"Ich bin der Meinung, dass die meisten denken, dass die Zukunft hier im Osten nichts bringen wird, weil hier gibt es zuwenig Lehrstellen. Das ist es. Zweitens: drüben gibt es mehr Lehrstellen und auch mehr Gehalt, sage ich mal. Da gehen die meisten, wenn sie überhaupt Lehrstellen kriegen, rüber oder möchten rüber. Das war bei mir auch am Anfang so. Da habe ich gesagt, ich möchte lieber in den Westen - erstens mehr Gehalt, zweitens sehe ich da mehr Zukunft."
Der 16jährige Stefan Kühne aus Magdeburg gehört zu den Glücklichen, die auf Anhieb eine Lehrstelle ergattern konnten. Kurz vor seinem Realschulabschluss hat er seinen Ausbildungsvertrag schon in der Tasche. Ab August absolviert er in seiner Heimatstadt eine Lehre im Straßenbau.
Bei den meisten seiner Freunde jedoch sieht es eher düster aus. Viele haben noch immer keine Antwort auf ihre Bewerbungsschreiben erhalten. Andere wiederum müssen sich ihren Wunschberuf aus dem Kopf schlagen. Die Unsicherheit über die eigene Zukunft bestimmt die Themen, mit denen sich die Jugendlichen in Ostdeutschland beschäftigen. Das erlebt auch Stefan Kühne:
"Meiner Meinung nach gibt es Jugendliche, die richtig besorgt sind darum, und da müsste man etwas tun, man müsste die Jugend aufbauen. Nicht mit leeren Versprechungen irgendwie, aber man müsste die Jugendlichen aufbauen und sichern, dass Lehrstellen und Arbeitsplätze da mal sind, irgendwann mal."
10 Jahre nach dem Fall der Mauer zeigt sich nach wie vor eine tiefe Kluft zwischen den Jugendlichen in Ost und West. In der aktuellen Shell-Jugendstudie befragten die Autoren rund 4.500 Jugendliche aus den alten und neuen Bundesländern nach ihrer Situation, ihrer Lebenseinstellung und Zukunftsplanung. Bei ihrer Untersuchung waren sie davon ausgegangen, dass Ost- und Westunterschiede bei den heute 14- bis 25jährigen keine Rolle mehr spielen würden. Umso ernüchterter zeigt sich nun Arthur Fischer, Koordinator der Jugend-Studie:
"Wir haben nun mit Entsetzen in dieser Studie gesehen - zu meinem Entsetzen - dass die Unterschiede zwischen Ost- und West-Jugendlichen, unabhängig davon, dass beide bereit sind, jetzt wirklich Zukunft anzugehen, dass sie versuchen, sich in dieser Gesellschaft irgendwie einzurichten und mit dieser Gesellschaft klarzukommen. Davon unabhängig sind die Unterschiede zwischen West- und Ost-Jugendlichen genauso groß wie vor zehn Jahren. Da ist also nichts zusammengewachsen, da ist nichts an gleichen Lebensbedingungen in Ost und West passiert - gerade für Jugendliche, und das finde ich das bestürzende Ergebnis."
Auch viele Politiker hatten geglaubt, dass der Ost-West-Vergleich unter den Jugendlichen im vereinten Deutschland zur Jahrtausendwende nur noch aus historischen Gründen interessant sein könnte. Dies hatte auch die in Dresden geborene Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Christine Bergmann, angenommen:
"Wir haben alle gedacht, dass dieses Gemeinschaftsgefühl, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das Gefühl, dass man die Probleme auch miteinander bewältigt, schneller zu packen ist. Ich sehe aber, dass die Unterschiede zum Beispiel in meiner Generation - ich bin 60 - auch im Lebens-Gefühl und in der Frage, wie man sich in der neuen Gesellschaft zu Hause fühlt, größer sind als bei den Jugendlichen. Also da gibt es bei den Jugendlichen durchaus schon mehr Gemeinsamkeiten."
Besonders bedrückend sind die Arbeitslosigkeit und der Mangel an Ausbildungsplätzen. Beides kannte man in der ehemaligen DDR nicht. Jetzt erleben Kinder und Jugendliche, wie ihre Eltern plötzlich die Arbeit verlieren, und was für Belastungen das für die Familie mit sich bringt. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg liegt die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland bei den Jugendlichen unter 25 Jahren derzeit bei 18,2 %. Im Westen sind dagegen in dieser Altersgruppe "lediglich" 10,7% ohne Arbeit.
Angesichts dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass ein sicherer Job auf der Wunschliste der Jugendlichen an oberster Stelle steht. Viele fürchten, dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt weiter verschärfen könnte. Aus diesem Grund sei die Verantwortung der Politiker, der Jugend Planungsperspektiven zu geben, besonders groß, meint Arthur Fischer. Denn Jugendliche hätten diese Gesellschaft nicht mitgestaltet, in die sie hineingewachsen seien; sie hätten sie so vorgefunden:
"Ich müsste sozusagen dafür sorgen als Gesellschaft, dass ihre Fähigkeiten optimal ausgebildet werden, dass sie also auch mit allen Veränderungen der Gesellschaft gut klar kommen. Und genau das tun wir nicht. Wir kürzen eher Geld im Bildungsbereich, wir lassen oder haben zugelassen, da hat sich Gott sei Dank einiges geändert, aber wir haben hohe Raten bei Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen zugelassen. Das heißt, wir sagen auf der einen Seite: Du musst Dich auf die ungewisse Zukunft vorbereiten, und geben ihnen keine Möglichkeiten, sich vorzubereiten. Und wenn man von Betrug sprechen will, liegt hier der Betrug."
Das sieht die rot-grüne Bundesregierung anders: Stolz stellte sie im vergangenen Jahr das 2 Milliarden Mark teure Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit vor, mit dem der Lehrstellenmisere ein Ende bereitet werden soll. Doch Oppositions-Politiker werfen der Regierung hier Flick-Schusterei vor: Statt 200.000 seien nur 130.000 Jugendliche im vergangenen Jahr vermittelt worden. Zudem tauchen viele Jugendliche gleich mehrfach in der Förderstatistik auf.
Insgesamt werden derzeit nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes rund ein Drittel aller Lehrstellen in Ostdeutschland durch öffentliche Gelder gefördert. Zwar sei die Ausbildungsbilanz verbessert worden. Doch nicht die Wirtschaft habe für mehr Ausbildungsplätze gesorgt, so das Fazit, sondern der Staat.
Familienministerin Christine Bergmann hält den eingeschlagenen Weg für den derzeit einzig möglichen. Das Sofortprogramm wurde nach einigen Korrekturen für dieses Jahr verlängert:
"Ohne Ausbildung sind Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt nahezu chancenlos, das muss man einfach so sehen, deswegen muss man die erste Stufe schaffen. Wie das mit der zweiten Stufe weitergeht, das sehen die Jugendlichen übrigens nicht so pessimistisch: Sie machen sich im Moment die größere Sorge: Krieg ich denn die Ausbildung hin und kriege ich sie denn auch in einem Bereich, in dem es im Moment ganz gut ist, also denken wir mal an die neuen Berufe, wo man weiß, da ist eine große Nachfrage, gibt es da genug Ausbildungsplätze. Sie sehen die Chance, in den Arbeitsmarkt reinzukommen, wenn sie die Ausbildung haben, durchaus positiver und das ist es auch."
Doch genau hier liegt das ungelöste Problem. Nur ein kleiner Teil der geförderten Jugendlichen hat nach der Ausbildung bislang den Sprung in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis geschafft. Darüber hinaus landen viele Jugendliche in den verschiedensten Fördermaßnahmen der Bundesregierung. Staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bieten jedoch oft nur eine kurzfristige Lösung: Der sogenannte zweite Arbeitsmarkt holt zwar Arbeitslose vorübergehend von der Straße. Wenn die Beschäftigungsmaßnahme aber endet, stehen die meisten Betroffenen wieder ohne Arbeit da, wie die Statistiken zeigen.
Das Ergebnis ist, dass Jugendliche in allen neuen Bundesländern sehr viel länger vom Staat finanziert werden und sehr viel später eigenes Geld als ihre Altersgenossen im Westen verdienen. Ihr materieller Besitz ist daher im Durchschnitt auch sehr viel geringer. Dies steht im krassen Gegensatz zu den Erfahrungen ihrer Eltern: Zu DDR-Zeiten war die frühzeitige Bestimmung des Berufsziels selbstverständlich. Die Jugendlichen wurden schneller wirtschaftlich selbständig und gründeten früher Familien. Doch das ist heute kaum mehr möglich, beschreibt Arthur Fischer die Ausgangsbedingungen für die junge Generation:
"Die objektiven Schwierigkeiten liegen darin, dass wir Erwachsenen im Moment nicht in der Lage sind, zu sagen, unsere Gesellschaft wird in den nächsten 10, 20, 30, 40 Jahren so und so aussehen. Das wäre aber eine Voraussetzung dafür, dass Jugendliche ihr Leben so einigermaßen planen können. Zum Beispiel: Ich will das und das werden, ich will auf den und den Bereich setzen."
Das Beispiel der Stadt Cottbus im Süden des Landes Brandenburg zeigt, was diese Situation für die Kommunalpolitik bedeutet. Die Lausitz-Metropole mit 130.000 Einwohnern befindet sich im industriellen Umbruch. Fast jeder fünfte Jugendliche unter 25 Jahren hat hier keinen Job. Lehrstellen vor Ort sind knapp, vor allem in den gefragten neuen Berufen Informationstechnologie, Multimedia oder im Dienstleistungssektor.
Die traditionsreichen Arbeitgeber im Kohle- und Bergbau und im Energiebereich haben in den vergangenen Jahren massiv Stellen abgebaut. Allein im Braunkohle-Revier der Lausitz wurden seit 1990 rund 56.000 Arbeitsplätze zusammengestrichen. Nun kündigten die Betreiber nochmals Kürzungen bei den verbleibenden 9500 Beschäftigten an. Niemand habe jedoch gelernt, mit Arbeitslosigkeit umzugehen und den Jugendlichen eine Orientierung zu geben, betont Käte Günzel, Leiterin des Jugendamts in Cottbus:
"Die Freude war erst mal da, dass die Wende ist, alles ändert sich. Und wenn wir heute sehen, muss ich auch ehrlich aus der Sicht der Verwaltung sagen: Man hat auch gar nicht darüber nachgedacht, was passiert eigentlich mit der Jugend gleich nach der Wende? Und wenn wir heute analytisch reingehen, Statistiken auch ansehen, merken wir, dass eigentlich diese Generation so ein bisschen vergessen wurde."
Auch die Sozialdezernentin der Stadt Cottbus, Christina Giesecke, glaubt rückblickend, dass die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in Ost und West von der Politik völlig unterschätzt worden sind:
"Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass es wahrscheinlich ganz schwierig ist, dass Bundespolitiker, häufig aber auch Landespolitiker, die ja auch sehr oft beispielsweise bei den Landespolitikern nicht aus dem ostdeutschen Raum gekommen sind, sondern tatsächlich aus den alten Bundesländern gekommen sind, die Situation nicht richtig einschätzen können. Ich denke, es gibt doch nach wie vor einen großen Unterschied einfach in der Frage: Wie war das Leben vorher? Was hat man da erlebt? Welche Dinge haben einen da geprägt? Und da ist einfach die Geschichte sehr unterschiedlich verlaufen in den beiden Teilen Deutschlands."
Dabei ist viel Geld von West nach Ost geflossen. Doch die Frage, wie es für die Jugend eingesetzt werden sollte, wurde lange zurückgestellt. Die Probleme durch die Umstellung von der Plan- auf die Marktwirtschaft, der Zusammenbruch großer Industrien und der damit verbundene dauerhafte Verlust von Arbeitsplätzen standen im Vordergrund.
Viele Ansätze der westlichen Jugendpolitik wurden in der Übergangszeit einfach kopiert, ohne die Besonderheiten Ostdeutschlands einzubeziehen: Jugendarbeit, Tagesbetreuung der Kinder, Familienförderung oder Beratungsdienste mussten, wenn sie überhaupt bestanden, völlig umstrukturiert und zum Großteil personell umbesetzt werden. Die Kommune musste in kurzer Zeit Entscheidungen treffen und fühlte sich aufgrund fehlender Erfahrung oft allein gelassen, resümiert Käte Günzel:
"Ich denke, auch wir waren ein Stück weit überfordert mit manchem. Wir haben im guten Glauben und Wissen Projekte entwickelt. Und man stellt dann manchmal fest, oje, das war es vielleicht doch nicht so, man muss sich korrigieren. Es ist schade, dass man im Vorfeld oft nicht genau weiß: Was ist der richtige Weg? Aber ich denke, wenn man dann erkennt, das war es nicht, das war nicht das Optimale, korrigiert sich und sucht neue Wege, ist das auch okay."
Um längerfristig Jugendarbeit planen zu können, fordert die Sozialdezernentin Christina Giesecke von der öffentlichen Hand vernünftige Strukturen und finanzielle Garantien:
"Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass wir nun supertolle Jugendclubs, Jugendtreffs, etc. haben müssen. Aber wir müssen Geld haben, um Menschen, die mit Jugendlichen umgehen, die ihnen beratend zur Seite stehen, die ihnen helfend zur Seite stehen, die einfach nur ihr Leben gemeinsam mit ihnen leben, tatsächlich auch finanziert werden können. Und das geht eben nicht über ABM-Möglichkeiten, über SAM, über kurzfristige Anstellungsverhältnisse, sondern das geht nur über verlässliche Strukturen."
Eines der erfolgreichen Projekte in Cottbus, das 1991 zunächst mit ehrenamtlicher Jugendarbeit begann und heute 52 Mitarbeiter beschäftigt, ist der Verein Jugendhilfe. Er bietet unter anderem Streetwork, ambulante Hilfen oder Erziehungsberatung an. Im vergangenen Jahr wurden dort nahezu 1000 Kinder und Jugendliche betreut. Mittlerweile haben die Sozialarbeiter Kontakte zu sehr unterschiedlichen Jugendszenen aufgebaut. Der Verein, der Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband ist, hat in dieser Hinsicht auf kommunaler Ebene Vorbildfunktion.
Durch seine täglichen Erfahrungen mit hilfesuchenden jungen Menschen beklagt auch Geschäftsführer Jörn Meyer die schlechten Startbedingungen im Osten. Zwar empfinden Jugendliche ihre Situation selbst nicht als perspektivlos, weil sie es nicht anders kennen. Doch zu Hause werden sie mit den Gefühlen ihrer Eltern konfrontiert, so Meyer, die den Zusammenbruch eines Systems und den Verlust ihrer Wertevorstellungen erlebt haben:
"Sie nehmen das wahr, dass ihre Eltern frustriert sind, dass ihre Eltern keine Perspektive haben. Sie kommen ein Stück weit in die Verpflichtung, für ihre Eltern sorgen zu müssen, unter Umständen, das bringt Familienkonflikte mit sich, das bringt natürlich aber auch Frust auf das System ein Stück weit mit sich."
Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit sind häufig ein Beweis für Jugendliche, dass Politik etwas ist, was mit ihnen nichts zu tun hat. Sie haben das Gefühl, dass die Politiker auf ihre Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen. Um ihrem Frust zu entfliehen, versuchen die Jugendlichen, so Meyer, gemeinsam mit der Clique aus dem Alltag auszubrechen:
"Es ist bei Jugendlichen so, dass sie nicht die Existenzängste so äußern, dass sie sagen, oh Gott, was wird aus mir zukünftig. Sie suchen Alternativen, sie begeben sich in, was weiß ich, Rauschmittelkonsum, oder intensivere Freizeitausnutzung, Alternativen suchen, Lebensalternativen suchen, die oft auch einfach nicht gesellschaftskonform gehen und mehr Auffälligkeiten erzeugen."
Wer Aufmerksamkeit erregt, findet mehr Beachtung. Selbstkritisch beklagen die Jugendpolitiker in den neuen Bundesländern, dass sich nach diesem Prinzip die Institutionen vor allem um Jugendliche kümmern, die Probleme machen. Dramatisch sind - Experten zufolge - die Gewaltbereitschaft und die Dominanz der rechten Jugendkultur. Übergriffe auf Ausländer und Andersdenkende sind vielerorts an der Tagesordnung. Im Kampf gegen rechte Gewalt sind die Landesregierungen schnell bei der Hand, ent-sprechende Kampagnen finanziell zu unterstützen.
Seit der Wende steckt auch der Bund Millionen von Mark in Projekte, die gerade Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen erreichen sollen. Mit Programmen gegen Aggression und Gewalt und besonderer Präsenz an sozialen Brennpunkten will die Politik der Jugend Perspektiven bieten. Wenig Geld bleibt übrig für Jugendliche, die weniger oder nicht auffallen. Dabei haben auch diese Jugendlichen oftmals mit ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen zu kämpfen, in denen sie sich nicht zurechtfinden. Ihre Sehnsucht nach Stabilität wird deshalb immer stärker. Die Folge, so Jugendforscher Arthur Fischer: Jugendliche in Ostdeutschland sind weniger risikobereit als ihre Altersgenossen im Westen und wollen vor allem eines - Sicherheit:
"Man will einen sicheren Arbeitsplatz haben und man will auch einigermaßen Geld daran verdienen, also alles Dinge, mit denen man versucht, sich abzusichern, während im Westen noch viel stärker Faktoren eine Rolle spielen wie, na so im Bereich Selbstverwirklichung, man will interessante Jobs finden, viel mit Menschen zu tun haben. Also auf dieser Ebene gibt es noch Unterschiede. Aber in der Bereitschaft, das eigene Leben und die eigene Zukunft anzupacken, gibt es überraschenderweise relativ wenig Unterschiede im Bewusstsein der Jugendlichen von Ost und West."
Die 16jährige Sabrina Behr hat über 20 Bewerbungen für eine Ausbildung als Bürokauffrau abgeschickt und nur Absagen kassiert. Mit Arbeitslosigkeit ist sie aufgewachsen: Ihre Mutter hatte nach der Wende lange Zeit keine Arbeit, der Vater macht gerade eine Umschulung. Nun setzt sie sich mit dem Gedanken auseinander, nach Westdeutschland zu ziehen, wo sie, so wurde ihr im Arbeitsamt gesagt, vielleicht einfacher eine Lehrstelle finden könnte:
"Ich kenne das eigentlich nicht anders. Und dann habe ich auch große Angst davor, dass, wenn ich in einer anderen Stadt oder in einem anderen Bundesland bin, dass ich da halt als Ossi abgestempelt werde, wie es halt eben heutzutage so ist, Naja, taugt nichts, ist ja Ossi-Land und so. Also, davor habe ich auch dolle Angst, denn als Außenseiter oder so dazustehen."
Um den Einstieg in das Berufsleben zu schaffen, sind viele Jugendliche im Osten - trotz großer Vorbehalte - bereit, den Wohnort zu wechseln, wie das von der Politik immer wieder gefordert wird. Doch ein Wohnortswechsel ist zumeist nur denen möglich, die bereits eine gute schulische oder betriebliche Ausbildung durchlaufen haben und dadurch für westdeutsche Unternehmen interessant sind.
Auf der anderen Seite aber hat diese Mobilität für die wirtschaftliche Situation in den ostdeutschen Regionen fatale Folgen: Qualifizierte junge Menschen wandern in den Westen ab; der Aufbau Ost würde weiter verzögert oder gar verhindert. Und ohne wirtschaftlichen Aufschwung entstehen keine neuen Arbeitsplätze - ein Teufelskreis. Familienministerin Christine Bergmann kritisiert deshalb rückblickend die ungenügende Unterstützung ostdeutscher Unternehmen im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit:
"Deswegen ist es so notwendig, dass vor Ort auch eine Infrastruktur entsteht, ja, dass wir auch mit Sonderprogrammen eben sagen, wie kann man die gewerbliche Struktur noch stärken, die eben dann die Jugendlichen auch vor Ort aufgreift, damit die Regionen nicht veröden. Also die gut Ausgebildeten finden sicher auch in einer anderen Region noch einen Arbeitsplatz. Mehr Schwierigkeiten haben die Älteren dann, die es rauswippt aus dem Arbeitsmarkt. Aber wir wollen sie natürlich auch in der Region halten, und da gibt es noch erhebliche Probleme."
Alle Voraussetzungen, wie sie in der freien Wirtschaft erwartet werden, erfüllt die 19jährige Abiturientin Heide Niemann aus einem Dorf in der Nähe Magdeburgs. Ein Jahr Schulaufenthalt in London hat sie bereits hinter sich, nach dem Studium möchte sie in der Tourismus-Branche arbeiten.
"Ich werde erst mal das studieren, was mir gefällt und dann weiter sehen. Und ich überlege aber auch nicht, ob ich im Westen oder Osten studieren möchte, zum Beispiel. Ich suche mir das Fach, das ich machen will. Und ich habe mir auch überlegt, ob ich nicht vielleicht auch im Ausland studiere. Da bin ich nicht festgelegt, was das angeht."
Nie zuvor waren die Chancen für die Jugend größer als jetzt, ihr Leben selbst zu gestalten. Manche haben den Sprung in die Marktwirtschaft mühelos geschafft. Doch solange Arbeitslosigkeit und Benachteiligung das Leben bestimmen, werden viele ostdeutsche Jugendliche weiterhin nur wenige Perspektiven haben, betont Arthur Fischer. Er befürchtet daher, dass die Mauer im Kopf wieder stärker werden könnte, wenn die Erfahrungen der Jugendlichen in Ost und West so verschieden sind:
"Wenn das nicht gelingt, dort etwas zu schaffen, so dass die auch auf irgendetwas stolz sein können, dass sie auch das Gefühl haben, etwas erreicht zu haben, dann kann das sehr schnell umschlagen in eine Generation, die - sagen wir mal - sehr mutlos ist. Und das Gefährliche an solchen Dingen ist ja nicht nur diese Generation, sondern die Frage: was geben die dann mal an ihre Kinder weiter, welches Gefühl von Gesellschaft, von Zukunft und gelingendem Leben?"
Link: Lange Nacht: Kindsköpfe oder Verfassungsfeinde?
Der 16jährige Stefan Kühne aus Magdeburg gehört zu den Glücklichen, die auf Anhieb eine Lehrstelle ergattern konnten. Kurz vor seinem Realschulabschluss hat er seinen Ausbildungsvertrag schon in der Tasche. Ab August absolviert er in seiner Heimatstadt eine Lehre im Straßenbau.
Bei den meisten seiner Freunde jedoch sieht es eher düster aus. Viele haben noch immer keine Antwort auf ihre Bewerbungsschreiben erhalten. Andere wiederum müssen sich ihren Wunschberuf aus dem Kopf schlagen. Die Unsicherheit über die eigene Zukunft bestimmt die Themen, mit denen sich die Jugendlichen in Ostdeutschland beschäftigen. Das erlebt auch Stefan Kühne:
"Meiner Meinung nach gibt es Jugendliche, die richtig besorgt sind darum, und da müsste man etwas tun, man müsste die Jugend aufbauen. Nicht mit leeren Versprechungen irgendwie, aber man müsste die Jugendlichen aufbauen und sichern, dass Lehrstellen und Arbeitsplätze da mal sind, irgendwann mal."
10 Jahre nach dem Fall der Mauer zeigt sich nach wie vor eine tiefe Kluft zwischen den Jugendlichen in Ost und West. In der aktuellen Shell-Jugendstudie befragten die Autoren rund 4.500 Jugendliche aus den alten und neuen Bundesländern nach ihrer Situation, ihrer Lebenseinstellung und Zukunftsplanung. Bei ihrer Untersuchung waren sie davon ausgegangen, dass Ost- und Westunterschiede bei den heute 14- bis 25jährigen keine Rolle mehr spielen würden. Umso ernüchterter zeigt sich nun Arthur Fischer, Koordinator der Jugend-Studie:
"Wir haben nun mit Entsetzen in dieser Studie gesehen - zu meinem Entsetzen - dass die Unterschiede zwischen Ost- und West-Jugendlichen, unabhängig davon, dass beide bereit sind, jetzt wirklich Zukunft anzugehen, dass sie versuchen, sich in dieser Gesellschaft irgendwie einzurichten und mit dieser Gesellschaft klarzukommen. Davon unabhängig sind die Unterschiede zwischen West- und Ost-Jugendlichen genauso groß wie vor zehn Jahren. Da ist also nichts zusammengewachsen, da ist nichts an gleichen Lebensbedingungen in Ost und West passiert - gerade für Jugendliche, und das finde ich das bestürzende Ergebnis."
Auch viele Politiker hatten geglaubt, dass der Ost-West-Vergleich unter den Jugendlichen im vereinten Deutschland zur Jahrtausendwende nur noch aus historischen Gründen interessant sein könnte. Dies hatte auch die in Dresden geborene Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Christine Bergmann, angenommen:
"Wir haben alle gedacht, dass dieses Gemeinschaftsgefühl, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das Gefühl, dass man die Probleme auch miteinander bewältigt, schneller zu packen ist. Ich sehe aber, dass die Unterschiede zum Beispiel in meiner Generation - ich bin 60 - auch im Lebens-Gefühl und in der Frage, wie man sich in der neuen Gesellschaft zu Hause fühlt, größer sind als bei den Jugendlichen. Also da gibt es bei den Jugendlichen durchaus schon mehr Gemeinsamkeiten."
Besonders bedrückend sind die Arbeitslosigkeit und der Mangel an Ausbildungsplätzen. Beides kannte man in der ehemaligen DDR nicht. Jetzt erleben Kinder und Jugendliche, wie ihre Eltern plötzlich die Arbeit verlieren, und was für Belastungen das für die Familie mit sich bringt. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg liegt die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland bei den Jugendlichen unter 25 Jahren derzeit bei 18,2 %. Im Westen sind dagegen in dieser Altersgruppe "lediglich" 10,7% ohne Arbeit.
Angesichts dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass ein sicherer Job auf der Wunschliste der Jugendlichen an oberster Stelle steht. Viele fürchten, dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt weiter verschärfen könnte. Aus diesem Grund sei die Verantwortung der Politiker, der Jugend Planungsperspektiven zu geben, besonders groß, meint Arthur Fischer. Denn Jugendliche hätten diese Gesellschaft nicht mitgestaltet, in die sie hineingewachsen seien; sie hätten sie so vorgefunden:
"Ich müsste sozusagen dafür sorgen als Gesellschaft, dass ihre Fähigkeiten optimal ausgebildet werden, dass sie also auch mit allen Veränderungen der Gesellschaft gut klar kommen. Und genau das tun wir nicht. Wir kürzen eher Geld im Bildungsbereich, wir lassen oder haben zugelassen, da hat sich Gott sei Dank einiges geändert, aber wir haben hohe Raten bei Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen zugelassen. Das heißt, wir sagen auf der einen Seite: Du musst Dich auf die ungewisse Zukunft vorbereiten, und geben ihnen keine Möglichkeiten, sich vorzubereiten. Und wenn man von Betrug sprechen will, liegt hier der Betrug."
Das sieht die rot-grüne Bundesregierung anders: Stolz stellte sie im vergangenen Jahr das 2 Milliarden Mark teure Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit vor, mit dem der Lehrstellenmisere ein Ende bereitet werden soll. Doch Oppositions-Politiker werfen der Regierung hier Flick-Schusterei vor: Statt 200.000 seien nur 130.000 Jugendliche im vergangenen Jahr vermittelt worden. Zudem tauchen viele Jugendliche gleich mehrfach in der Förderstatistik auf.
Insgesamt werden derzeit nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes rund ein Drittel aller Lehrstellen in Ostdeutschland durch öffentliche Gelder gefördert. Zwar sei die Ausbildungsbilanz verbessert worden. Doch nicht die Wirtschaft habe für mehr Ausbildungsplätze gesorgt, so das Fazit, sondern der Staat.
Familienministerin Christine Bergmann hält den eingeschlagenen Weg für den derzeit einzig möglichen. Das Sofortprogramm wurde nach einigen Korrekturen für dieses Jahr verlängert:
"Ohne Ausbildung sind Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt nahezu chancenlos, das muss man einfach so sehen, deswegen muss man die erste Stufe schaffen. Wie das mit der zweiten Stufe weitergeht, das sehen die Jugendlichen übrigens nicht so pessimistisch: Sie machen sich im Moment die größere Sorge: Krieg ich denn die Ausbildung hin und kriege ich sie denn auch in einem Bereich, in dem es im Moment ganz gut ist, also denken wir mal an die neuen Berufe, wo man weiß, da ist eine große Nachfrage, gibt es da genug Ausbildungsplätze. Sie sehen die Chance, in den Arbeitsmarkt reinzukommen, wenn sie die Ausbildung haben, durchaus positiver und das ist es auch."
Doch genau hier liegt das ungelöste Problem. Nur ein kleiner Teil der geförderten Jugendlichen hat nach der Ausbildung bislang den Sprung in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis geschafft. Darüber hinaus landen viele Jugendliche in den verschiedensten Fördermaßnahmen der Bundesregierung. Staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bieten jedoch oft nur eine kurzfristige Lösung: Der sogenannte zweite Arbeitsmarkt holt zwar Arbeitslose vorübergehend von der Straße. Wenn die Beschäftigungsmaßnahme aber endet, stehen die meisten Betroffenen wieder ohne Arbeit da, wie die Statistiken zeigen.
Das Ergebnis ist, dass Jugendliche in allen neuen Bundesländern sehr viel länger vom Staat finanziert werden und sehr viel später eigenes Geld als ihre Altersgenossen im Westen verdienen. Ihr materieller Besitz ist daher im Durchschnitt auch sehr viel geringer. Dies steht im krassen Gegensatz zu den Erfahrungen ihrer Eltern: Zu DDR-Zeiten war die frühzeitige Bestimmung des Berufsziels selbstverständlich. Die Jugendlichen wurden schneller wirtschaftlich selbständig und gründeten früher Familien. Doch das ist heute kaum mehr möglich, beschreibt Arthur Fischer die Ausgangsbedingungen für die junge Generation:
"Die objektiven Schwierigkeiten liegen darin, dass wir Erwachsenen im Moment nicht in der Lage sind, zu sagen, unsere Gesellschaft wird in den nächsten 10, 20, 30, 40 Jahren so und so aussehen. Das wäre aber eine Voraussetzung dafür, dass Jugendliche ihr Leben so einigermaßen planen können. Zum Beispiel: Ich will das und das werden, ich will auf den und den Bereich setzen."
Das Beispiel der Stadt Cottbus im Süden des Landes Brandenburg zeigt, was diese Situation für die Kommunalpolitik bedeutet. Die Lausitz-Metropole mit 130.000 Einwohnern befindet sich im industriellen Umbruch. Fast jeder fünfte Jugendliche unter 25 Jahren hat hier keinen Job. Lehrstellen vor Ort sind knapp, vor allem in den gefragten neuen Berufen Informationstechnologie, Multimedia oder im Dienstleistungssektor.
Die traditionsreichen Arbeitgeber im Kohle- und Bergbau und im Energiebereich haben in den vergangenen Jahren massiv Stellen abgebaut. Allein im Braunkohle-Revier der Lausitz wurden seit 1990 rund 56.000 Arbeitsplätze zusammengestrichen. Nun kündigten die Betreiber nochmals Kürzungen bei den verbleibenden 9500 Beschäftigten an. Niemand habe jedoch gelernt, mit Arbeitslosigkeit umzugehen und den Jugendlichen eine Orientierung zu geben, betont Käte Günzel, Leiterin des Jugendamts in Cottbus:
"Die Freude war erst mal da, dass die Wende ist, alles ändert sich. Und wenn wir heute sehen, muss ich auch ehrlich aus der Sicht der Verwaltung sagen: Man hat auch gar nicht darüber nachgedacht, was passiert eigentlich mit der Jugend gleich nach der Wende? Und wenn wir heute analytisch reingehen, Statistiken auch ansehen, merken wir, dass eigentlich diese Generation so ein bisschen vergessen wurde."
Auch die Sozialdezernentin der Stadt Cottbus, Christina Giesecke, glaubt rückblickend, dass die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in Ost und West von der Politik völlig unterschätzt worden sind:
"Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass es wahrscheinlich ganz schwierig ist, dass Bundespolitiker, häufig aber auch Landespolitiker, die ja auch sehr oft beispielsweise bei den Landespolitikern nicht aus dem ostdeutschen Raum gekommen sind, sondern tatsächlich aus den alten Bundesländern gekommen sind, die Situation nicht richtig einschätzen können. Ich denke, es gibt doch nach wie vor einen großen Unterschied einfach in der Frage: Wie war das Leben vorher? Was hat man da erlebt? Welche Dinge haben einen da geprägt? Und da ist einfach die Geschichte sehr unterschiedlich verlaufen in den beiden Teilen Deutschlands."
Dabei ist viel Geld von West nach Ost geflossen. Doch die Frage, wie es für die Jugend eingesetzt werden sollte, wurde lange zurückgestellt. Die Probleme durch die Umstellung von der Plan- auf die Marktwirtschaft, der Zusammenbruch großer Industrien und der damit verbundene dauerhafte Verlust von Arbeitsplätzen standen im Vordergrund.
Viele Ansätze der westlichen Jugendpolitik wurden in der Übergangszeit einfach kopiert, ohne die Besonderheiten Ostdeutschlands einzubeziehen: Jugendarbeit, Tagesbetreuung der Kinder, Familienförderung oder Beratungsdienste mussten, wenn sie überhaupt bestanden, völlig umstrukturiert und zum Großteil personell umbesetzt werden. Die Kommune musste in kurzer Zeit Entscheidungen treffen und fühlte sich aufgrund fehlender Erfahrung oft allein gelassen, resümiert Käte Günzel:
"Ich denke, auch wir waren ein Stück weit überfordert mit manchem. Wir haben im guten Glauben und Wissen Projekte entwickelt. Und man stellt dann manchmal fest, oje, das war es vielleicht doch nicht so, man muss sich korrigieren. Es ist schade, dass man im Vorfeld oft nicht genau weiß: Was ist der richtige Weg? Aber ich denke, wenn man dann erkennt, das war es nicht, das war nicht das Optimale, korrigiert sich und sucht neue Wege, ist das auch okay."
Um längerfristig Jugendarbeit planen zu können, fordert die Sozialdezernentin Christina Giesecke von der öffentlichen Hand vernünftige Strukturen und finanzielle Garantien:
"Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass wir nun supertolle Jugendclubs, Jugendtreffs, etc. haben müssen. Aber wir müssen Geld haben, um Menschen, die mit Jugendlichen umgehen, die ihnen beratend zur Seite stehen, die ihnen helfend zur Seite stehen, die einfach nur ihr Leben gemeinsam mit ihnen leben, tatsächlich auch finanziert werden können. Und das geht eben nicht über ABM-Möglichkeiten, über SAM, über kurzfristige Anstellungsverhältnisse, sondern das geht nur über verlässliche Strukturen."
Eines der erfolgreichen Projekte in Cottbus, das 1991 zunächst mit ehrenamtlicher Jugendarbeit begann und heute 52 Mitarbeiter beschäftigt, ist der Verein Jugendhilfe. Er bietet unter anderem Streetwork, ambulante Hilfen oder Erziehungsberatung an. Im vergangenen Jahr wurden dort nahezu 1000 Kinder und Jugendliche betreut. Mittlerweile haben die Sozialarbeiter Kontakte zu sehr unterschiedlichen Jugendszenen aufgebaut. Der Verein, der Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband ist, hat in dieser Hinsicht auf kommunaler Ebene Vorbildfunktion.
Durch seine täglichen Erfahrungen mit hilfesuchenden jungen Menschen beklagt auch Geschäftsführer Jörn Meyer die schlechten Startbedingungen im Osten. Zwar empfinden Jugendliche ihre Situation selbst nicht als perspektivlos, weil sie es nicht anders kennen. Doch zu Hause werden sie mit den Gefühlen ihrer Eltern konfrontiert, so Meyer, die den Zusammenbruch eines Systems und den Verlust ihrer Wertevorstellungen erlebt haben:
"Sie nehmen das wahr, dass ihre Eltern frustriert sind, dass ihre Eltern keine Perspektive haben. Sie kommen ein Stück weit in die Verpflichtung, für ihre Eltern sorgen zu müssen, unter Umständen, das bringt Familienkonflikte mit sich, das bringt natürlich aber auch Frust auf das System ein Stück weit mit sich."
Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit sind häufig ein Beweis für Jugendliche, dass Politik etwas ist, was mit ihnen nichts zu tun hat. Sie haben das Gefühl, dass die Politiker auf ihre Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen. Um ihrem Frust zu entfliehen, versuchen die Jugendlichen, so Meyer, gemeinsam mit der Clique aus dem Alltag auszubrechen:
"Es ist bei Jugendlichen so, dass sie nicht die Existenzängste so äußern, dass sie sagen, oh Gott, was wird aus mir zukünftig. Sie suchen Alternativen, sie begeben sich in, was weiß ich, Rauschmittelkonsum, oder intensivere Freizeitausnutzung, Alternativen suchen, Lebensalternativen suchen, die oft auch einfach nicht gesellschaftskonform gehen und mehr Auffälligkeiten erzeugen."
Wer Aufmerksamkeit erregt, findet mehr Beachtung. Selbstkritisch beklagen die Jugendpolitiker in den neuen Bundesländern, dass sich nach diesem Prinzip die Institutionen vor allem um Jugendliche kümmern, die Probleme machen. Dramatisch sind - Experten zufolge - die Gewaltbereitschaft und die Dominanz der rechten Jugendkultur. Übergriffe auf Ausländer und Andersdenkende sind vielerorts an der Tagesordnung. Im Kampf gegen rechte Gewalt sind die Landesregierungen schnell bei der Hand, ent-sprechende Kampagnen finanziell zu unterstützen.
Seit der Wende steckt auch der Bund Millionen von Mark in Projekte, die gerade Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen erreichen sollen. Mit Programmen gegen Aggression und Gewalt und besonderer Präsenz an sozialen Brennpunkten will die Politik der Jugend Perspektiven bieten. Wenig Geld bleibt übrig für Jugendliche, die weniger oder nicht auffallen. Dabei haben auch diese Jugendlichen oftmals mit ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen zu kämpfen, in denen sie sich nicht zurechtfinden. Ihre Sehnsucht nach Stabilität wird deshalb immer stärker. Die Folge, so Jugendforscher Arthur Fischer: Jugendliche in Ostdeutschland sind weniger risikobereit als ihre Altersgenossen im Westen und wollen vor allem eines - Sicherheit:
"Man will einen sicheren Arbeitsplatz haben und man will auch einigermaßen Geld daran verdienen, also alles Dinge, mit denen man versucht, sich abzusichern, während im Westen noch viel stärker Faktoren eine Rolle spielen wie, na so im Bereich Selbstverwirklichung, man will interessante Jobs finden, viel mit Menschen zu tun haben. Also auf dieser Ebene gibt es noch Unterschiede. Aber in der Bereitschaft, das eigene Leben und die eigene Zukunft anzupacken, gibt es überraschenderweise relativ wenig Unterschiede im Bewusstsein der Jugendlichen von Ost und West."
Die 16jährige Sabrina Behr hat über 20 Bewerbungen für eine Ausbildung als Bürokauffrau abgeschickt und nur Absagen kassiert. Mit Arbeitslosigkeit ist sie aufgewachsen: Ihre Mutter hatte nach der Wende lange Zeit keine Arbeit, der Vater macht gerade eine Umschulung. Nun setzt sie sich mit dem Gedanken auseinander, nach Westdeutschland zu ziehen, wo sie, so wurde ihr im Arbeitsamt gesagt, vielleicht einfacher eine Lehrstelle finden könnte:
"Ich kenne das eigentlich nicht anders. Und dann habe ich auch große Angst davor, dass, wenn ich in einer anderen Stadt oder in einem anderen Bundesland bin, dass ich da halt als Ossi abgestempelt werde, wie es halt eben heutzutage so ist, Naja, taugt nichts, ist ja Ossi-Land und so. Also, davor habe ich auch dolle Angst, denn als Außenseiter oder so dazustehen."
Um den Einstieg in das Berufsleben zu schaffen, sind viele Jugendliche im Osten - trotz großer Vorbehalte - bereit, den Wohnort zu wechseln, wie das von der Politik immer wieder gefordert wird. Doch ein Wohnortswechsel ist zumeist nur denen möglich, die bereits eine gute schulische oder betriebliche Ausbildung durchlaufen haben und dadurch für westdeutsche Unternehmen interessant sind.
Auf der anderen Seite aber hat diese Mobilität für die wirtschaftliche Situation in den ostdeutschen Regionen fatale Folgen: Qualifizierte junge Menschen wandern in den Westen ab; der Aufbau Ost würde weiter verzögert oder gar verhindert. Und ohne wirtschaftlichen Aufschwung entstehen keine neuen Arbeitsplätze - ein Teufelskreis. Familienministerin Christine Bergmann kritisiert deshalb rückblickend die ungenügende Unterstützung ostdeutscher Unternehmen im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit:
"Deswegen ist es so notwendig, dass vor Ort auch eine Infrastruktur entsteht, ja, dass wir auch mit Sonderprogrammen eben sagen, wie kann man die gewerbliche Struktur noch stärken, die eben dann die Jugendlichen auch vor Ort aufgreift, damit die Regionen nicht veröden. Also die gut Ausgebildeten finden sicher auch in einer anderen Region noch einen Arbeitsplatz. Mehr Schwierigkeiten haben die Älteren dann, die es rauswippt aus dem Arbeitsmarkt. Aber wir wollen sie natürlich auch in der Region halten, und da gibt es noch erhebliche Probleme."
Alle Voraussetzungen, wie sie in der freien Wirtschaft erwartet werden, erfüllt die 19jährige Abiturientin Heide Niemann aus einem Dorf in der Nähe Magdeburgs. Ein Jahr Schulaufenthalt in London hat sie bereits hinter sich, nach dem Studium möchte sie in der Tourismus-Branche arbeiten.
"Ich werde erst mal das studieren, was mir gefällt und dann weiter sehen. Und ich überlege aber auch nicht, ob ich im Westen oder Osten studieren möchte, zum Beispiel. Ich suche mir das Fach, das ich machen will. Und ich habe mir auch überlegt, ob ich nicht vielleicht auch im Ausland studiere. Da bin ich nicht festgelegt, was das angeht."
Nie zuvor waren die Chancen für die Jugend größer als jetzt, ihr Leben selbst zu gestalten. Manche haben den Sprung in die Marktwirtschaft mühelos geschafft. Doch solange Arbeitslosigkeit und Benachteiligung das Leben bestimmen, werden viele ostdeutsche Jugendliche weiterhin nur wenige Perspektiven haben, betont Arthur Fischer. Er befürchtet daher, dass die Mauer im Kopf wieder stärker werden könnte, wenn die Erfahrungen der Jugendlichen in Ost und West so verschieden sind:
"Wenn das nicht gelingt, dort etwas zu schaffen, so dass die auch auf irgendetwas stolz sein können, dass sie auch das Gefühl haben, etwas erreicht zu haben, dann kann das sehr schnell umschlagen in eine Generation, die - sagen wir mal - sehr mutlos ist. Und das Gefährliche an solchen Dingen ist ja nicht nur diese Generation, sondern die Frage: was geben die dann mal an ihre Kinder weiter, welches Gefühl von Gesellschaft, von Zukunft und gelingendem Leben?"
Link: Lange Nacht: Kindsköpfe oder Verfassungsfeinde?