Die Aula der Universität zu Köln, morgens um kurz nach halb neun. In ein paar Minuten beginnt hier die Semesterabschlussklausur im Fach Mikroökonomie. Mehr als einhundert Studenten drängen sich durch die Türen. Vereinzelt sind auch Minderjährige dabei. Studenten, die - aus verschiedenen Gründen - schon mit 17 ihr Abitur gemacht und sich danach für ein Studium entschieden haben.
Rund 30 Studenten unter 18 Jahren gibt es aktuell an der Kölner Uni - bei knapp 38.000 Nachwuchsakademikern insgesamt. Doch die Zahl wird sich, spätestens mit dem doppelten Abiturjahrgang im kommenden Jahr in Nordrhein-Westfalen, mit Sicherheit erhöhen. Mit der Folge, dass die Hochschulen immer öfter auch mit den Eltern ihrer Studenten zu tun haben, sagt Uni-Sprecher Patrick Honecker.
"Erstmal bei der Einschreibung sind die Eltern beteiligt, das heißt: Die Studierenden, die hier einen Studienplatz bekommen wollen, müssen auch eine Unterschrift dementsprechend ablegen. Und das wird dann von den Eltern geleistet in der Situation, dass man eben sagt: Mein Kind darf jetzt studieren hier an der Universität. Die sind natürlich auch dabei, wenn es darum geht, irgendwelche anderen Verträge zum Beispiel mit dem Studentenwerk oder mit anderen Anbietern auf dem Campus abzuschließen. Da müssen die beteiligt werden, weil die als Vertragspartner noch nicht volljährig sind und dementsprechend auch noch nicht unterschriftsberechtigt."
Ohnehin, so Patrick Honecker, gebe es in den letzten Jahren einen deutlichen Trend: Immer mehr Väter und Mütter wollen ganz genau wissen, wie das denn nun geht mit dem Studium.
"Wir haben zum Beispiel vor eineinhalb Wochen eine große Veranstaltung hier an der Universität zu Köln gehabt, wo ganz, ganz viele Eltern hierher kamen, um sich zu informieren über das Thema Doppelabitur. Es war so, dass die Elternvertretung der Stadt Köln gesagt hat, wir machen uns Sorgen. Viele Eltern sind sehr, sehr unsicher, wie das jetzt laufen wird in Zukunft, weil es so viele potenzielle Studierende gibt, die Plätze an den Hochschulen suchen, auch regional suchen. Und wir hatten die gesamte Aula voll mit Eltern, die gefragt haben: Wie gehen wir künftig damit um? Die Schulzeit ist extrem verkürzt worden, das Studium ist verkürzt - wir wissen eigentlich viel zu wenig, weil wir das selber so nicht erlebt haben. Kann man uns da helfen? Wir versuchen natürlich, mit entsprechenden Informationen und Begleitungsangeboten das aufzufangen."
Nicht nur die Hochschulen, auch Schulen und Ausbildungsbetriebe bestätigen diese Entwicklung: Durch die flächendeckende Verjüngung des Bildungssystems verändert sich die Klientel. Der Kölner Jura-Professor Bernhard Kempen, gleichzeitig auch Präsident des Deutschen Hochschulverbands, diskutiert mit seinen Kollegen in der letzten Zeit immer öfter über die Frage, wie man mit den jünger werdenden Studenten umgehen solle.
"Ich kann aus eigener Beobachtung sagen: Es gibt diese Studierenden, die so um die 18 sind, und meistens sind das Menschen, die ganz besonders interessiert und enthusiastisch in die Universität kommen, die erleben dann da bedauerlicherweise die Schrecken der Massenuniversität. Aber der Enthusiasmus ist ungebrochen. Die Persönlichkeitsentwicklung ist allerdings noch nicht so weit wie bei unseren Mittzwanzigern, die wir natürlich auch in großer Zahl an der Universität haben. Und es ist eine Aufgabe für uns und eine echte Herausforderung, auf diese sehr unterschiedlichen Persönlichkeitsprofile dann zu reagieren und uns darauf einzustellen. Aber ich füge gleich hinzu - es macht auch Spaß mit den jungen Leuten."
Manchmal aber lässt der Spaß etwas nach - wenn sich nämlich die Eltern allzu sehr in den Hochschulalltag einmischen. Genervt, sagt Bernhard Kempen, sei er von Studenteneltern bisher noch nicht gewesen.
"Obwohl es auch das manchmal gibt, dass Studierende mit ihrem Vater oder Eltern oder Mutter auftreten, wenn es darum geht, mit dem Professor zu reden. Aber ich füge gleich hinzu, ich komplimentiere dann die Eltern sehr höflich raus mit dem Bemerken, dass ihr Filius oder ihre Tochter doch alt genug ist, um mit dem Professor unter vier Augen zu sprechen."
Eine schwierige Situation. Und auch in den Seminaren, so der Jura-Professor, werde das professorale Selbstverständnis neuerdings ganz anders auf die Probe gestellt.
"Bisher war meine Rede immer, dass wir die Studierenden, die vor uns stehen, eigentlich nicht zu betreuen und auch nicht zu erziehen haben, sondern das sind Erwachsene, die ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand nehmen, die uns auf Augenhöhe begegnen, deren Partner wir sein wollen. Aber wenn es jetzt 17-Jährige sind, die vor uns stehen, dann lässt sich dieses Dogma so nicht aufrecht erhalten, sondern da müssen wir ein bisschen uns umstellen und auch eingestehen, dass wir ein Stück Erziehungsauftrag wahrzunehmen haben."
Fast klingt es so, als müssten sich die Hochschulen ein wenig in Richtung Schule verändern. Und dann ist es gar nicht mehr weit bis zu der Überlegung, dass man bei minderjährigen Studenten ja die Eltern über die Studienleistungen ihrer Sprösslinge informieren muss. Möglicherweise sogar mit Elternabenden und Unterschrift unter dem Ergebnisbogen jeder Klausur? Der Kölner Uni-Sprecher Patrick Honecker schüttelt den Kopf.
"Das ist nicht nötig. In der Regel ist es ja so, dass die Noten recht transparent abgebildet werden für die Studierenden, die dann aber - wie in der Schule auch - die Unterlagen natürlich an ihre Eltern weiterreichen können, aber nicht müssen. Wir reden auch über sehr kleine Slots: Meistens sind die hier Mitte 17, das heißt, die werden dann im ersten Semester in der Regel 18, manchmal im zweiten Semester 18. Das heißt, das sind relativ wenige Noten, die dann in den ersten Semestern abgelegt werden. Und die werden ganz normal den Studierenden mitgeteilt."
Etwas anderes aber, sagt Patrick Honecker, habe sich durch die jünger werdenden Studenten schon jetzt verändert: Die kommen nämlich oft mit einem völlig neuen Selbstverständnis in die Hochschule. Und verlangen von den Dozenten ganz andere Umgangsweisen, als das bisher üblich war.
"Das stellt auch unserer Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer vor echte Herausforderungen. Dass man sich überlegen muss zum Beispiel: Lasse ich mich abfilmen für Veranstaltungen? Bin ich in der Lage, abends noch online Dinge zu beantworten? Tutorien vielleicht auch vorzubereiten? Die Nachfrage ist da, das ist klar. Diese ganze Generation ist sozialisiert mit diesen Medien. Die will auch auf diese Art und Weise sich vernetzen. Und die haben natürlich auch wieder eine andere Vorstellung von Partizipation. Diese Medien haben ja auch den großen Vorteil, dass man sich austauscht. Es gibt eben nicht mehr diese ex cathedra Information, sondern es gibt wirklich den Austausch zwischen verschiedenen Bereichen, und das ist 'ne Herausforderung für alle Bereiche, sowohl der Lehrenden als für die Administration als auch für die Studierenden selber."
Doch was an den Hochschulen erst langsam als neue Herausforderung sichtbar wird, hat anderswo längst begonnen. Die Verjüngung des Bildungssystem fängt viel früher an: in der Grundschule. Bundesweit, so haben es die Kultusminister verabredet, wird die Einschulung in den kommenden Jahren vorgezogen. Mit fünf in die Grundschule, mit neun auf die weiterführende Schule - das ist das Ziel.
Jan-Philipp aus der Nähe von Leverkusen kam zwar erst mit sechs Jahren in die erste Klasse, schnell war er aber trotzdem: Wegen seiner guten Leistungen konnte er die dritte Klasse überspringen. Und damit war er nicht der einzige in der Grundschule.
"Da waren auch noch der Simon und der Jan, aber die haben halt die Erste übersprungen, weil die hatten halt - ich glaub', die haben früher lesen gelernt, und schreiben konnten die schon, als die in die Schule kamen. Und dadurch hatten die schon einen Vorsprung und haben sich, glaub' ich, gelangweilt oder so und haben dann direkt die zweite Klasse gemacht. Und nicht wie ich, erst die erste und zweite und dann die dritte übersprungen."
Auf dem Gymnasium gehörte Jan-Philipp dann zu den Allerjüngsten. Und weil er hochbegabt ist, besuchte er sogar in einzelnen Fächern noch höhere Klassen. Richtig umgehen konnten damit aber weder die Lehrer noch die Mitschüler.
"Wenn ich mich gemeldet hab', dann haben die - oh, guck mal, der meldet sich, und dann haben die so getan, als wenn das was total Außergewöhnliches war. Das war dann auch ein bisschen komisch, weil die dann halt nicht so getan haben, als wenn das so normal wäre. Sondern: Ach, der ist ja jünger, oder so."
Egal, ob es an einer Hochbegabung liegt, am früheren Einschulungstermin oder an der Möglichkeit, die Grundschulzeit einfach nur wegen guter Leistungen auf drei Jahre zu verkürzen: Wenn Neun- oder Zehnjährige auf den weiterführenden Schulen landen, ist das nur ein erster Schritt auf dem Weg zum immer jüngeren Bildungsabsolventen.
Peter Silbernagel vom Deutschen Philologenverband beobachtet diese Veränderungen mit deutlicher Skepsis.
"Diese Entwicklung zu immer früheren Abschlüssen, Zertifikaten und Ergebnissen von Bildungslaufbahnen ist nicht unproblematisch. Wir haben hier einen Trend, wo sehr viele Dinge zusammenkommen. Man hat diese einzelnen Elemente nicht im Zusammenhang gesehen und man muss nun feststellen: Die Kinder werden früher eingeschult, sie haben die Möglichkeit, in der Grundschule ein Jahr zu verkürzen, sie kommen in G8, in die Schulzeitverkürzung speziell des Gymnasiums hinein. Der Wehr- und Ersatzdienst, der obligatorische, fällt weg und man kommt ins Studium hinein und auch da ein sehr verschulender Aspekt - all das führt dazu, dass die Menschen früher zu bestimmten Abschlüssen kommen und gegebenenfalls die menschliche Reife, Verstehens- und Verständnismöglichkeiten nicht hinreichend nachkommen."
17-jährige Abiturienten oder 20-jährige Hochschulabsolventen mit Bachelorabschluss sind in Zukunft keine Besonderheit mehr. Rein strukturell, sagt Peter Silbernagel, sei das ja alles machbar. Problematisch werde es aber, wenn bei all diesen Reformen zur Verkürzung der Bildungswege vor allem auf die äußeren Rahmenbedingungen geachtet werde.
"Es fehlt mit Sicherheit der Blick auf die Inhalte. Es ist ja nicht so, dass man zu allen Zeiten des Lebens für alle Problembereiche ein vergleichbares Verständnis hat. Wenn man also im Fach Deutsch beispielsweise eine bestimmte Lektüre mit einem bestimmten Inhalt thematisieren will, dann kann es durchaus sein - das klagen auch viele Kolleginnen und Kollegen - dass sie bestimmte Dinge eben nicht ansprechen können, weil die Menschen, die Jugendlichen einfach zu jung sind."
Für Gregor Berghausen, Geschäftsführer für Aus- und Weiterbildung bei der Industrie- und Handelskammer Köln, gehen die Reformen dagegen grundsätzlich in die richtige Richtung.
"Der Grund für die Verjüngung war ja eindeutig, zu sagen: Wir wollen eine Wettbewerbsvergleichbarkeit mit anderen Bildungssystemen in Europa haben. Also, das heißt, die Tendenz, dass deutsche Absolventen der Hochschulen, allerdings auch der beruflichen Bildung tendenziell gegenüber anderen in Europa deutlich zu alt sind, ist eine Entwicklung, der man wirklich entgegensteuern musste. Und insofern sind grundsätzlich diese Aspekte positiv zu bewerten."
Eine gute Idee also, sagt der Bildungsexperte - doch die Ergebnisse lassen aus Sicht der Wirtschaft noch zu wünschen übrig.
"Der gegenteilige Trend ist jetzt natürlich der, dass wir eigentlich feststellen: Trotz Verjüngung oder trotz einer Tendenz, früher einzuschulen, ist es so, dass unsere Auszubildenden zum Beispiel trotzdem immer noch weiter älter sind. Und das hat ganz unterschiedliche Ursachen."
Einen der wesentlichen Gründe, warum die Verkürzung der Bildungswege nicht zu jüngeren Auszubildenden führt, sieht Gregor Berghausen in mangelnden oder ganz fehlenden Angeboten zur Berufsorientierung.
"Im Bereich der Berufsbildung ist die Schule derzeit nicht in der Lage, ihren Erziehungsauftrag an der Stelle - nämlich Berufsorientierung - so nachzukommen, dass die jungen Leute dann, wenn sie nach zum Beispiel zwölf Jahren aus der Schule rauskommen, wenigstens wissen, wohin sie wollen. Das heißt also, dann vertun, wenn man so will, in der nachfolgenden Zeit junge Leute in dem Orientierungsprozess zusätzliche Zeit. Und das, was man gewonnen hat, verlieren sie dann im Prinzip nach ihrem Schulabschluss und gehen dann doch wieder zu spät in die Ausbildung oder ins Studium und kommen dann wieder später raus."
Gregor Berghausens Schlussfolgerung: Wenn Schule bessere Berufsorientierung anbieten würde, gäbe es viele der aktuellen Probleme nicht. Eine Position, der Peter Silbernagel vom Philologenverband vehement widerspricht.
"Es kann nicht das Ziel sein, Jugendliche und junge Erwachsene möglichst früh zu Abschlüssen zu bringen, gegebenenfalls auch unter wirtschaftsökonomischen Gesichtspunkten - gleichermaßen muss man bedenken: Bildung braucht Zeit."
Im Übrigen, sagt Peter Silbernagel, könne man nicht auf der einen Seite die Schulzeit verkürzen, den Lehrern aber im Gegenzug immer neue und zusätzliche Aufgaben zuschustern. Nicht erst durch G8, also die achtjährige Gymnasialzeit, seien die begrenzten Kapazitäten von Schule deutlich geworden.
"Also, der Trend, immer mehr auf Schulen abzuladen, immer mehr Erwartungen an Schulen zu stellen, ist sicherlich nichts Vernünftiges. Bei allem Verständnis dafür, dass die Wirtschaft sagt: Wir möchten gerne, dass man sich auch rechtzeitig über Berufsbilder informiert, gerade jetzt auch mit Blick auf leergelaufene Lehrstellen und mit Blick darauf, dass ein Studium erfordert, dass man sich über das Fach rechtzeitig Kenntnisse besorgt - man muss schauen, was Schule leisten kann. Und wenn man eben mehr von Schule erwartet, muss man auch Zeitressourcen mehr zur Verfügung stellen."
Doch IHK-Bildungsexperte Gregor Berghausen sieht noch ganz andere Schwierigkeiten, die von Seiten der Bildungspolitik bisher nicht gelöst wurden. Jede Einrichtung denke letztlich nur für sich, die gesamte Bildungskarriere mit ihren zahlreichen Übergangsphasen habe dagegen kaum jemand im Blick.
"Wir haben, glaube ich, zwei ganz große Probleme, die wir sowohl auf der einen Seite bei G8 sehen, andererseits aber auch im Bereich der Berufsorientierung sehen. Wir haben mit der Entscheidung, wir verändern die Struktur dahin gehend, dass die Schülerinnen und Schüler früher aus dem System rauskommen, nicht eine grundsätzliche Reform der Inhalte und der Strukturen, in denen Schule stattfindet, gleichzeitig umgesetzt. Und das führt dazu, dass G8 nichts anderes heißt als das Verdichten der Inhalte, die man vorher in neun Jahren gemacht hat. Und das heißt im Bereich der Berufsorientierung in Richtung Ausbildung, dass der Erziehungsauftrag, den Schule ja nun mal hat, an dieser Stelle nicht wahrgenommen wird, um die jungen Leute tatsächlich während ihrer Schullaufbahn darauf vorzubereiten, dass nach dem Abschluss ein Anschluss folgen muss, nämlich in ein anderes Bildungssystem, ein weiterführendes Bildungssystem - entweder das berufliche oder das hochschulische oder ein schulisches weiteres Bildungssystem."
Weil diese Vorbereitung fehle, hätten Schülerinnen und Schüler nach der neunten oder zehnten Klasse auch kaum eine andere Chance, als sich gewissermaßen eigenmächtig eine berufliche Orientierungsphase zu gönnen, so Gregor Berghausen. In der Regel werde dann nämlich vor der Lehre noch ein Berufskolleg besucht - und schon ist der Altersvorteil der jüngeren Bewerber wieder aufgezehrt. Berghausens Forderung ist deshalb eindeutig: Berufsorientierung gehört in die Schule, spätestens in Klasse acht müsse der weitere Berufs- und Ausbildungsweg umfassend thematisiert werden.
"Diese Aufgabe leistet im Moment Schule nicht, weil es auch nicht als ihre Aufgabe definiert worden ist. Und insofern muss man jetzt zwei Sachen machen, das liegt, glaube ich, auch auf der Hand: Wir müssen ran an die Lehrpläne, wir müssen schauen: Ist da nicht unter Umständen zu viel drin? Und der zweite Punkt ist: Wir müssen ein ganz klares, strukturiertes Orientierungssystem für junge Leute haben, und zwar verbindlich in allen Schulformen, im Übrigen auch dem Gymnasium, ab Klasse acht: Die Aufgabenstellung, sich anzuschauen, wie können wir junge Leute so fit machen, dass sie zum Schluss in der Lage sind, eigenverantwortlich eine Berufsentscheidung zu treffen."
Eine Forderung also, die sich nicht nur an Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch an die Bildungspolitiker in den Ländern richtet. Doch an deren Weitblick, sagt Lehrervertreter Peter Silbernagel, habe er manchmal schon seine Zweifel. Schließlich würden die Schulen Jahr für Jahr mit einer Reform nach der anderen konfrontiert - manches sei sinnvoll, anderes unsinnig.
"Insofern überrascht dann manche Entwicklung auch die Kolleginnen und Kollegen. Ich kann nicht ausschließen, dass sie gerade auch mit diesem Verjüngungstrend ein wenig kalt erwischt wurden. Weil eben sehr viel und sehr schnell passierte und sich weder die Curricula, die Lehrpläne daraufhin sich ausrichteten noch sie in ihrer Fortbildung entsprechende Angebote überhaupt eröffnet bekamen."
Doch auch Peter Silbernagel bestätigt die Beobachtung von Gregor Berghausen, dass sich Schülerinnen und Schüler die Zeit zur Orientierung selber nehmen, wenn die Schule diesen Rahmen nicht bieten kann.
"Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass man häufiger erfährt, dass Jugendliche sich diesem Trend zur Beschleunigung selbst entziehen. Dass sie also nach dem Abitur für ein Jahr entweder in den Bereich der sozialen Dienste gehen, also ein soziales Jahr machen, oder beispielsweise ins Ausland gehen. Also, sie spüren von sich aus, dass es Sinn macht, sich diesem Beschleunigungstrend zu widersetzen - ich will nicht sagen: ein Trend hin zur Langsamkeit. Aber sie setzen bewusst ein Signal gegen diese Beschleunigung."
Für den IHK-Bildungsexperten Gregor Berghausen klingt das nicht unbedingt nach einem Gewinn. Ihm geht es sehr wohl um's Tempo - und um den Blickwinkel.
"Wir sind an dieser Stelle auf einem Weg, aber das, was dort geschehen muss, geschieht einfach viel zu langsam. Da ist im Wesentlichen die Frage der Geschwindigkeit, das ist das eine Thema. Und das zweite Thema ist: Wir haben, glaube ich, uns über die Grundmaximen in der Vergangenheit, in denen wir Bildungssystem denken wollen, nicht unterhalten. Also, das heißt, wir haben derzeit eine Logik innerhalb der deutschen Bildungsabschlüsse, die ausschließlich auf Hochschulabschlüsse ausgerichtet ist - und die vollständig ignoriert, dass der größte Teil der Beschäftigten in Deutschland überhaupt keinen Hochschulabschluss hat!"
Eine Einschätzung, die Lehrervertreter Peter Silbernagel nur bedingt teilt - im Hinblick auf die Grundmaximen des Bildungssystems nämlich, über die man tatsächlich noch einmal nachdenken müsse. Verjüngung alleine jedenfalls sei kein positives Reformziel.
"Leider sind die vielen Maßnahmen sehr isoliert voneinander vollzogen worden, so dass im Endeffekt ein Trend Schneller-Höher-Früher einfach hier auch nicht positiv letztlich endet."
Was immer noch fehlt, ist also die breite inhaltliche Debatte darüber, was die Institutionen des Bildungssystems eigentlich vermitteln sollen und wie sie die Persönlichkeit der Schüler entwickeln können - ganz unabhängig von Abschlussalter, Elternmitwirkung und Schulzeitverkürzung. Die pädagogische Debatte muss neu geführt werden. Die morgen beginnende Bildungsmesse DIDACTA wäre dafür ein guter Anlass.
Rund 30 Studenten unter 18 Jahren gibt es aktuell an der Kölner Uni - bei knapp 38.000 Nachwuchsakademikern insgesamt. Doch die Zahl wird sich, spätestens mit dem doppelten Abiturjahrgang im kommenden Jahr in Nordrhein-Westfalen, mit Sicherheit erhöhen. Mit der Folge, dass die Hochschulen immer öfter auch mit den Eltern ihrer Studenten zu tun haben, sagt Uni-Sprecher Patrick Honecker.
"Erstmal bei der Einschreibung sind die Eltern beteiligt, das heißt: Die Studierenden, die hier einen Studienplatz bekommen wollen, müssen auch eine Unterschrift dementsprechend ablegen. Und das wird dann von den Eltern geleistet in der Situation, dass man eben sagt: Mein Kind darf jetzt studieren hier an der Universität. Die sind natürlich auch dabei, wenn es darum geht, irgendwelche anderen Verträge zum Beispiel mit dem Studentenwerk oder mit anderen Anbietern auf dem Campus abzuschließen. Da müssen die beteiligt werden, weil die als Vertragspartner noch nicht volljährig sind und dementsprechend auch noch nicht unterschriftsberechtigt."
Ohnehin, so Patrick Honecker, gebe es in den letzten Jahren einen deutlichen Trend: Immer mehr Väter und Mütter wollen ganz genau wissen, wie das denn nun geht mit dem Studium.
"Wir haben zum Beispiel vor eineinhalb Wochen eine große Veranstaltung hier an der Universität zu Köln gehabt, wo ganz, ganz viele Eltern hierher kamen, um sich zu informieren über das Thema Doppelabitur. Es war so, dass die Elternvertretung der Stadt Köln gesagt hat, wir machen uns Sorgen. Viele Eltern sind sehr, sehr unsicher, wie das jetzt laufen wird in Zukunft, weil es so viele potenzielle Studierende gibt, die Plätze an den Hochschulen suchen, auch regional suchen. Und wir hatten die gesamte Aula voll mit Eltern, die gefragt haben: Wie gehen wir künftig damit um? Die Schulzeit ist extrem verkürzt worden, das Studium ist verkürzt - wir wissen eigentlich viel zu wenig, weil wir das selber so nicht erlebt haben. Kann man uns da helfen? Wir versuchen natürlich, mit entsprechenden Informationen und Begleitungsangeboten das aufzufangen."
Nicht nur die Hochschulen, auch Schulen und Ausbildungsbetriebe bestätigen diese Entwicklung: Durch die flächendeckende Verjüngung des Bildungssystems verändert sich die Klientel. Der Kölner Jura-Professor Bernhard Kempen, gleichzeitig auch Präsident des Deutschen Hochschulverbands, diskutiert mit seinen Kollegen in der letzten Zeit immer öfter über die Frage, wie man mit den jünger werdenden Studenten umgehen solle.
"Ich kann aus eigener Beobachtung sagen: Es gibt diese Studierenden, die so um die 18 sind, und meistens sind das Menschen, die ganz besonders interessiert und enthusiastisch in die Universität kommen, die erleben dann da bedauerlicherweise die Schrecken der Massenuniversität. Aber der Enthusiasmus ist ungebrochen. Die Persönlichkeitsentwicklung ist allerdings noch nicht so weit wie bei unseren Mittzwanzigern, die wir natürlich auch in großer Zahl an der Universität haben. Und es ist eine Aufgabe für uns und eine echte Herausforderung, auf diese sehr unterschiedlichen Persönlichkeitsprofile dann zu reagieren und uns darauf einzustellen. Aber ich füge gleich hinzu - es macht auch Spaß mit den jungen Leuten."
Manchmal aber lässt der Spaß etwas nach - wenn sich nämlich die Eltern allzu sehr in den Hochschulalltag einmischen. Genervt, sagt Bernhard Kempen, sei er von Studenteneltern bisher noch nicht gewesen.
"Obwohl es auch das manchmal gibt, dass Studierende mit ihrem Vater oder Eltern oder Mutter auftreten, wenn es darum geht, mit dem Professor zu reden. Aber ich füge gleich hinzu, ich komplimentiere dann die Eltern sehr höflich raus mit dem Bemerken, dass ihr Filius oder ihre Tochter doch alt genug ist, um mit dem Professor unter vier Augen zu sprechen."
Eine schwierige Situation. Und auch in den Seminaren, so der Jura-Professor, werde das professorale Selbstverständnis neuerdings ganz anders auf die Probe gestellt.
"Bisher war meine Rede immer, dass wir die Studierenden, die vor uns stehen, eigentlich nicht zu betreuen und auch nicht zu erziehen haben, sondern das sind Erwachsene, die ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand nehmen, die uns auf Augenhöhe begegnen, deren Partner wir sein wollen. Aber wenn es jetzt 17-Jährige sind, die vor uns stehen, dann lässt sich dieses Dogma so nicht aufrecht erhalten, sondern da müssen wir ein bisschen uns umstellen und auch eingestehen, dass wir ein Stück Erziehungsauftrag wahrzunehmen haben."
Fast klingt es so, als müssten sich die Hochschulen ein wenig in Richtung Schule verändern. Und dann ist es gar nicht mehr weit bis zu der Überlegung, dass man bei minderjährigen Studenten ja die Eltern über die Studienleistungen ihrer Sprösslinge informieren muss. Möglicherweise sogar mit Elternabenden und Unterschrift unter dem Ergebnisbogen jeder Klausur? Der Kölner Uni-Sprecher Patrick Honecker schüttelt den Kopf.
"Das ist nicht nötig. In der Regel ist es ja so, dass die Noten recht transparent abgebildet werden für die Studierenden, die dann aber - wie in der Schule auch - die Unterlagen natürlich an ihre Eltern weiterreichen können, aber nicht müssen. Wir reden auch über sehr kleine Slots: Meistens sind die hier Mitte 17, das heißt, die werden dann im ersten Semester in der Regel 18, manchmal im zweiten Semester 18. Das heißt, das sind relativ wenige Noten, die dann in den ersten Semestern abgelegt werden. Und die werden ganz normal den Studierenden mitgeteilt."
Etwas anderes aber, sagt Patrick Honecker, habe sich durch die jünger werdenden Studenten schon jetzt verändert: Die kommen nämlich oft mit einem völlig neuen Selbstverständnis in die Hochschule. Und verlangen von den Dozenten ganz andere Umgangsweisen, als das bisher üblich war.
"Das stellt auch unserer Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer vor echte Herausforderungen. Dass man sich überlegen muss zum Beispiel: Lasse ich mich abfilmen für Veranstaltungen? Bin ich in der Lage, abends noch online Dinge zu beantworten? Tutorien vielleicht auch vorzubereiten? Die Nachfrage ist da, das ist klar. Diese ganze Generation ist sozialisiert mit diesen Medien. Die will auch auf diese Art und Weise sich vernetzen. Und die haben natürlich auch wieder eine andere Vorstellung von Partizipation. Diese Medien haben ja auch den großen Vorteil, dass man sich austauscht. Es gibt eben nicht mehr diese ex cathedra Information, sondern es gibt wirklich den Austausch zwischen verschiedenen Bereichen, und das ist 'ne Herausforderung für alle Bereiche, sowohl der Lehrenden als für die Administration als auch für die Studierenden selber."
Doch was an den Hochschulen erst langsam als neue Herausforderung sichtbar wird, hat anderswo längst begonnen. Die Verjüngung des Bildungssystem fängt viel früher an: in der Grundschule. Bundesweit, so haben es die Kultusminister verabredet, wird die Einschulung in den kommenden Jahren vorgezogen. Mit fünf in die Grundschule, mit neun auf die weiterführende Schule - das ist das Ziel.
Jan-Philipp aus der Nähe von Leverkusen kam zwar erst mit sechs Jahren in die erste Klasse, schnell war er aber trotzdem: Wegen seiner guten Leistungen konnte er die dritte Klasse überspringen. Und damit war er nicht der einzige in der Grundschule.
"Da waren auch noch der Simon und der Jan, aber die haben halt die Erste übersprungen, weil die hatten halt - ich glaub', die haben früher lesen gelernt, und schreiben konnten die schon, als die in die Schule kamen. Und dadurch hatten die schon einen Vorsprung und haben sich, glaub' ich, gelangweilt oder so und haben dann direkt die zweite Klasse gemacht. Und nicht wie ich, erst die erste und zweite und dann die dritte übersprungen."
Auf dem Gymnasium gehörte Jan-Philipp dann zu den Allerjüngsten. Und weil er hochbegabt ist, besuchte er sogar in einzelnen Fächern noch höhere Klassen. Richtig umgehen konnten damit aber weder die Lehrer noch die Mitschüler.
"Wenn ich mich gemeldet hab', dann haben die - oh, guck mal, der meldet sich, und dann haben die so getan, als wenn das was total Außergewöhnliches war. Das war dann auch ein bisschen komisch, weil die dann halt nicht so getan haben, als wenn das so normal wäre. Sondern: Ach, der ist ja jünger, oder so."
Egal, ob es an einer Hochbegabung liegt, am früheren Einschulungstermin oder an der Möglichkeit, die Grundschulzeit einfach nur wegen guter Leistungen auf drei Jahre zu verkürzen: Wenn Neun- oder Zehnjährige auf den weiterführenden Schulen landen, ist das nur ein erster Schritt auf dem Weg zum immer jüngeren Bildungsabsolventen.
Peter Silbernagel vom Deutschen Philologenverband beobachtet diese Veränderungen mit deutlicher Skepsis.
"Diese Entwicklung zu immer früheren Abschlüssen, Zertifikaten und Ergebnissen von Bildungslaufbahnen ist nicht unproblematisch. Wir haben hier einen Trend, wo sehr viele Dinge zusammenkommen. Man hat diese einzelnen Elemente nicht im Zusammenhang gesehen und man muss nun feststellen: Die Kinder werden früher eingeschult, sie haben die Möglichkeit, in der Grundschule ein Jahr zu verkürzen, sie kommen in G8, in die Schulzeitverkürzung speziell des Gymnasiums hinein. Der Wehr- und Ersatzdienst, der obligatorische, fällt weg und man kommt ins Studium hinein und auch da ein sehr verschulender Aspekt - all das führt dazu, dass die Menschen früher zu bestimmten Abschlüssen kommen und gegebenenfalls die menschliche Reife, Verstehens- und Verständnismöglichkeiten nicht hinreichend nachkommen."
17-jährige Abiturienten oder 20-jährige Hochschulabsolventen mit Bachelorabschluss sind in Zukunft keine Besonderheit mehr. Rein strukturell, sagt Peter Silbernagel, sei das ja alles machbar. Problematisch werde es aber, wenn bei all diesen Reformen zur Verkürzung der Bildungswege vor allem auf die äußeren Rahmenbedingungen geachtet werde.
"Es fehlt mit Sicherheit der Blick auf die Inhalte. Es ist ja nicht so, dass man zu allen Zeiten des Lebens für alle Problembereiche ein vergleichbares Verständnis hat. Wenn man also im Fach Deutsch beispielsweise eine bestimmte Lektüre mit einem bestimmten Inhalt thematisieren will, dann kann es durchaus sein - das klagen auch viele Kolleginnen und Kollegen - dass sie bestimmte Dinge eben nicht ansprechen können, weil die Menschen, die Jugendlichen einfach zu jung sind."
Für Gregor Berghausen, Geschäftsführer für Aus- und Weiterbildung bei der Industrie- und Handelskammer Köln, gehen die Reformen dagegen grundsätzlich in die richtige Richtung.
"Der Grund für die Verjüngung war ja eindeutig, zu sagen: Wir wollen eine Wettbewerbsvergleichbarkeit mit anderen Bildungssystemen in Europa haben. Also, das heißt, die Tendenz, dass deutsche Absolventen der Hochschulen, allerdings auch der beruflichen Bildung tendenziell gegenüber anderen in Europa deutlich zu alt sind, ist eine Entwicklung, der man wirklich entgegensteuern musste. Und insofern sind grundsätzlich diese Aspekte positiv zu bewerten."
Eine gute Idee also, sagt der Bildungsexperte - doch die Ergebnisse lassen aus Sicht der Wirtschaft noch zu wünschen übrig.
"Der gegenteilige Trend ist jetzt natürlich der, dass wir eigentlich feststellen: Trotz Verjüngung oder trotz einer Tendenz, früher einzuschulen, ist es so, dass unsere Auszubildenden zum Beispiel trotzdem immer noch weiter älter sind. Und das hat ganz unterschiedliche Ursachen."
Einen der wesentlichen Gründe, warum die Verkürzung der Bildungswege nicht zu jüngeren Auszubildenden führt, sieht Gregor Berghausen in mangelnden oder ganz fehlenden Angeboten zur Berufsorientierung.
"Im Bereich der Berufsbildung ist die Schule derzeit nicht in der Lage, ihren Erziehungsauftrag an der Stelle - nämlich Berufsorientierung - so nachzukommen, dass die jungen Leute dann, wenn sie nach zum Beispiel zwölf Jahren aus der Schule rauskommen, wenigstens wissen, wohin sie wollen. Das heißt also, dann vertun, wenn man so will, in der nachfolgenden Zeit junge Leute in dem Orientierungsprozess zusätzliche Zeit. Und das, was man gewonnen hat, verlieren sie dann im Prinzip nach ihrem Schulabschluss und gehen dann doch wieder zu spät in die Ausbildung oder ins Studium und kommen dann wieder später raus."
Gregor Berghausens Schlussfolgerung: Wenn Schule bessere Berufsorientierung anbieten würde, gäbe es viele der aktuellen Probleme nicht. Eine Position, der Peter Silbernagel vom Philologenverband vehement widerspricht.
"Es kann nicht das Ziel sein, Jugendliche und junge Erwachsene möglichst früh zu Abschlüssen zu bringen, gegebenenfalls auch unter wirtschaftsökonomischen Gesichtspunkten - gleichermaßen muss man bedenken: Bildung braucht Zeit."
Im Übrigen, sagt Peter Silbernagel, könne man nicht auf der einen Seite die Schulzeit verkürzen, den Lehrern aber im Gegenzug immer neue und zusätzliche Aufgaben zuschustern. Nicht erst durch G8, also die achtjährige Gymnasialzeit, seien die begrenzten Kapazitäten von Schule deutlich geworden.
"Also, der Trend, immer mehr auf Schulen abzuladen, immer mehr Erwartungen an Schulen zu stellen, ist sicherlich nichts Vernünftiges. Bei allem Verständnis dafür, dass die Wirtschaft sagt: Wir möchten gerne, dass man sich auch rechtzeitig über Berufsbilder informiert, gerade jetzt auch mit Blick auf leergelaufene Lehrstellen und mit Blick darauf, dass ein Studium erfordert, dass man sich über das Fach rechtzeitig Kenntnisse besorgt - man muss schauen, was Schule leisten kann. Und wenn man eben mehr von Schule erwartet, muss man auch Zeitressourcen mehr zur Verfügung stellen."
Doch IHK-Bildungsexperte Gregor Berghausen sieht noch ganz andere Schwierigkeiten, die von Seiten der Bildungspolitik bisher nicht gelöst wurden. Jede Einrichtung denke letztlich nur für sich, die gesamte Bildungskarriere mit ihren zahlreichen Übergangsphasen habe dagegen kaum jemand im Blick.
"Wir haben, glaube ich, zwei ganz große Probleme, die wir sowohl auf der einen Seite bei G8 sehen, andererseits aber auch im Bereich der Berufsorientierung sehen. Wir haben mit der Entscheidung, wir verändern die Struktur dahin gehend, dass die Schülerinnen und Schüler früher aus dem System rauskommen, nicht eine grundsätzliche Reform der Inhalte und der Strukturen, in denen Schule stattfindet, gleichzeitig umgesetzt. Und das führt dazu, dass G8 nichts anderes heißt als das Verdichten der Inhalte, die man vorher in neun Jahren gemacht hat. Und das heißt im Bereich der Berufsorientierung in Richtung Ausbildung, dass der Erziehungsauftrag, den Schule ja nun mal hat, an dieser Stelle nicht wahrgenommen wird, um die jungen Leute tatsächlich während ihrer Schullaufbahn darauf vorzubereiten, dass nach dem Abschluss ein Anschluss folgen muss, nämlich in ein anderes Bildungssystem, ein weiterführendes Bildungssystem - entweder das berufliche oder das hochschulische oder ein schulisches weiteres Bildungssystem."
Weil diese Vorbereitung fehle, hätten Schülerinnen und Schüler nach der neunten oder zehnten Klasse auch kaum eine andere Chance, als sich gewissermaßen eigenmächtig eine berufliche Orientierungsphase zu gönnen, so Gregor Berghausen. In der Regel werde dann nämlich vor der Lehre noch ein Berufskolleg besucht - und schon ist der Altersvorteil der jüngeren Bewerber wieder aufgezehrt. Berghausens Forderung ist deshalb eindeutig: Berufsorientierung gehört in die Schule, spätestens in Klasse acht müsse der weitere Berufs- und Ausbildungsweg umfassend thematisiert werden.
"Diese Aufgabe leistet im Moment Schule nicht, weil es auch nicht als ihre Aufgabe definiert worden ist. Und insofern muss man jetzt zwei Sachen machen, das liegt, glaube ich, auch auf der Hand: Wir müssen ran an die Lehrpläne, wir müssen schauen: Ist da nicht unter Umständen zu viel drin? Und der zweite Punkt ist: Wir müssen ein ganz klares, strukturiertes Orientierungssystem für junge Leute haben, und zwar verbindlich in allen Schulformen, im Übrigen auch dem Gymnasium, ab Klasse acht: Die Aufgabenstellung, sich anzuschauen, wie können wir junge Leute so fit machen, dass sie zum Schluss in der Lage sind, eigenverantwortlich eine Berufsentscheidung zu treffen."
Eine Forderung also, die sich nicht nur an Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch an die Bildungspolitiker in den Ländern richtet. Doch an deren Weitblick, sagt Lehrervertreter Peter Silbernagel, habe er manchmal schon seine Zweifel. Schließlich würden die Schulen Jahr für Jahr mit einer Reform nach der anderen konfrontiert - manches sei sinnvoll, anderes unsinnig.
"Insofern überrascht dann manche Entwicklung auch die Kolleginnen und Kollegen. Ich kann nicht ausschließen, dass sie gerade auch mit diesem Verjüngungstrend ein wenig kalt erwischt wurden. Weil eben sehr viel und sehr schnell passierte und sich weder die Curricula, die Lehrpläne daraufhin sich ausrichteten noch sie in ihrer Fortbildung entsprechende Angebote überhaupt eröffnet bekamen."
Doch auch Peter Silbernagel bestätigt die Beobachtung von Gregor Berghausen, dass sich Schülerinnen und Schüler die Zeit zur Orientierung selber nehmen, wenn die Schule diesen Rahmen nicht bieten kann.
"Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass man häufiger erfährt, dass Jugendliche sich diesem Trend zur Beschleunigung selbst entziehen. Dass sie also nach dem Abitur für ein Jahr entweder in den Bereich der sozialen Dienste gehen, also ein soziales Jahr machen, oder beispielsweise ins Ausland gehen. Also, sie spüren von sich aus, dass es Sinn macht, sich diesem Beschleunigungstrend zu widersetzen - ich will nicht sagen: ein Trend hin zur Langsamkeit. Aber sie setzen bewusst ein Signal gegen diese Beschleunigung."
Für den IHK-Bildungsexperten Gregor Berghausen klingt das nicht unbedingt nach einem Gewinn. Ihm geht es sehr wohl um's Tempo - und um den Blickwinkel.
"Wir sind an dieser Stelle auf einem Weg, aber das, was dort geschehen muss, geschieht einfach viel zu langsam. Da ist im Wesentlichen die Frage der Geschwindigkeit, das ist das eine Thema. Und das zweite Thema ist: Wir haben, glaube ich, uns über die Grundmaximen in der Vergangenheit, in denen wir Bildungssystem denken wollen, nicht unterhalten. Also, das heißt, wir haben derzeit eine Logik innerhalb der deutschen Bildungsabschlüsse, die ausschließlich auf Hochschulabschlüsse ausgerichtet ist - und die vollständig ignoriert, dass der größte Teil der Beschäftigten in Deutschland überhaupt keinen Hochschulabschluss hat!"
Eine Einschätzung, die Lehrervertreter Peter Silbernagel nur bedingt teilt - im Hinblick auf die Grundmaximen des Bildungssystems nämlich, über die man tatsächlich noch einmal nachdenken müsse. Verjüngung alleine jedenfalls sei kein positives Reformziel.
"Leider sind die vielen Maßnahmen sehr isoliert voneinander vollzogen worden, so dass im Endeffekt ein Trend Schneller-Höher-Früher einfach hier auch nicht positiv letztlich endet."
Was immer noch fehlt, ist also die breite inhaltliche Debatte darüber, was die Institutionen des Bildungssystems eigentlich vermitteln sollen und wie sie die Persönlichkeit der Schüler entwickeln können - ganz unabhängig von Abschlussalter, Elternmitwirkung und Schulzeitverkürzung. Die pädagogische Debatte muss neu geführt werden. Die morgen beginnende Bildungsmesse DIDACTA wäre dafür ein guter Anlass.