Rüdiger Achenbach: Herr Ginzel, die sogenannte Emanzipationsbewegung im Judentum beginnt mit der Zeit der Aufklärung. Damals im 18. Jahrhundert gab es in Berlin eine jüdische Bildungselite, die vor allem am kulturellen Leben teilnahm. War das damals aus jüdischer Sicht der Aufbruch aus dem mittelalterlichen Getto?
Günther Bernd Ginzel: Also, diejenigen, die daran beteiligt waren, haben das ganz gewiss so gesehen. Wobei ja die jüdische Aufklärungsbewegung eine direkte Folge der nicht-jüdischen, der christlichen, der allgemeinen Aufklärungs- und Emanzipationsbewegung war.
Achenbach: Man hat das Gedankengut praktisch übernommen.
Ginzel: Ja, man hatte vorher gar keinen Anschluss. Also ihr Stichwort "Getto" will ich noch mal aufgreifen. Juden lebten ja in der Zwischenzeit in einem vielfältigen Getto, entstanden etwa in den letzten 500 Jahren, in denen die Juden wirtschaftlich, juristisch auf das Erbärmlichste diskriminiert wurden. Es gab ein schreckliches Getto, was den Beruf anbelangt. Es waren ihnen ja nur wenige wenig geachtete Berufe überlassen worden. Die Dominanz der Kirche, die in der Situation der Juden als Paria der Gesellschaft den logischen Ausfluss ihrer Leugnung der Messianität Jesu sah. Das heißt, die Diskriminierung der Juden war ja auch mit einer Ideologie verbunden, mit einem ganzen religiösen, sprich christlichen Weltbild übernommen. Und in der Abgeschiedenheit, die ich eben skizziert habe, die ja vergleichbar dann auch in Osteuropa war, blieb die allgemeine jüdische Sprachentwicklung hinter der generell deutschen zurück und es entstand aus dem ursprünglich Deutschen ein jüdischer Dialekt, das Juden-Deutsch, das Jiddisch.
Achenbach: Und da kommt nun die Umbruchzeit in der Aufklärung.
Ginzel: Voll. Juden mussten erst einmal auch Deutsch lernen. Moses Mendelssohn konnte sich ja kaum verständlich machen. Der große berühmte jüdische Aufklärer, der nur durch das Tor für das Vieh nach Berlin reinkam - als junger Mensch. Sie schauten mit großen Augen auf die nicht-jüdische Entwicklung. Auf die Philosophie der Aufklärung. Auf die Entwicklung der Naturwissenschaften. Auf generell, was sich um sie herum tat. Auf die Industrialisierung. Das alles ist ja an ihnen ja erst einmal weitgehend vorbeigegangen. Allgemeine Bildung war bei Juden vollkommen untergeordnet. Und auch, Herr Achenbach, die jüdische Bildung. Das blieb ja nicht aus. Es gab mittlerweile ein geistig jüdisches Getto. Engstirnigkeit, Traditionalismus. Rabbinismus der primitivsten Art, das heißt schlecht ausgebildete Leute, die eben irgendwelche Gesetzlichkeiten im Kopf hatte - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Viele Juden hatten auch das Gefühl, das sie dadurch in eine erbärmliche Situation eines geistigen Gettos geraten sind. Und von daher eben die Aufbruchstimmung, die sich nunmehr breitmachte.
Achenbach: Es gibt in dieser Zeit das Stichwort "Judentum als Vernunftreligion". Das passt natürlich zur Zeit der Aufklärung. Was haben die jüdischen Vertreter darunter konkret verstanden?
Ginzel: Es begann nicht zuletzt mit Moses Mendelssohn und war eine Reaktion darauf, dass man ja das Judentum diskriminierte. Man sah in ihnen aberwitzige, überholte, abgestandene, orientalische, nicht nach Deutschland, Europa passende Ritualien. Das Christentum war der Fortschritt, das Christentum war das dem Deutschen in seiner katholischen und evangelischen Ausprägung Gemäße. Die Jüdische - das war Aberglaube. Das war das Festhalten an der vorchristlichen Situation. Und nun begann etwas, das eben einzelne jüdische Denker beweisen wollten: Aber das Judentum ist auch eine Religion der Vernunft. Du kannst sie nicht nur vom Gefühl her oder vom Glauben her oder von der Offenbarung her verstehen, sondern eben auch mit dem Verstand. Es ist vernünftig, wie das Judentum entstanden ist und was das Judentum lehrt.
Achenbach: Was sich dann in der Aufklärungszeit natürlich vor allen in der Ethik orientiert.
Ginzel: Die Ethik wurde deutlich. Juden mussten ja reagieren. Das Spannende jetzt für Juden war ja ein Vielerlei. Erstens, Juden betrachteten intern ihre jüdische Situation in Konfrontation mit der christlichen und sagten mehr oder weniger: oh, weh. Unsere Gottesdienst: grässliches Gebrüll. Es gab eine ungeheure jüdische Polemik gegen den jüdischen Gottesdienst. Unsere Kultusbeamten: fürchterlich gebildet. Überhaupt kein Vergleich mit den Hochgebildeten um uns herum. Und somit begann vor allen Dingen eine große Suche. Nun beginnt tatsächlich das Ureigene, die eigentliche inner-jüdische Revolution, nämlich die Überlegung, was bedeutet es überhaupt, Jude zu sein. Wo sind denn die jüdischen Quellen? Ist das, was wir hier betreiben, ist das noch das wahre Judentum? Und ein Ausfluss davon war die Wissenschaft des Judentums.
Achenbach: Das heißt also, man beschäftigte sich mit der eigenen Religionsgeschichte.
Ginzel: Mit der eigenen Religionsgeschichte, mit der eigenen Quellengeschichte, mit der eigenen Geschichte der Gestaltung des Gottesdienstes. Man wollte verändern, man wollte reformieren, und zwar in vielen Bereichen, nicht nur in dem, was dann hinterher das reformierte liberale Judentum geworden ist.
Achenbach: Wie wirkte sich das in Reaktion auf die Gesellschaft aus? Denn es ging ja nicht nur um eine inner-jüdische Aufbruchstimmung, sondern man wollte ja auch in der Gesellschaft eine andere Stellung.
Ginzel: Man wollte eine andere Stellung, wobei man hier auch einfach, weil es wichtig ist für die historische Wahrheit. Die Einladung kam von aufgeklärten Christen. Es waren aufgeklärte Christen, die in diese Welt schauten. Vor der Französischen Revolution, nach der französischen Revolution sahen, mein Gott, wie leben hier einzelne Menschen. Was ist die Situation der Bauer in ihrer Abhängigkeit? Was ist die Situation der Frauen mit dem Züchtigungsrecht der Männer? Was ist die Situation etwa der jüdischen Minderheiten? Und sie sagten: grässlich. Die Leute sind ja auch hinterm Mond. Wir müssen sie erziehen und wir müssen sie als gleichberechtigte Partner ernst nehmen. Juden griffen das begeistert auf und begannen nunmehr zu experimentieren. Und nun entstanden viele, viele Reformen, die auch für Deutschland insgesamt wichtig wurden - gerade in der Pädagogik, die Erziehung. Man erkannte, wir brauchen anderes Erziehungswesen, wenn wir neue Köpfe haben wollen, brauchen wir neue Inhalte in diesen Köpfen. Wir brauchen neue Erziehungsmethoden, freiere Erziehungsmethoden.
Achenbach: Gegenwartsbezogen.
Ginzel: Gegenwartsbezogene, emanzipierte. Die richtige Mischung zwischen Tradition, zwischen dem Kennen der Quellen, zwischen dem Kennen des Hebräischen, aber eben auch der Akzeptanz: Wir sind Bürger dieser Länder, in denen wir leben.
Achenbach: Aber diese Forderungen machen dann ja auch Angst, vor allem den Rabbinern.
Ginzel: Die machen einerseits natürlich einem Teil der Rabbiner Angst, weil sie dazu bildungsmäßig gar nicht in der Lage waren, das mitzutragen. Dann natürlich vielen, die sich wohlgefühlt hatten in dem, wie es schon immer so war und wie es der Vater und der Großvater und der Urgroßvater so gemacht hat. Und das soll auf einmal alles schlecht sein, nur weil die Kirche, weil die Christen das anders machen. Große inner-jüdische Auseinandersetzung, Tempelstreit, Einführung von Chor, Einführung von Musik. Das ist ganz typisch. Man entdeckt in der Wissenschaft des Judentums, im Tempel wurden Musikinstrumente gespielt. Ja, die Musik ist ja etwas urtypisch Synagogales. Bei uns verboten, weil es eben in Absetzungsbewegung zur Kirche war. Also wollte man nun auch eine Orgel haben. Und das sollte auch ein schönes Judentum, ein ästhetisches Judentum sein, das sich nicht zu verstecken braucht. Aber vor allen Dingen, Herr Achenbach, was Sie eben andeuteten, es war der Aufschwung hinein in die deutsche Kultur, die ja eine deutsche kulturelle Blüte, eine philosophische Blüte, eine literarische Blüte war. Juden holten nach, lernten, lernten und wurden Teil dieses Ganzen und mit ihren wachen Augen, die eben nunmehr als die, die neu dazu kommen, die mit Begeisterung sahen und es als Geschenk empfanden, in die Nation der Lernenden und Wissenden aufgenommen zu werden. Und somit begannen sie eben auf sämtlichen Gebieten des kulturellen und wissenschaftlichen Schaffens ihren Anteil zu übernehmen.
Achenbach: Ein Problem an dieser Stelle war ja wahrscheinlich auch - vor allem für viele Rabbiner, dass die Aufklärer in der Religion immer eine Privatsache des Einzelnen gesehen haben. Sie haben nie die Gruppe insgesamt gesehen. Das heißt, für das Judentum galt natürlich und gilt ja, dass es eben zwei Pole sozusagen gibt. Einmal die jüdische Nation und die Religion, die in vielen Fällen zusammengesehen wird. Und damals ganz besonders zusammengesehen wurde. Bedeutete das auch ein Stück Substanzverlust?
Ginzel: Natürlich. Und das machte Angst, denn man begann nunmehr neu zu definieren. In der mittelalterlichen Struktur war der Religionsgenosse der Volksgenosse. Das war bei Christen so. Man hat die Muslime als muslimisches Volk angesehen. Man sah die Karäer als karäisches Volk an. Die Katholiken, die Protestanten und die Juden. Das war zuerst einmal für sich nicht die Diskriminierung.
Achenbach: Nicht der Einzelne trat in den Vordergrund, sondern die Gemeinschaft.
Ginzel: Und die Gemeinschaft wurde definiert durch die Religion, nicht durch Begriffe, wie sie jetzt aufkamen. Nämlich: Nation. Und selbstverständlich ganz besonders Begriffe wie Sprache. Sprache wurde hier nun das eigentliche Kultur- und Nationalbildende, was vor allen Dingen Juden aufnahmen. Und indem sie also jetzt Anteil hatten an der allgemeinen Sprache, der deutschen Sprache, wurden sie Teil und wollten sie Teil einer deutschen Gesellschaft werden und brachen nun auch inner-jüdisch das tief Verinnerlichte und im Biblischen ja durchaus Vorgegeben - die Einheit von Volk Israel und Glauben Israel - auf. Und sagten: Als Religionsgemeinden gehören wir in die Tradition des jüdischen, des israelitischen, des biblischen Volkes. Als Bürger, als jüdische Bürger sind wir aber Teil des Landes und des Staates, in dem wir leben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Günther Bernd Ginzel: Also, diejenigen, die daran beteiligt waren, haben das ganz gewiss so gesehen. Wobei ja die jüdische Aufklärungsbewegung eine direkte Folge der nicht-jüdischen, der christlichen, der allgemeinen Aufklärungs- und Emanzipationsbewegung war.
Achenbach: Man hat das Gedankengut praktisch übernommen.
Ginzel: Ja, man hatte vorher gar keinen Anschluss. Also ihr Stichwort "Getto" will ich noch mal aufgreifen. Juden lebten ja in der Zwischenzeit in einem vielfältigen Getto, entstanden etwa in den letzten 500 Jahren, in denen die Juden wirtschaftlich, juristisch auf das Erbärmlichste diskriminiert wurden. Es gab ein schreckliches Getto, was den Beruf anbelangt. Es waren ihnen ja nur wenige wenig geachtete Berufe überlassen worden. Die Dominanz der Kirche, die in der Situation der Juden als Paria der Gesellschaft den logischen Ausfluss ihrer Leugnung der Messianität Jesu sah. Das heißt, die Diskriminierung der Juden war ja auch mit einer Ideologie verbunden, mit einem ganzen religiösen, sprich christlichen Weltbild übernommen. Und in der Abgeschiedenheit, die ich eben skizziert habe, die ja vergleichbar dann auch in Osteuropa war, blieb die allgemeine jüdische Sprachentwicklung hinter der generell deutschen zurück und es entstand aus dem ursprünglich Deutschen ein jüdischer Dialekt, das Juden-Deutsch, das Jiddisch.
Achenbach: Und da kommt nun die Umbruchzeit in der Aufklärung.
Ginzel: Voll. Juden mussten erst einmal auch Deutsch lernen. Moses Mendelssohn konnte sich ja kaum verständlich machen. Der große berühmte jüdische Aufklärer, der nur durch das Tor für das Vieh nach Berlin reinkam - als junger Mensch. Sie schauten mit großen Augen auf die nicht-jüdische Entwicklung. Auf die Philosophie der Aufklärung. Auf die Entwicklung der Naturwissenschaften. Auf generell, was sich um sie herum tat. Auf die Industrialisierung. Das alles ist ja an ihnen ja erst einmal weitgehend vorbeigegangen. Allgemeine Bildung war bei Juden vollkommen untergeordnet. Und auch, Herr Achenbach, die jüdische Bildung. Das blieb ja nicht aus. Es gab mittlerweile ein geistig jüdisches Getto. Engstirnigkeit, Traditionalismus. Rabbinismus der primitivsten Art, das heißt schlecht ausgebildete Leute, die eben irgendwelche Gesetzlichkeiten im Kopf hatte - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Viele Juden hatten auch das Gefühl, das sie dadurch in eine erbärmliche Situation eines geistigen Gettos geraten sind. Und von daher eben die Aufbruchstimmung, die sich nunmehr breitmachte.
Achenbach: Es gibt in dieser Zeit das Stichwort "Judentum als Vernunftreligion". Das passt natürlich zur Zeit der Aufklärung. Was haben die jüdischen Vertreter darunter konkret verstanden?
Ginzel: Es begann nicht zuletzt mit Moses Mendelssohn und war eine Reaktion darauf, dass man ja das Judentum diskriminierte. Man sah in ihnen aberwitzige, überholte, abgestandene, orientalische, nicht nach Deutschland, Europa passende Ritualien. Das Christentum war der Fortschritt, das Christentum war das dem Deutschen in seiner katholischen und evangelischen Ausprägung Gemäße. Die Jüdische - das war Aberglaube. Das war das Festhalten an der vorchristlichen Situation. Und nun begann etwas, das eben einzelne jüdische Denker beweisen wollten: Aber das Judentum ist auch eine Religion der Vernunft. Du kannst sie nicht nur vom Gefühl her oder vom Glauben her oder von der Offenbarung her verstehen, sondern eben auch mit dem Verstand. Es ist vernünftig, wie das Judentum entstanden ist und was das Judentum lehrt.
Achenbach: Was sich dann in der Aufklärungszeit natürlich vor allen in der Ethik orientiert.
Ginzel: Die Ethik wurde deutlich. Juden mussten ja reagieren. Das Spannende jetzt für Juden war ja ein Vielerlei. Erstens, Juden betrachteten intern ihre jüdische Situation in Konfrontation mit der christlichen und sagten mehr oder weniger: oh, weh. Unsere Gottesdienst: grässliches Gebrüll. Es gab eine ungeheure jüdische Polemik gegen den jüdischen Gottesdienst. Unsere Kultusbeamten: fürchterlich gebildet. Überhaupt kein Vergleich mit den Hochgebildeten um uns herum. Und somit begann vor allen Dingen eine große Suche. Nun beginnt tatsächlich das Ureigene, die eigentliche inner-jüdische Revolution, nämlich die Überlegung, was bedeutet es überhaupt, Jude zu sein. Wo sind denn die jüdischen Quellen? Ist das, was wir hier betreiben, ist das noch das wahre Judentum? Und ein Ausfluss davon war die Wissenschaft des Judentums.
Achenbach: Das heißt also, man beschäftigte sich mit der eigenen Religionsgeschichte.
Ginzel: Mit der eigenen Religionsgeschichte, mit der eigenen Quellengeschichte, mit der eigenen Geschichte der Gestaltung des Gottesdienstes. Man wollte verändern, man wollte reformieren, und zwar in vielen Bereichen, nicht nur in dem, was dann hinterher das reformierte liberale Judentum geworden ist.
Achenbach: Wie wirkte sich das in Reaktion auf die Gesellschaft aus? Denn es ging ja nicht nur um eine inner-jüdische Aufbruchstimmung, sondern man wollte ja auch in der Gesellschaft eine andere Stellung.
Ginzel: Man wollte eine andere Stellung, wobei man hier auch einfach, weil es wichtig ist für die historische Wahrheit. Die Einladung kam von aufgeklärten Christen. Es waren aufgeklärte Christen, die in diese Welt schauten. Vor der Französischen Revolution, nach der französischen Revolution sahen, mein Gott, wie leben hier einzelne Menschen. Was ist die Situation der Bauer in ihrer Abhängigkeit? Was ist die Situation der Frauen mit dem Züchtigungsrecht der Männer? Was ist die Situation etwa der jüdischen Minderheiten? Und sie sagten: grässlich. Die Leute sind ja auch hinterm Mond. Wir müssen sie erziehen und wir müssen sie als gleichberechtigte Partner ernst nehmen. Juden griffen das begeistert auf und begannen nunmehr zu experimentieren. Und nun entstanden viele, viele Reformen, die auch für Deutschland insgesamt wichtig wurden - gerade in der Pädagogik, die Erziehung. Man erkannte, wir brauchen anderes Erziehungswesen, wenn wir neue Köpfe haben wollen, brauchen wir neue Inhalte in diesen Köpfen. Wir brauchen neue Erziehungsmethoden, freiere Erziehungsmethoden.
Achenbach: Gegenwartsbezogen.
Ginzel: Gegenwartsbezogene, emanzipierte. Die richtige Mischung zwischen Tradition, zwischen dem Kennen der Quellen, zwischen dem Kennen des Hebräischen, aber eben auch der Akzeptanz: Wir sind Bürger dieser Länder, in denen wir leben.
Achenbach: Aber diese Forderungen machen dann ja auch Angst, vor allem den Rabbinern.
Ginzel: Die machen einerseits natürlich einem Teil der Rabbiner Angst, weil sie dazu bildungsmäßig gar nicht in der Lage waren, das mitzutragen. Dann natürlich vielen, die sich wohlgefühlt hatten in dem, wie es schon immer so war und wie es der Vater und der Großvater und der Urgroßvater so gemacht hat. Und das soll auf einmal alles schlecht sein, nur weil die Kirche, weil die Christen das anders machen. Große inner-jüdische Auseinandersetzung, Tempelstreit, Einführung von Chor, Einführung von Musik. Das ist ganz typisch. Man entdeckt in der Wissenschaft des Judentums, im Tempel wurden Musikinstrumente gespielt. Ja, die Musik ist ja etwas urtypisch Synagogales. Bei uns verboten, weil es eben in Absetzungsbewegung zur Kirche war. Also wollte man nun auch eine Orgel haben. Und das sollte auch ein schönes Judentum, ein ästhetisches Judentum sein, das sich nicht zu verstecken braucht. Aber vor allen Dingen, Herr Achenbach, was Sie eben andeuteten, es war der Aufschwung hinein in die deutsche Kultur, die ja eine deutsche kulturelle Blüte, eine philosophische Blüte, eine literarische Blüte war. Juden holten nach, lernten, lernten und wurden Teil dieses Ganzen und mit ihren wachen Augen, die eben nunmehr als die, die neu dazu kommen, die mit Begeisterung sahen und es als Geschenk empfanden, in die Nation der Lernenden und Wissenden aufgenommen zu werden. Und somit begannen sie eben auf sämtlichen Gebieten des kulturellen und wissenschaftlichen Schaffens ihren Anteil zu übernehmen.
Achenbach: Ein Problem an dieser Stelle war ja wahrscheinlich auch - vor allem für viele Rabbiner, dass die Aufklärer in der Religion immer eine Privatsache des Einzelnen gesehen haben. Sie haben nie die Gruppe insgesamt gesehen. Das heißt, für das Judentum galt natürlich und gilt ja, dass es eben zwei Pole sozusagen gibt. Einmal die jüdische Nation und die Religion, die in vielen Fällen zusammengesehen wird. Und damals ganz besonders zusammengesehen wurde. Bedeutete das auch ein Stück Substanzverlust?
Ginzel: Natürlich. Und das machte Angst, denn man begann nunmehr neu zu definieren. In der mittelalterlichen Struktur war der Religionsgenosse der Volksgenosse. Das war bei Christen so. Man hat die Muslime als muslimisches Volk angesehen. Man sah die Karäer als karäisches Volk an. Die Katholiken, die Protestanten und die Juden. Das war zuerst einmal für sich nicht die Diskriminierung.
Achenbach: Nicht der Einzelne trat in den Vordergrund, sondern die Gemeinschaft.
Ginzel: Und die Gemeinschaft wurde definiert durch die Religion, nicht durch Begriffe, wie sie jetzt aufkamen. Nämlich: Nation. Und selbstverständlich ganz besonders Begriffe wie Sprache. Sprache wurde hier nun das eigentliche Kultur- und Nationalbildende, was vor allen Dingen Juden aufnahmen. Und indem sie also jetzt Anteil hatten an der allgemeinen Sprache, der deutschen Sprache, wurden sie Teil und wollten sie Teil einer deutschen Gesellschaft werden und brachen nun auch inner-jüdisch das tief Verinnerlichte und im Biblischen ja durchaus Vorgegeben - die Einheit von Volk Israel und Glauben Israel - auf. Und sagten: Als Religionsgemeinden gehören wir in die Tradition des jüdischen, des israelitischen, des biblischen Volkes. Als Bürger, als jüdische Bürger sind wir aber Teil des Landes und des Staates, in dem wir leben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.