In seinem Stück: "In der Sache J. Robert Oppenheimer" legt Heiner Kipphardt 1964 dem Chefentwickler der Atombombe in den Mund:
Physiker interessieren sich für neue Dinge. Sie experimentieren gern und ihre Gedanken sind auf Veränderungen gerichtet. Bei ihrer Arbeit, und so auch in politischen Fragen.
Das schlägt die Brücke zu Kati Martons Buch "Die Flucht der Genies", in dem Physik und Kunst mit Politik verwoben werden und die Porträtierten als Grenzgänger faszinieren. Die Geburtsstadt dieser Genies war Budapest – zugleich Ausgangspunkt der eigenen Flucht von Kati Marton. Geboren 1949, erlebte sie, wie ihre Eltern als Korrespondenten für westliche Nachrichtenagenturen 1955 vom Geheimdienst AVO verhaftet wurden. Wieder frei, vermeldeten sie 1956 noch das Herannahen sowjetischer Panzer – und flohen. Von ihrer jüdischen Herkunft und der Ermordung ihrer Großmutter wusste die Verfasserin lange nichts. Martons Bezüge zu Flucht und Verfolgung, die sie im 2009 in den USA erschienen Buch "Volksfeinde" schildert, gehen darüber hinaus: Sie ist mit dem US-Stardiplomaten Richard Holbrooke verheiratet. Dessen Mutter floh 1933 aus Stuttgart, und als Botschafter in Berlin hatte er stets ein Foto seines jüdischen Großvaters parat, in kaiserlicher Uniform. Das zeige er stets deutschen Besuchern, berichtete Holbrooke, als Symbol dafür, was sie verloren hatten.
Was Ungarn verloren, und die Welt gewonnen hat, ist ein Thema von Kati Marton. Sinnbild dafür ist, dass ihre Protagonisten größtenteils ihre Namen austauschten: Hinter Sir Alexander Korda, dem Begründer des britischen Filmbusiness, verbarg sich Sándor Kellner. Michael Curtiz hieß wie viele Juden Kaminer. Dann wählte er sich den Namen Kertesz. Diesen teilte er fortan mit dem hier ebenfalls porträtierten Fotografen André, eigentlich Andor, Kertesz. Dessen Kollege Endre Friedmann hatte erst dann Erfolg, als er sich eine neue Identität als "Amerikaner in Paris" erfand: die Geburtsstunde von Robert Capa. Ein Quartett von Physikern und einem Mathematiker – nämlich Leó Szilárd, Edvard Teller, Jenő, später Eugene, Wigner und János alias John von Neumann – wurde erst aus Budapest vergrault und verließ später notgedrungen Deutschland Richtung USA.
Ungarn – heute mit Staatspleite, Nationalismus und Antisemitismus einseitig in den Schlagzeilen – war einst die größte Verheißung in Mitteleuropa: Das hochmoderne Budapest, in dem die Kultur die härteste Währung war, hatte der Reichshauptstadt Wien um 1900 den Rang abgelaufen. Nicht zuletzt dank seiner Juden, die sich hier wie nirgendwo sonst entfalten konnten und sich um so mehr als Ungarn fühlten.
Das ist ein Erklärungsansatz zu einem Rätsel, dem sogar die CIA nachspürte: Warum entstammten diesem Land bloß so viele Ausnahmebegabungen? Oder wie Kati Marton es kürzlich umschrieb:
Was nur war im Espresso in Budapest? Was immer es war: Es war ein ziemlich starkes Zeug.
Der Espresso also als Muttermilch der ungarischen Genies, die ab 1910 in Kaffeehäusern wie dem New York, zuhause waren. Die Autorin ist der Meinung, dass ihre Isolation die Ungarn dazu verdonnert habe, weltoffen zu werden. Ein Zitat von Arthur Koestler hat sie als Motto gewählt:
Die Ungarn sind das einzige Volk in Europa, das keine ethnischen und sprachlichen Verwandten hat. Hoffnungslose Einsamkeit nährt ihre Kreativität, ihre Sehnsucht nach Erfolg.
Solche Prägungen allein greifen aber zu kurz, wie Marton einräumt, etwa wenn sie, ausgehend von Capa, über Koestler bemerkt:
Der Spanische Bürgerkrieg veränderte auch sein Leben.
Und lange vorher schon geriet das ungarische Volk auf eine Bahn, die mit Kreativität, Kosmopolitismus und Aufbruch nichts mehr gemein hatte. Auf den Untergang an der Seite Österreichs, die Räterepublik und Trianon folgte die antisemitische Reaktion unter Horthy. Damit begann der Exodus der Intelligenz und Kunst nach Berlin, Wien, Paris – und dann nach Amerika. Die Verbundenheit der Exilanten mit Ungarn hielt an: So feiert in Michael Curtiz' Film Casablanca das Café New York als Ricks Café seine Auferstehung, der Freiheitskämpfer mit dem ungarischen Namen Viktor László stimmt hier die Marseillaise an. Das propagandistisch aufgeladene Melodram zeigt ein Phänomen, das Marton nur bedingt erklärt: wie sehr die Ungarn sich in ihrer neuen Heimat als Patrioten bewährten – durchaus mit Gespür für ihre Karriere.
Churchills Vertrauter Korda schuf 1941 den besten Seekriegsfilm aller Zeiten: "That Hamilton Woman" schildert nicht nur die Eroberung eines Helden durch ein Flittchen, sondern vor allem: den einsamen britischen Kampf gegen einen Diktator, was der aktuellen Kriegslage entsprach. Der unbeugsame Lord Nelson siegt über Napoleon und haucht, tödlich getroffen: "Ich erwarte, dass jeder Mann seine Pflicht tut." Diese Botschaft schallte sozusagen von Trafalgar an die Adresse der zögerlichen USA. Korda war es auch, der Charlie Chaplin 1937 zum Anti-Hitler-Film "Der große Diktator" anregte.
Robert Capa wurde als Kriegsreporter endgültig legendär, als er der Welt 1944 die ersten Schnappschüsse der Invasion von Omaha Beach lieferte.
Weniger dramatisch war, wozu sich im Juli 1939 Leó Szillard und Eugene Wigner entschlossen. Begleitet von Edward Teller, überredeten sie Albert Einstein, einen von ihnen aufgesetzten Brief an Roosevelt zu unterzeichnen. Darin malten sie das Risiko deutscher Kernwaffen aus, und lösten das Manhattan Projekt, das Atombombenprogramm der USA, aus. Auf den Superrechnern und der Spieltheorie John von Neumanns beruhten Rüstungstechnologien und Sicherheitsstrategien; der höchst umstrittene Teller trieb die Wasserstoffbombe voran und war geistiger Vater von Reagans SDI.
Von der Sprengkraft der Atombombe war, was Arthur Koestler mit Worten erreichte: Sein Roman "Sonnenfinsternis" von 1940 demaskierte den Stalinismus. Damit war er, anders als Marton es äußert, zwar nicht der erste, sondern folgt auf Romane von Jiří Weil, Ignazio Silone, Margarete Neumann und anderen. Aber wohl kein Buch des 20. Jahrhunderts hat vergleichbar Geschichte geschrieben. Darüber hinaus prangerte Koestler 1944 in der New York Times die Teilnahmslosigkeit gegenüber der Ermordung der europäischen Juden an.
Das Engagement und die politische Wachheit dieser Persönlichkeiten sieht Marton in ihren ungarisch-europäischen Vorkriegseindrücken begründet:
Durch ihre Erfahrungen sensibilisiert, gehörten [sie] zu den ersten, die die unheilvollen Anzeichen erkannten. Auf ihrem jeweiligen Gebiet bemühten sie sich, eine Welt wachzurütteln, die ihre Augen vor dem aufziehenden Unheil immer noch verschloss.
Kati Marton erzählt fesselnd von jüdischen Genies aus Ungarn, die die Welt mitveränderten. Ihr gründlich recherchiertes Buch, mit vielen autobiografischen Stimmen, erhebt nicht den Anspruch auf neue Erkenntnisse.
Auch werden die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit mancher Figuren nur angerissen. Aber die Verschränkung mit ihrer eigenen Biografie und ihre Erkundung gemeinsamer jüdisch-ungarischer Wurzeln eröffnen einen neuen Blick auf eine bekannte Materie und ein vertraut-unvertrautes Land.
Kati Maton: "Die Flucht der Genies". Das Buch ist in der ebenso liebevoll wie aufwendig edierten und gedruckten Reihe der anderen Bibliothek bei Eichborn erschienen. 400 Seiten kosten 32 Euro, ISBN: 978-3821862194.
Physiker interessieren sich für neue Dinge. Sie experimentieren gern und ihre Gedanken sind auf Veränderungen gerichtet. Bei ihrer Arbeit, und so auch in politischen Fragen.
Das schlägt die Brücke zu Kati Martons Buch "Die Flucht der Genies", in dem Physik und Kunst mit Politik verwoben werden und die Porträtierten als Grenzgänger faszinieren. Die Geburtsstadt dieser Genies war Budapest – zugleich Ausgangspunkt der eigenen Flucht von Kati Marton. Geboren 1949, erlebte sie, wie ihre Eltern als Korrespondenten für westliche Nachrichtenagenturen 1955 vom Geheimdienst AVO verhaftet wurden. Wieder frei, vermeldeten sie 1956 noch das Herannahen sowjetischer Panzer – und flohen. Von ihrer jüdischen Herkunft und der Ermordung ihrer Großmutter wusste die Verfasserin lange nichts. Martons Bezüge zu Flucht und Verfolgung, die sie im 2009 in den USA erschienen Buch "Volksfeinde" schildert, gehen darüber hinaus: Sie ist mit dem US-Stardiplomaten Richard Holbrooke verheiratet. Dessen Mutter floh 1933 aus Stuttgart, und als Botschafter in Berlin hatte er stets ein Foto seines jüdischen Großvaters parat, in kaiserlicher Uniform. Das zeige er stets deutschen Besuchern, berichtete Holbrooke, als Symbol dafür, was sie verloren hatten.
Was Ungarn verloren, und die Welt gewonnen hat, ist ein Thema von Kati Marton. Sinnbild dafür ist, dass ihre Protagonisten größtenteils ihre Namen austauschten: Hinter Sir Alexander Korda, dem Begründer des britischen Filmbusiness, verbarg sich Sándor Kellner. Michael Curtiz hieß wie viele Juden Kaminer. Dann wählte er sich den Namen Kertesz. Diesen teilte er fortan mit dem hier ebenfalls porträtierten Fotografen André, eigentlich Andor, Kertesz. Dessen Kollege Endre Friedmann hatte erst dann Erfolg, als er sich eine neue Identität als "Amerikaner in Paris" erfand: die Geburtsstunde von Robert Capa. Ein Quartett von Physikern und einem Mathematiker – nämlich Leó Szilárd, Edvard Teller, Jenő, später Eugene, Wigner und János alias John von Neumann – wurde erst aus Budapest vergrault und verließ später notgedrungen Deutschland Richtung USA.
Ungarn – heute mit Staatspleite, Nationalismus und Antisemitismus einseitig in den Schlagzeilen – war einst die größte Verheißung in Mitteleuropa: Das hochmoderne Budapest, in dem die Kultur die härteste Währung war, hatte der Reichshauptstadt Wien um 1900 den Rang abgelaufen. Nicht zuletzt dank seiner Juden, die sich hier wie nirgendwo sonst entfalten konnten und sich um so mehr als Ungarn fühlten.
Das ist ein Erklärungsansatz zu einem Rätsel, dem sogar die CIA nachspürte: Warum entstammten diesem Land bloß so viele Ausnahmebegabungen? Oder wie Kati Marton es kürzlich umschrieb:
Was nur war im Espresso in Budapest? Was immer es war: Es war ein ziemlich starkes Zeug.
Der Espresso also als Muttermilch der ungarischen Genies, die ab 1910 in Kaffeehäusern wie dem New York, zuhause waren. Die Autorin ist der Meinung, dass ihre Isolation die Ungarn dazu verdonnert habe, weltoffen zu werden. Ein Zitat von Arthur Koestler hat sie als Motto gewählt:
Die Ungarn sind das einzige Volk in Europa, das keine ethnischen und sprachlichen Verwandten hat. Hoffnungslose Einsamkeit nährt ihre Kreativität, ihre Sehnsucht nach Erfolg.
Solche Prägungen allein greifen aber zu kurz, wie Marton einräumt, etwa wenn sie, ausgehend von Capa, über Koestler bemerkt:
Der Spanische Bürgerkrieg veränderte auch sein Leben.
Und lange vorher schon geriet das ungarische Volk auf eine Bahn, die mit Kreativität, Kosmopolitismus und Aufbruch nichts mehr gemein hatte. Auf den Untergang an der Seite Österreichs, die Räterepublik und Trianon folgte die antisemitische Reaktion unter Horthy. Damit begann der Exodus der Intelligenz und Kunst nach Berlin, Wien, Paris – und dann nach Amerika. Die Verbundenheit der Exilanten mit Ungarn hielt an: So feiert in Michael Curtiz' Film Casablanca das Café New York als Ricks Café seine Auferstehung, der Freiheitskämpfer mit dem ungarischen Namen Viktor László stimmt hier die Marseillaise an. Das propagandistisch aufgeladene Melodram zeigt ein Phänomen, das Marton nur bedingt erklärt: wie sehr die Ungarn sich in ihrer neuen Heimat als Patrioten bewährten – durchaus mit Gespür für ihre Karriere.
Churchills Vertrauter Korda schuf 1941 den besten Seekriegsfilm aller Zeiten: "That Hamilton Woman" schildert nicht nur die Eroberung eines Helden durch ein Flittchen, sondern vor allem: den einsamen britischen Kampf gegen einen Diktator, was der aktuellen Kriegslage entsprach. Der unbeugsame Lord Nelson siegt über Napoleon und haucht, tödlich getroffen: "Ich erwarte, dass jeder Mann seine Pflicht tut." Diese Botschaft schallte sozusagen von Trafalgar an die Adresse der zögerlichen USA. Korda war es auch, der Charlie Chaplin 1937 zum Anti-Hitler-Film "Der große Diktator" anregte.
Robert Capa wurde als Kriegsreporter endgültig legendär, als er der Welt 1944 die ersten Schnappschüsse der Invasion von Omaha Beach lieferte.
Weniger dramatisch war, wozu sich im Juli 1939 Leó Szillard und Eugene Wigner entschlossen. Begleitet von Edward Teller, überredeten sie Albert Einstein, einen von ihnen aufgesetzten Brief an Roosevelt zu unterzeichnen. Darin malten sie das Risiko deutscher Kernwaffen aus, und lösten das Manhattan Projekt, das Atombombenprogramm der USA, aus. Auf den Superrechnern und der Spieltheorie John von Neumanns beruhten Rüstungstechnologien und Sicherheitsstrategien; der höchst umstrittene Teller trieb die Wasserstoffbombe voran und war geistiger Vater von Reagans SDI.
Von der Sprengkraft der Atombombe war, was Arthur Koestler mit Worten erreichte: Sein Roman "Sonnenfinsternis" von 1940 demaskierte den Stalinismus. Damit war er, anders als Marton es äußert, zwar nicht der erste, sondern folgt auf Romane von Jiří Weil, Ignazio Silone, Margarete Neumann und anderen. Aber wohl kein Buch des 20. Jahrhunderts hat vergleichbar Geschichte geschrieben. Darüber hinaus prangerte Koestler 1944 in der New York Times die Teilnahmslosigkeit gegenüber der Ermordung der europäischen Juden an.
Das Engagement und die politische Wachheit dieser Persönlichkeiten sieht Marton in ihren ungarisch-europäischen Vorkriegseindrücken begründet:
Durch ihre Erfahrungen sensibilisiert, gehörten [sie] zu den ersten, die die unheilvollen Anzeichen erkannten. Auf ihrem jeweiligen Gebiet bemühten sie sich, eine Welt wachzurütteln, die ihre Augen vor dem aufziehenden Unheil immer noch verschloss.
Kati Marton erzählt fesselnd von jüdischen Genies aus Ungarn, die die Welt mitveränderten. Ihr gründlich recherchiertes Buch, mit vielen autobiografischen Stimmen, erhebt nicht den Anspruch auf neue Erkenntnisse.
Auch werden die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit mancher Figuren nur angerissen. Aber die Verschränkung mit ihrer eigenen Biografie und ihre Erkundung gemeinsamer jüdisch-ungarischer Wurzeln eröffnen einen neuen Blick auf eine bekannte Materie und ein vertraut-unvertrautes Land.
Kati Maton: "Die Flucht der Genies". Das Buch ist in der ebenso liebevoll wie aufwendig edierten und gedruckten Reihe der anderen Bibliothek bei Eichborn erschienen. 400 Seiten kosten 32 Euro, ISBN: 978-3821862194.