Wann und warum erhoben sich unsere Vorfahren, um auf zwei Beinen zu gehen. Warum begann der Homo Sapiens zu malen und zu singen? Wie entwickelte sich Sprache? Solchen Fragen geht der Publizist und F.A.Z-Mitherausgeber Jürgen Kaube in seinem neuen Buch nach. Der Leser folgt ihm gerne.
Im Juni machten Anthropologen in einer Höhle in Marokko eine spektakuläre Entdeckung. Die Forscher aus Leipzig fanden 300.000 Jahre alte Schädelknochen des Homo Sapiens. Damit ist klar: Der moderne Mensch hat schon viel früher gelebt als bisher angenommen. Der Beginn der Menschheit musste von einem Tag auf den anderen um die Kleinigkeit von 100.000 Jahren vordatiert werden. Der Schauplatz des Anfangs hat sich von Ost- nach Nordwestafrika verschoben. Die umstürzende Entdeckung macht wieder einmal deutlich: Weniges ist fix. Was gestern noch als gesicherter Forschungsstand galt, kann morgen schon wieder hinfällig sein. Der Autor und Journalist Jürgen Kaube hat sich nun mutig auf das weite Feld der Entdeckungen, Irrtümer und Interpretationen begeben.
"Monographien über Zähne im Pleistozän - eher keine hinreißende Bettlektüre"
"Mein Anfangsinteresse war eines der Neugier. Zu sagen, was wissen wir über Fragen, die Zeiten betreffen, die so ein bisschen im Dunkeln liegen und die man sich auch begrifflich sehr schwer vorstellen kann: Was soll der Anfang einer Sache sein? Muss es nicht schon immer etwas gegeben haben, damit sich etwas entwickeln kann? Lange Zeit war das eine Art philosophische Unternehmung, es gab Spekulationen über diese Anfänge oder biblische Geschichten, Mythologien. Jetzt war einfach die Frage: Gibt es darüber auch Wissen? Und was für eine Sorte Wissen ist das?
Jürgen Kaube erzählt von 16 Anfängen: vom aufrechten Gang, dem Sprechen, der Religion, dem Geld. Zu jedem Thema ließen sich Bücher schreiben, und die gibt es auch. Kaube hingegen beschränkt sich jeweils auf rund 20 Seiten, auf denen er in sehr konzentrierter Form den Gang der Forschung festhält. Die einzelnen Kapitel, allesamt gewissermaßen Crashkurse, fordern einiges an Aufmerksamkeit und Konzentration. Man sollte sich daher Zeit nehmen mit dem Buch, die Fülle wirken lassen. Kaube:
"Mein Ehrgeiz war einfach – für Leser und auch für mich selber: Bekommt man das in eine Form, die – ohne opak oder total reduktionistisch zu sein oder sich ganz zu versteifen auf eine Theorie – einen Eindruck davon zu erwecken, was der Stand der Forschung ist. Und dann war natürlich ein bisschen auch der Ehrgeiz, es erzählbar zu halten, also es entlang eines Motivs zu machen. Mal ist es, dass man die Geschichte eines Irrtums erzählt, beim aufrechten Gang fängt es mit Stanley Kubrick an. Also die Vorstellung, dass man einen Affen sieht, der sich auf einmal erhebt und dann die Hände frei bekommt für Waffengebrauch. Und dann muss man sagen, was ist an dieser filmischen Mythologie sinnvoll und was ist – wenn man ein richtiges Bild gewinnen will – vollständig mythologisch. Also die Erzählbarkeit spielt eine gewisse Rolle, dass man sagt: Wie hält man eigentlich das Interesse an etwas wach, was doch sehr ins Spezialistische reichen kann. Ich meine, Monographien über Zähne im Pleistozän sind jetzt nicht unbedingt hinreißende Bettlektüre. Das ist alles sehr spezialistisch, muss es auch sein. Aber es wäre ja schade, wenn die Wissenschaften nur noch intern kommunizieren; also sie schreiben ihre Aufsätze für andere Wissenschaftler und so gar nichts überspränge in eine Öffentlichkeit."
Behände im Dickicht der Forschungen
Kaube gelingen originelle Einstiege – mit Stanley Kubrick Kultfilm "2001 – Odyssee im Weltraum" oder Rudyard Kiplings phantastischer Geschichte "Wie das Alphabet entstand". Aber dann muss er doch hinein ins Dickicht der Forschungen. Wie behände er sich auch dort bewegt, ist erstaunlich. Kaube reißt hier eine These kurz an, verwirft sie dann und kommt auf das Näherliegende, Wahrscheinlichere zu sprechen, das aber wiederum auch hypothetisch bleibt. Am Ende muss er immer wieder festhalten:
"Noch existieren keine beweiskräftigen Tatsachen, die der einen oder der anderen Seite recht geben würden. Die Forscher reagieren darauf je nach Temperament. Manche halten sich an das wenige, das wir wissen, andere denken dort, wo sie sich von sicherem Wissen abgeschnitten sehen, an eine Brücke. Sie nennen solche Brücken Hypothesen, die Skeptiker hingegen sprechen von Geschichten oder gar Märchen." (Zitat aus dem Buch)
Jürgen Kaubes Buch ist auch eine Hommage an nahezu unbekannte Wissenschaftler, wie den Australier Raymond Dart oder die US-Amerikanerin Ellen Dissanayake, die wie Detektive ihrer Arbeit nachgehen – angetrieben von einer unglaublichen Besessenheit und Ausdauer. Er folgt ihren Entdeckungen und Denkbewegungen – präsentiert faszinierende Ergebnisse von Beharrlichkeit und Spürsinn, die einem nach diesem Buch nicht mehr aus dem Kopf gehen. Womöglich, so lässt sich lernen, ist das Lausen eine Vorform der Sprache, denn hier wie da geht es um wechselseitige Kontaktaufnahme. Die Schrift ist aller Voraussicht nach nicht entstanden, um Gesprochenes zu fixieren, sondern als Gedächtnisstütze, um einfache Dinge festzuhalten; Jürgen Kaube findet dafür den schönen Vergleich zu einem Einkaufszettel. Der Anfang des Singens und der Musik schließlich liegt vermutlich nicht etwa in der Feier, der Ekstase, sondern im Trost:
"Ich wusste nicht, dass es Forschungen gibt über Kinderschreie. Dass die Schreie von Neugeborenen, wenn sie sich dann entwickeln in den ersten Monaten, selber Melodielinien haben und dass die Kinder eine musikalische Erfahrung an sich selbst oder ihrer eigenen Stimme machen – ein bisschen im Wechselspiel mit der Mutter. Und dann die Hypothese einer amerikanischen Anthropologin, die darauf aufsetzt, zu sagen: Die langsame Entwicklung der kleinen Kinder stellt evolutionär nicht nur deswegen eine Gefahr dar, weil sie unselbstständig sind und betreut werden müssen, sondern weil sie die Mütter auch bei der Nahrungssuche beeinträchtigen. Weil die Kinder, wenn sie schreien, natürliche Feinde anziehen. Und dann sagt sie, ob es stimmt oder nicht, weiß ich nicht, aber es ist ein phantastisches Argument: Die beruhigende Stimme der Mutter, Singsang, diese Babysprache, die soll das Kind beruhigen, und das ist ein evolutionärer Vorteil. So dass man so erklären kann, welchen Nutzen melodische Interaktion hatte, nämlich den Nutzen, ein Kind zu beruhigen, das eventuell irgendwelche Raubtiere anzieht, da es die Mutter beim Sammeln mitnehmen muss, weil es klein ist."
Lust am Denken
Der Autor Jürgen Kaube begegnet uns in diesem Buch als einer, der von den Forschern, die er gelesen hat, gar nicht so verschieden ist. Man merkt förmlich, wie er selbst zu einer Art Detektiv wird, erst diese Spur verfolgt, dann jene – animiert von der Freude am Wissen, der Freude daran, manchen Ursprüngen zumindest näher zu kommen. "Die Anfänge von allem" ist daher ein Buch, das die Lust am Denken vorführt und selbst Lust zum Nachdenken macht.