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Jugend in DDR-Haft
Falk Mrázeks leidvoller Weg in die Freiheit

Eine Odyssee durch mehrere Stasi-Gefängnisse und ein Zwangsarbeitslager: Das hat Falk Mrázek als jugendlicher DDR-Bürger auf sich genommen, um in den Westen zu kommen. Seine Geschichte hat er nach 40 Jahren aufgeschrieben, und sie rückt alle Ostalgie wieder gerade.

Von Silke Hasselmann |
Buchcover "Erwachsen werden hinter Gittern" Im Hintergrund: Eine vergitterte Tür steht in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen in einem Trakt des ehemaligen Stasi-Haftkrankenhauses etwas offen.
Falk Mrázek ruft in Erinnerung, was ausreisewillige DDR-Bürger durchmachen mussten. (Buchcover Evangelische Verlagsanstalt/ Hintergrund dpa / Rainer Jensen)
"Meine Geschichte trug sich in den 60er und70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der DDR zu. Dort, wo ich zwar nicht leben wollte, aber bis zu meinem Lebensende gezwungen sein würde zu leben. So sah es jedenfalls zunächst aus."
schreibt Falk Mrázek in seinem Vorwort und zieht den Leser sofort hinein in seine Geschichte. Die beginnt wenig spektakulär: Im November 1960 geboren, wuchs er im sächsischen Bischofswerda auf. Mit dem Mauerbau 1961 schottete die DDR ihre Bevölkerung vollends vom Westen ab, und damit, so Mrázek, von der Freiheit.
Eine mutige Entscheidung
Doch noch als Teenager sollte er am eigenen Leibe erfahren, dass das vermeintliche "sozialistische Arbeiter- und Bauernparadies" durchaus durchlässig sein konnte. Und zwar ausgerechnet für politische Gefangene.
"Diese DDR verkaufte auch Menschen an den sogenannten Klassenfeind im Westen. Sie wollte sich so von politisch unbequemen Zeitgenossen trennen und brauchte westliche Devisen, um ihre marode Wirtschaft zu sanieren und damit das politische Regime zu stützen. Mehr als 33.000 politische Gefangene wurden im ‚Rahmen der besonderen humanitären Bemühungen der Bundesrepublik‘ dem sogenannten ‚Häftlingsfreikauf‘ von der DDR an den Westen lukrativ ‚entsorgt'. Einer davon war ich. Und einer der allerjüngsten, vielleicht sogar der jüngste politische Häftling überhaupt, der jemals freigekauft wurde."
Vier Jahre zuvor - 1975 - hatte seine Familie einen Ausreiseantrag gestellt. Dass er aus der FDJ austrat und den sozialistischen Eid bei seiner Jugendweihe nicht mitsprach, dass er sich in der DDR-Presse wie auch im Deutschlandfunk gründlich über die politische Lage informierte, um unter anderem seinen Schuldirektor und Staatsbürgerkundelehrer immer wieder im Unterricht mit Fragen zu traktieren - all das erzählt Falk Mrázek unaufgeregt, ja nahezu beiläufig. Manches Mal kommt beim Lesen die Frage auf, ob auch diejenigen Leser, die die DDR nicht erlebt haben, das Ausmaß an dem dafür nötigen Mut begreifen. Weil es mit dem Ausreiseantrag der Familie einfach nicht vorwärts ging, entschloss sich der damals 17-Jährige dazu, am 14. September 1978 in Berlin sein "Ich will hier raus!" zu demonstrieren. Dafür brach Mrázek unter den schützenden Augen möglichst vieler Zuschauer auf der Westberliner Seite in den Grenzstreifen am Brandenburger Tor ein und wurde festgenommen.
Ein authentischer Blick zurück
Nun ist es sicher nicht einfach, mit der Erfahrung eines mittlerweile fast 60-Jährigen noch einmal in die Gedanken- und Gefühlswelt seines erst 17-jährigen Ichs zu tauchen und den Hergang der Geschichte aus der Jugendperspektive zu rekapitulieren. Falk Mrázek hat es versucht und recht authentisch hinbekommen, ohne dafür besonders jugendtypische Sprache bemüht zu haben oder unangemessen altklug zu klingen. Sehr reif muss Mrázek jedenfalls schon als Teenager gewesen sein. Denn sein monatelang gereiftes Kalkül sei gewesen, diese Aktion erst kurz vor seinem 18. Geburtstag zu starten:
"Zum Zeitpunkt der Tat wäre ich noch nicht volljährig und könnte damit vielleicht eine geringere Strafe bekommen als ein Erwachsener. Ich ging davon aus, dass ich erst nach meinem 18. Geburtstag verurteilt werden würde und danach als politischer Gefangener in einen Knast für Erwachsene käme. Von dort aus, so meine Hoffnung und Spekulation, könnte ich dann eventuell von der Bundesrepublik freigekauft werden."
Mrázeks Kalkül ging auf. Nach 14 Monaten Haft wurde er eines Tages urplötzlich aus der letzten seiner Knaststationen entlassen - dem damals extrem streng geheimen Gefängnis auf dem Kaßberg im heutigen Chemnitz, von wo aus alle freigekauften Häftlinge in die BRD gebracht wurden. Das mit der Ausreise verbundene Glück, die Freude, die Erleichterung auch der anderen Ex-Häftlinge in dem Bus, dem - man höre und staune - zunächst die Gefängniswache und dann an der Grenze die DDR-Grenzsoldaten salutierten - all das schildert Falk Mrázek in nüchterner chronologischer Erzählung.
Zwangsarbeit in Bitterfeld
Doch was sich vor allem einprägt, ist seine vorherige Odyssee durch mehrere Stasi-Gefängnisse und das, was Mrázek ohne jede Einschränkung, Anführungsstriche oder relativierende Erklärung Zwangsarbeitslager nennt. Dass die Nazis und auch die Sowjetunion Zwangsarbeit schlimmster Art für ihre Feinde bzw. Kriegsgegner bereithielten, ist bekannt. Dass es so etwas auch in der DDR gab, ist deutlich weniger in unserem kollektiven Bewusstsein verankert.
Unfassbar, was Falk Mrázek etwa im Straflager Bitterfeld während des Extremwinters 1978/79 und später im Chemiekombinat Bitterfeld als Strafarbeiter erlebt hat. Zwar belässt es der heutige Journalist zumeist bei Andeutungen über die zahlreichen Arbeitsunfälle, schweren Erkrankungen und Todesfälle von Strafgefangenen hinter den Knast- und Betriebsmauern. Doch auch sie ergänzen das Wissen darüber, was in der DDR an staatlich gewollter bzw. zugelassener Erniedrigung, Entwürdigung, körperlicher wie seelischer Gewaltanwendung durch Menschen an Menschen möglich gewesen ist. Mrázeks Beschreibungen wirken nach.
Ansonsten ist dieses kleine Buch auch eine Geschichte über eine liebevolle Familie und über eine großartige Knastfreundschaft. Es ist angereichert mit zahlreichen Fotokopien von Dokumenten aus jener Zeit - amtliche Anordnungen, Urkunden, Fotos.
Was die Unterzeile des Buchtitels betrifft, so hat Falk Mrázek, der schon zuvor als Teenager sehr reif gedacht und gehandelt hatte, seinem "Erwachsenwerden hinter Gittern" allerdings keine gesonderte Aufmerksamkeit oder Reflexion gewidmet. Doch auch so ist das Buch geeignet, dem Wunsch von Falk Mrázek zu entsprechen, nämlich der von ihm beobachteten Reduzierung der DDR auf beliebte Märchenfiguren des Kinderfernsehens die Erinnerung an die dunkle Seite des DDR-Staates entgegenzusetzen: "Brutal, totalitär und gnadenlos gegenüber ihren Opponenten und jedem, den sie dafür hielt."
Falk Mrázek: "Erwachsenwerden hinter Gittern - Als Teenager im DDR-Knast",
Band 19 der Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Evangelische Verlagsanstalt, 224 Seiten, 12 Euro.