Julia Gris hat in der Ukraine fast schon Promi-Status. In Odessa konnten sie gut mit der ersten und einzigen Rabbinerin leben - bis zur Gedenkveranstaltung für die Opfer des Massakers an 22 000 Glaubensbrüdern im Herbst 1941. Eine deutsch-ukrainisch-rumänische Gedenkstunde war geplant, der Bremer RathsChor war angereist, der mit dem Kammerorchester Odessa Felix Mendelssohn Bartholdys "Elias" aufführen wollte. Dass in dem Chor auch Frauen mitsingen sollten, fanden Vertreter der orthodoxen Gemeinden grenzwertig, sie weigerten sich, mit ihnen auf einer Bühne zu stehen. Doch dass auch noch das Kaddisch von einer Frau, nämlich Julia Gris, gesprochen werden sollte, war zu viel.
Das Kaddisch sollte nicht zum Zankapfel werden
Sie liefen Sturm, waren wild entschlossen, die ganze Veranstaltung zu boykottieren, bei der sich erstmals Deutsche und Rumänen gemeinsam in der südukrainischen Stadt Odessa ihrer Verantwortung für das Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges stellen wollten. Julia Gris gab nach, beschränkte sich auf eine Rede. Denn dass ausgerechnet das Kaddisch den Frieden in der Gemeinde gefährdete, wollte sie nicht in Kauf nehmen - zu viel liegt ihr an diesem Totengebet.
"Im Kaddisch findet man im Unterschied zum christlichen Gedenkgebet nicht die Wörter Trauer, Bedauern, Kummer oder Verlust, sondern die Lobpreisung Gottes. Im jüdischen Glauben ist der Tod ein natürlicher Vorgang. Etwas anderes ist es allerdings, wenn er auf unnatürlichem Wege herbeigeführt wurde."
"In Odessa jüdisch zu sein ist leicht"
Trotz des Konflikts fühlt sich Julia Gris wohl in der Hafenstadt am Schwarzen Meer. Sie betrachtet das einst multi-ethnische Odessa als ihr Zuhause. Die Anliegen der jüdischen Gemeinden würden unterstützt, jüdische Kulturtage beispielsweise mitfinanziert.
"In Odessa jüdisch zu sein ist leicht und angenehm. Ich persönlich habe kein einziges Mal so etwas wie Antisemitismus erlebt. Früher tauchten an dem einen oder anderen Gebäude Hakenkreuze auf. Andererseits schien es eine Zeitlang geradezu modern zu sein, jüdisch zu werden. Von mir aus, das ist besser als Antisemitismus."
Die 46-Jährige stammt, wie sie es nennt, aus einer sowjetisch-jüdischen Familie, die jiddische oder hebräische Bücher besaß, mit denen aber niemand viel anzufangen wusste, man feierte Pessach. Man fragte sich: Wer gehört zu uns? Für Julia Gris war es eine Entdeckung, als ihr klar wurde, wie wichtig Identitätsfragen waren – auch in der Sowjetunion.
"Zwei Lehrerinnen für russische Literatur hatten mich als 10-jährige Schülerin auf der Bühne beobachtet wie ich ein Gedicht rezitierte. Ich hörte, wie sie sich einander hinterher zuflüsterten: Das ist unser Mädchen. Ich ging nach Hause und fragte meine Großmutter und Mutter was das heißt: unser Mädchen."
Durch die gläserne Decke
Nach dem Ende der UdSSR, als das jüdische Leben wieder blühen durfte, gründete Julia Gris, damals 18 Jahre alt, ein jüdisches Jugendzentrum. Mit 19 traf sie zum ersten Mal einen Rabbiner. Eine folgenschwere Begegnung.
"Der von mir sehr geschätzte Rabbi Yitzak wollte mich, weil ich so aktiv in diesem Jugendzentrum war, loben. Er sagte: 'Julia, Du bist ein so kluges Mädchen, dass Du sogar die Ehefrau eines Rabbiners werden könntest.' Er meinte es als Kompliment, aber ich, in meinem jugendlichen Maximalismus, sah nur die gläserne Decke. Ich wusste, dass die Ehefrauen der Rabbiner Großartiges leisten in der Familie und in der Gemeinde, aber mir war das nicht genug. Dann traf ich die erste Rabbinerin in der Sowjetunion, Ariel Stone. Sie war aus Amerika. Da wollte ich wie sie auch Rabbinerin werden. Aber bis ich dahin kam, vergingen genau 20 Jahre."
Vorbehalte gibt es auch bei Frauen
Ihre Mutter, die nicht religiös war, konnte ihren Wunsch, Rabbinerin zu werden, zunächst kaum verstehen. Bis sie hörte, warum ihrer Tochter so viel daran lag.
"Der Rabbi ist in unserer religiösen Tradition ein Lehrer, nicht der Stellvertreter Gottes auf Erden. Das entsprach mir, denn ich war eine ausgebildete Lehrerin. Mir war es vertraut, Wissen zu vermitteln."
Außerhalb ihres Familien- und Freundeskreises stieß und stößt sie durchaus auf Vorbehalte, wie sie in einem Interview für das ukrainische Fernsehen zugab.
"Nicht nur die Männer, auch die Frauen ängstigt das mitunter. Wer mich näher kennt, reagiert positiv. Aber selbst in der Schule meiner Tochter gab es Fragen, als sie meinen Beruf angeben sollte."
"Jeder besetzt eine bestimmte Nische"
Die progressive Gemeinde Imanu-El, die Julia Gris in Odessa gegründet hat, besteht seit fast 20 Jahren. Sie hat rund 300 Mitglieder, eher jüngere Leute, viele Familien mit Kindern. Der Rabbinerin liegt viel daran, mit den anderen, orthodoxer ausgerichteten Gruppen der Stadt, gut auszukommen.
"Es gibt ein Nebeneinander. Jeder besetzt eine bestimmte Nische. Bestimmte Feiertage begehen wir gemeinsam, wobei die orthodoxen Vertreter kein gesteigertes Interesse zum Beispiel an den städtischen Veranstaltungen haben. Einer gibt mir auch nicht die Hand, weil es ihm verboten ist, mich zu berühren. Trotzdem haben wir gute Begegnungen. Die konservative Masorti-Gemeinde ist die jüngste in der Stadt, mit ihr gibt es keinerlei Probleme."
"Die Gebote sind uns wichtig"
Julia Gris wurde in der westrussischen Stadt Brjansk geboren und kam erst für ihre jüdische Ausbildung 1998 in die Ukraine. Sie studierte in Israel und in London, sowohl am dortigen Kings- als auch am Leo Baeck College. Danach hätte ihr die ganze Welt offengestanden, doch sie wollte zurück nach Odessa in ihre Reformgemeinde, deren progressiver Ansatz ihr so wichtig ist.
"Es geht um eine Beziehung zwischen dem Menschen und Gott. Da wollen wir keine Anweisungen oder Verhaltensregeln geben. Der Rabbi kann mit Ratschlägen zur Seite stehen und unterrichten. Aber die Gläubigen entscheiden selbst, wie ihre Beziehung zu Gott aussieht. Die Gebote sind uns wichtig. Sie haben eine Bedeutung für das soziale Miteinander, aber nicht nur für Juden, sondern über die Konfessionen hinweg."
Sie kämpft um die Rückgabe der Synagoge, die als eine der wenigen noch erhalten ist und die im 19.Jahrhundert der liberalen Gemeinde gehörte. Julia Gris wünscht sich, dass die heute rund 5000 Juden in Odessa - von einst über 200 000 - eines Tages nicht mehr auf ausländische Sponsoren angewiesen sein werden, sondern ihre Gemeinden aus eigener Kraft am Leben erhalten können. Doch dafür muss die Ukraine noch einen weiten Weg zurücklegen.