vom deutschen Volkslied, aschkenasische Musik aus Deutschland … Ein sehr gutes Beispiel ist Shir Hamaalot, was wir am Anfang des Segens nach der Mahlzeit hier in Deutschland singen. Absolutes Dur, so fanfarenhaft mit ganz gewissem Rhythmus. Und das ist nicht ganz anders als bayerische Volksmelodien. Dieses rhythmische Dur in Vier-Viertel-Takt ist sehr typisch deutsch."
Am liberalen Abraham-Geiger-Kolleg werden die Studenten auch für orthodoxe Synagogen ausgebildet. Musikalisch unterscheiden sich die orthodoxen Kantoren von den liberalen nicht, nur die Texte sind manchmal leicht anders.
Amnon Seelig wuchs in einer liberalen jüdischen Familie auf. Dazu gehörte, dass er, wie sein Vater vor ihm, Arabisch im Abitur hatte. Mit seiner Frau singt Amnon Seelig im Vokal Quintett Berlin zusammen, auf Hebräisch und Arabisch, auch den Psalm 121, 'Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen', von einem arabisch-israelischen Komponisten vertont.
Im Gedicht "El Meod Na’ala" kombinieren "Die Drei Kantoren" den jüdischen liturgischen Text mit einer arabischen Vertonung.