Wie aus heiterem Himmel trifft es die 15-jährige Jam. Geradezu schicksalhaft scheint sie zu sein, die Begegnung mit dem faszinierenden Reeve, dem Austauschschüler aus England. In nur wenigen Wochen überfluten Jam zum allerersten Mal die widersprüchlichsten Empfindungen, zum einen beglückende Liebesgefühle und zum anderen unendliche Trauer, denn Reeve stirbt. Meg Wolitzer entwickelt die Handlung aus der Sicht ihrer Hauptfigur.
"Reeve war anders als die Jungs, die ich kannte ... Es war nicht nur der Name, er sah auch anders aus als sie: klug, schlaksig, schlank, mit engen schwarzen Jeans, die tief in seinen knochigen Hüften saßen. Es sah aus wie ein Mitglied einer englischen Punk-Band aus den 80ern."
"Das Schreiben in der ersten Person gibt einem die Möglichkeit, eine Hauptfigur zu haben, die in meinem Fall keine zuverlässige Erzählerin ist und Jam ist nicht vertrauenswürdig. Aber welcher junge Mensch ist das schon?"
Jam fühlt sich nur noch als halber Mensch und versinkt in Depressionen. Ihre besorgten Eltern schicken die suizidgefährdete Tochter in ein spezielles Internat nach Vermont. Völlig eingeigelt in ihre schmerzhafte Trauer landet Jam im Literaturkurs von Mrs. Quenell. Gemeinsam mit fünf weiteren auserwählten traumatisierten Jugendlichen wird sie sich nun mit dem Werk einer einzigen Autorin beschäftigen."
"Ich habe "Die Glasglocke" von Sylvia Plath mit 15 Jahren auf Empfehlung eines Freundes gelesen. Ich saß im Zug und habe geweint, denn es war für mich so eine gefühlvolle, ja machtvolle Lektüre. Wenn man ein Buch zum ersten Mal liest und dieses Gefühl erlebt, das dieses Buch dein Leben verändert, dieses Empfinden wollte ich unbedingt die Jugendlichen erleben lassen."
Jeder Kursteilnehmer erhält von Mrs. Quenell ein antik anmutendes Notizbuch, um sich alles von der Seele zu schreiben. Auch Sylvia Plath war eine leidenschaftliche Tagebuchschreiberin. Die spirituelle Hoffnung, Reeve je wiederzusehen, hat Jam bereits aufgegeben. Aber der erste Satz, den sie ins Tagebuch schreibt, löst ein Wunder aus.
"Das ist keine Traumsequenz und es ist auch nicht das, was man einen Klartraum nennt. Mein Freund Reeve, den ich verloren habe, ist einfach da, hier, bei mir."
Meg Wolitzer wechselt nun die Erzählebenen, die Jugendlichen erleben ihren realen Internatsalltag und sie reisen per magischem Tagebuch des Nachts völlig unbeschwert in die Vergangenheit. Jam verlebt eine glückliche Zeit mit Reeve, Casey hat wieder gesunde Beine und sitzt nicht im Rollstuhl, Marcs Eltern sind zusammen und nicht getrennt, Sierras jüngerer Bruder ist nicht verschwunden. Nach und nach erzählen Jams Mitschüler von ihrer schmerzlichen Konfrontation mit der Erwachsenenwelt und ihre persönliche Leidensgeschichte, die sie selbst verursacht haben oder die ihnen auf tragische Weise widerfahren ist. Um nicht von den anderen für verrückt erklärt zu werden, haben die Schüler beschlossen, ihrem geheimen Ort einen Namen zu geben. Jam schlägt Belzhar vor, angelehnt an Sylvia Plaths einzigen Romantitel.
"Für jede Person ist Belzhar der Ort, zu dem man gehen kann, um die Person wiederzutreffen, die man verloren hat. Mein persönliches Belzhar würde ich nutzen, um meine Kinder wiederzusehen, als sie noch klein waren, bevor sie in die Welt hinausgegangen sind. Belzhar bietet die Möglichkeit, eine Pause zu machen, einen Moment im Leben, der einem wichtig war, einzufrieren und darüber nachzudenken. Man muss nicht handeln und der Schmerz ist fort."
"Ich spürte, dass wir uns alle vor diesem anderen Ort fürchteten und uns zugleich danach sehnten. Wer weiß, ob es beim nächsten Mal wieder so ein würde?"
Aber in gewisser Weise verlaufen alle Erlebnisse in Belzhar ebenfalls unter einer Glasglocke, denn, eine clevere Erzähltechnik der Autorin, die Personen, die nach Belzhar reisen, befinden sich zwar wieder in ihrem normalen, unbeschädigten Leben, aber sie erfahren nichts Neues. Sie sind die Gefangenen ihrer eigenen Erinnerungen, wie in einer Endlosschleife. Nie kann sich Jam mit Reeve über das austauschen, was sie gegenwärtig beschäftigt, nichts entwickelt sich in eine neue Richtung."
"Ich wünschte, ich könnte dieses gute Gefühl immer haben, nicht nur in Belzhar. Ich will mich auch gut fühlen. Nicht nur dort, sondern auch hier. Und in diesem Augenblick, hier bei Griffin, glaube ich, dass es möglich sein könnte. Ohne lange zu überlegen, stehe ich auf und küsse Griffin auf den Mund. Richtig fest. "
Als der zornige Griffin, Jams Mitschüler, ihr zeigt, dass auch er sie mag, muss sie eine Entscheidung treffen, ihren Blick erweitern. Jam spürt die immer größer werdende Leere, die entsteht, wenn sie mit Reeve in der Vergangenheit zusammen ist. Die Auseinandersetzung mit den Gedichten von Sylvia Plath führt dazu, dass Jam zum ersten Mal ehrlich zu sich selbst ist.
"Ich denk, ich habe dich in meinem Kopf gemacht, wiederhole ich in Gedanken die Gedichtszeile und meine damit sowohl Reeve als auch Griffin."
"Jam beschäftigt sich mit Sylvia Plaths Lyrik als ein sehr auf sich orientierter Mensch, ich meine das nicht negativ. Sie hat einen furchtbaren Verlust erlitten und sie kann nur an das denken. Aber Gedichte können auch das, was Kunst kann. Jede Kunst vermittelt uns die Welt des Künstlers und das bringt Jam in eine andere Welt. Sie bekommt die Chance, neu zu sehen. Das war meine Hoffnung."
Bevor die letzten Seiten des Tagebuchs gefüllt sind, müssen sich alle Jugendlichen in ihrer Parallelwelt dem schlimmsten Augenblick in ihrem bisherigen Leben stellen und sich dann endgültig von Belzhar verabschieden. Meg Wolitzer lässt Jam plausibel von ihrer Gefühlswelt berichten, bis der Eindruck von ihrer grundsympathischen Wahrhaftigkeit zerstört wird. Jams Wunschträume haben ihr reales Denken so überlagert, bis beide Ebenen kaum noch zu unterscheiden waren. Eine Überlebenstechnik, die Jam einsam gemacht hat.
"Reeve Maxfield hatte mich nie geliebt. Er hatte es laut ausgesprochen und konnte es nicht mehr rückgängig machen. Und ich konnte nicht so tun, als hätte ich es nicht gehört. In diesem kurzen Augenblick der Offenbarung, 41 Tage nachdem wir uns kennengelernt hatten, starb Reeve für mich. So war es am einfachsten. Er liebte mich nicht, also schloss ich die Augen und tötete ihn in Gedanken."
Meg Wolitzer treibt mit Vorliebe für Gesprächssituationen und ungewöhnliche Wendungen ein kunstvolles Spiel mit Perspektiven, wirklichkeitsnahen und magischen Handlungsebenen und Erinnerungsversatzstücken. Alle Jugendlichen begleiten schwere seelische und auch körperliche Verluste und das Wissen, dass sie das Geschehene auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden verarbeiten müssen. Ihr Heilungsprozess durchläuft die imaginäre Welt von Belzhar, die als Erkenntnisgewinn, Verwandlungsprozess oder auch nur fantasievolles Trugbild gelesen werden kann. Der Roman ist ein Plädoyer für Veränderung und das heißt: Was uns bleibt ist jetzt.
Buchinfos:
Meg Wolitzer: "Was uns bleibt ist jetzt", aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis, cbt, München 2015, 384 Seiten, Preis: 17,99 Euro
Meg Wolitzer: "Was uns bleibt ist jetzt", aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis, cbt, München 2015, 384 Seiten, Preis: 17,99 Euro