Alles ist politisch – auch Sport. Das ist die Grundthese dieses Buches. Wer es liest, wird nicht mehr ganz unschuldig durch den Wald joggen können. Denn ob im Job, im Bett oder in der Politik: Ein neoliberales Fitness-Ideal durchdringt offenbar unser ganzes Leben. Wer nicht fit genug oder gar übergewichtig ist, steht im Verdacht, auch als Bürger nicht ganz tauglich zu sein. Und schon wieder soll der Neoliberalismus schuld sein - steile These? Ja, aber alles andere als absurd. Denn noch Anfang der 70er Jahre sah alles ganz anders aus, belegt der Autor am Beispiel seiner beiden Haupt-Untersuchungsfelder Deutschland und den USA.
"Wanderurlaube waren etwas für Rentner und das Windsurfen gerade erst erfunden, der Berlin-Marathon existierte noch gar nicht. Die wenigsten Erwachsenen besaßen ein Fahrrad."
Das änderte sich, folgt man dem Autor, als in den späten 70ern der Kapitalismus auf den flexiblen Angestellten zu setzen begann, der selbst dafür verantwortlich ist, qualifiziert und fit genug zu bleiben. Während Fitness also noch bis weit ins 19. Jahrhundert etwas Statisches war, das man hatte, im Sinne des englischen "I fit in" – Ich passe hierher, von Geburt an -, wurde Fitness im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zunehmend zu etwas, das man sich verdienen musste, indem man hart an sich arbeitet.
"Fortan galten Form und Materialität des Körpers als Ausdruck der Fähigkeit, sich selbst zu regieren, das eigene Leben zu gestalten, Leistung zu erbringen und im allgegenwärtigen Wettbewerb zu bestehen. Fett stand immer weniger für Erfolg und Reichtum und immer mehr für Trägheit und Willensschwäche."
Dicke als "failed citizens"
Während in Zeiten harter körperlicher Arbeit Körper unmittelbar das Kapital ihrer Besitzer waren, werden sie es im Neoliberalismus im indirekten Sinne: Nur ein fitter Körper ist ein Körper, dem Macht zugeschrieben und zugetraut wird. An zahlreichen Beispielen macht Jürgen Martschukat klar, dass sich das nicht auf eine ökonomische Teilhabe beschränkt, sondern auch auf den Ausweis staatsbürgerlicher Eignung; Dicke gälten heutzutage als "failed citizens":
"Man könnte sogar sagen, in Bewegung zu sein und verantwortungsvoll zu essen sind Mittel zum Zweck. Es sind Signale der Leistungsbereitschaft und bürgerlichen Befähigung auch in anderen Bereichen, die für das Gemeinwesen, seine Existenz und Prosperität zentral sind."
Nun befördert der Neoliberalismus zwar den bislang vermutlich größten Kult von Fitness und in die Verantwortung des Einzelnen gestellten Leistungserhalts. Aber die Vorgeschichte reicht, das macht der Autor deutlich, weit ins 18. Jahrhundert zurück und nahm mit dem Degenerationsdiskurs um 1900 richtig an Fahrt auf. Der Körper des weißen, bürgerlichen Mannes wurde für "verweichlicht" deklariert, ähnlich wie in den 1950er-Jahren, als Bewegungsmangel, Fettleibigkeit und die daraus resultierenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Grundlage der Leistungsgesellschaft auszuhöhlen schienen.
"In der Figur des angepassten Angestellten mit schwachem Herzen und ohne Tatendrang verschmolz die Furcht vor der schwindenden Leistungsfähigkeit des kapitalistischen Individuums mit der Sorge vor dem Verlust gesellschaftlicher Dynamik und Stärke. Nicht Die Herzen der Männer insgesamt, sondern vor allem die Herzen der Angestellten standen im Zentrum einer gesamtgesellschaftlichen Krisendiagnose."
Schlaffe Körper streng verboten
Jürgen Martschukat spannt seinen Bogen weit – zumindest, was die Indizien des Fitnesskultes angeht. Er schreibt über "Fatshaming", Fitness als alternativen Heldenkult, über Viagra als Fitnessdroge für den Penis – und klar wird: Abschlaffen wird in keiner Form mehr geduldet. Hinzu kommt: Die "fitten" Menschen organisieren sich selten in Vereinen, sondern besiegen lieber sich selbst, als in irgendeinen spielerischen Wettkampf einzusteigen. Marathon gehört unter Managern zum guten Ton, und so wurde aus dem Joggen als Teil eines alternativen Selbstfindungsprozesses etwas Angepasstes, begleitet vom Konsum von Markenklamotten und Power-Bars:
"Vielleicht noch ambivalenter als das Miteinander von Gegenkultur und Markenkonsum ist die Beobachtung, dass der Ausdauersportler ein Idealtyp des neoliberalen Selbst ist. Er ist Teil einer Kultur und Bewegung, fühlt sich dabei aber unabhängig und selbstbestimmt. [...] Er investiert beständig in sich und ist um Gesundheit, Selbstoptimierung und Leistungsfähigkeit bemüht. Last but not least koppelte die Inbrunst, mit der viele das Laufen betrieben und von ihrer Konversion zu einer neuen Lebenshaltung sprachen, das Streben nach Fitness an das religiöse Revival und die Suche nach moralischer Führung, die insbesondere Amerika in diesen Jahren erfassten."
Denn: Wo nicht mehr Gott Chancen zuteilt und moralischen Eifer belohnt, da ist jeder selbst seines Glückes Schmied. Dieses Denken der Neuzeit führt zu einem Optimierungsdruck, der vor dem eigenen Körper nicht Halt macht.
Viele Einzelaspekte dieses Fitnesswahns sind anderswo hinlänglich beschrieben worden: Vom Schlankheitswahn über Viagra bis zum individualisierten Zurichten im Fitnessstudio ist wenig neu. Der Autor stellt aber neue Querverbindungen her – und das ist spannend.
Abgesehen vom mit 100 Seiten irritierend dicken Anmerkungsapparat liest sich das Buch plausibel, oft sogar unterhaltsam. Ein paar Kritikpunkte aber bleiben: Sowohl zeitlich als auch regional blendet Jürgen Martschukat vieles aus. Auch bei Römern und Griechen spielte Fitness eine große Rolle. Erstreckt sich der Fitnesskult nur auf die USA und Deutschland, die beiden untersuchten Länder, oder auch auf Rumänen, Finnen oder gar außereuropäische Kulturen? Wann genau wurden eigentlich die Frauen davon infiziert, die lange Zeit außen vor waren? Und: Ist bewusstes Schlemmen und Erschlaffen jetzt schon passiver Widerstand? Weihnachten wäre dazu eine formidable Gelegenheit.
Jürgen Martschukat: "Das Zeitalter der Fitness",
S. Fischer, 352 Seiten, 25 €
S. Fischer, 352 Seiten, 25 €