Jedes Jahr werden in Deutschland über 200.000 Kinder Opfer von Gewalt. Offiziell sterben 160 Kinder durch Misshandlungen, Experten gehen von einer Dunkelziffer von 320 gewaltsam getöteten Kindern aus. Zu diesen Experten zählen die Rechtsmediziner Michael Tsokos und Sandra Guddat von der Berliner Charité. Die Familie sei zwar ein hohes Gut in vielen Religionsgemeinschaften und Staatsverfassungen, sagt Michael Tsokos. Doch das allein greife zu kurz:
"Sowohl in den verschiedenen Weltreligionen als aber auch bei uns im Staatssystem ist die Familie eines der höchsten, wenn nicht das höchste Gut. Natürlich sollen Kinder in Obhut der Familie aufwachsen. Natürlich darf der Staat nicht willkürlich in Familienstrukturen eingreifen. Aber meine Meinung ist: Wo Kinder in Gefahr sind, kann die Familie nicht mehr das allerhöchste Gut sein, dann müssen die Leben dieser Kinder gerettet werden. Familie wird heute meist mit Eltern gleichgesetzt und die Kinder fallen häufig hinten runter. Das Resultat sehen wir eindrucksvoll in der polizeilichen Kriminalstatistik mit 160 im Jahr an Misshandlung versterbenden Kindern."
Bei ihrer Analyse machen die Rechtsmediziner das System von staatlichen Jugendämtern und freien, auch kirchlichen Trägern für die Lage in Deutschland mitverantwortlich. Die Ursachen seien vielfältig:
"Es gibt einmal die Schnittstelle zwischen Jugendämtern und Jugendhilfe, die nach meiner Erfahrung nicht immer optimal funktioniert. In der Theorie ist es gut: Das Jugendamt, als Wächter des Kinderschutzes mit Beamten bestückt, kann nicht alle Tätigkeiten selbst wahrnehmen. Man nimmt also sich freie Träger und die nehmen dann die Jugendhilfetätigkeiten in den Familien vor."
Überforderte Mitarbeiter?
Aus seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung heraus kritisiert Tsokos auch Schwachstellen und Fehler bei kirchlichen und anderen freien Trägern im Kinder- und Jugendschutz.
"Meine persönliche Erfahrung ist, dass dort natürlich finanzielle Interessen vorherrschen. Mitarbeiter werden nicht adäquat bezahlt. Es kommt zu einer hohen Fluktuation. Es sind häufig auch Mitarbeiter, die sich engagieren, die direkt aus der Berufsausbildung kommen, direkt aus dem Studium. Die natürlich sehr engagiert sind, aber die gar nicht mit allen Wassern gewaschen sind. Das sind Familien, denen sie gegenüberstehen, die schon mal Sozialbetrug durchgeführt haben und wegen anderer Straftaten auffällig waren. Die wissen, wie man täuscht, wie man lügt, wie man betrügt. Wenn es dann letztendlich tödlich endet, war es meistens so, dass Mitarbeiter überfordert waren."
Bei der Caritas weist man diesen Vorwurf zurück. Er könne das so pauschal nicht teilen, unterstreicht Caritas-Präsident Peter Neher:
"Ich denke, dass wir einen hohen Anspruch an qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben. Dass wir sehr viel unternehmen in den Einrichtungen und Diensten selber, um Mitarbeiter zu fördern, zu entwickeln, sie zu begleiten, Supervisionsangebote, Coaching, damit die anspruchsvolle Arbeit auch möglich ist. Im Einzelfall ist es so, dass es hier auch Menschen sind, die an ihre Grenzen kommen können. Dass da manches Mal etwas nicht ganz optimal läuft, würde ich mal als nicht ideal, aber durchaus als real bezeichnen."
Christina Friese ist eine erfahrene Heilpädagogin und Erzieherin. Sie leitet das Kinder- und Jugendhaus "Vom Guten Hirten" - eine stationäre Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung der Caritas im Erzbistum Berlin. Sie sieht einen anderen Schwachpunkt:
"Der Schwachpunkt ist für mich das Jugendamt, also der öffentliche Träger. Das ist eine derartig desolate Personaldecke hier in Mitte. Ich habe hier in meiner Region jetzt die vierte Regionalleitung. Und es ist einfach so: Das Fallaufkommen der einzelnen Sozialarbeiter ist so hoch, dass die nicht in der Lage sind, ihre Fälle regelmäßig zu überprüfen, Hilfepläne zu erstellen. Es sind Stellen nicht besetzt und die freien Träger machen zum Teil die Arbeit von denen mit, was ich echt schwierig finde. Das Wächteramt liegt beim Jugendamt und die sind nicht in der Lage, dieses Wächteramt wahrzunehmen, sondern geben es weiter an die freien Träger."
Jugendämter in der Kritik
Die Kritik an der Arbeit der Jugendämter teilt auch Ulrike Kostka. Sie ist Direktorin der Caritas des Berliner Erzbistums und bringt beim Thema Kindeswohl auch die Elternkompetenz ins Spiel:
"Ein großes Problem sehe ich in der Überlastung der Jugendämter. Eine andere Gefahr sehe ich auch darin, dass die Familien noch mehr brauchen als die Verhinderung von Kindeswohl. Es muss auch darum gehen, Familien in ihrer Elternkompetenz zu stärken."
In das bundesdeutsche System des Kinder- und Jugendschutzes fließen jährlich 7,5 Milliarden Euro. Jugendhausleiterin Friese ist skeptisch, ob noch mehr Mittel wirklich weiterhelfen:
"Mir fehlt eine strukturierte Vorgehensweise. Ich würde es sinnvoller finden, mehr Geld in Frühwarnsysteme zu investieren, dass Familien auch motivierter sind oder sich eher trauen, früher um Hilfe zu bitten."
Das sieht auch der Caritas-Präsident Peter Neher so:
"Ich glaube, da hat sich auch vielleicht in der Kinder- und Jugendhilfe der letzten Jahre etwas verändert. Während man früher, wenn sprichwörtlich das Kind schon im Brunnen lag, hat sich es stark verändert in Richtung Prävention."
Auch wenn Rechtsmediziner Michael Tsokos die Arbeit der freien Träger kritisch hinterfragt, dem Thema Prävention kann er viel abgewinnen:
"Vom Prinzip ist das natürlich richtig, die Prävention ist entscheidend. Wir müssen das Übel an der Wurzel packen. Und das können wir nur, wenn wir den betreffenden Eltern Unterstützung und Hilfe anbieten. Ich stelle Eltern nicht unter Generalverdacht. Ich weiß, dass der Großteil der Eltern in Deutschland liebevoll für den Nachwuchs sorgt. Wir reden hier überwiegend, wenn wir von Kindesmisshandlung sprechen, von Menschen, die in ihrem persönlichen Umfeld völlig überlastet sind, die berufliche Niederlagen hatten, private Niederlagen, die einfach überreagieren und die ihre Aggression an den Kindern auslassen zu nichtigsten Anlässen."