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Jugendpsychiater Fegert über Amokläufer
"Viele Täter sind gehänselt, gemobbt worden"

Viele Amoktäter machen Andeutungen über ihre Pläne. Wenn Mitschüler von solchen Äußerungen hören, sollte man sehr wachsam sein, sagte Jörg Fegert, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm im DLF. Auf diese labilen jungen Menschen zuzugehen in dem Versuch, sie wieder ins Leben hinein zu holen, sei wichtig.

Jörg Fegert im Gespräch mit Christian Floto |
    Ein Schild mit der Aufschrift "Warum" liegt nahe des Olympia-Einkaufszentrums in München, wo ein Amokläufer neun Menschen erschossen hat.
    Die Frage nach dem "Warum" stellen sich nach dem Amoklauf von München Bürger und Politiker. (AFP / Christof Stache)
    Christian Floto: Ein 18-jähriger junger Mann hat in München neun Menschen erschossen. Am Freitag war das – genau fünf Jahre nach den Morden im norwegischen Oslo und auf Utoya. Damals waren 77 Menschen ums Leben gekommen. Die Wahl des Zeitpunktes war kein Zufall.
    Der Münchner Amoklauf war geplant. Die Tat-Motive lassen sich im Nachhinein nur schwer rekonstruieren. Aber wie bei vielen Amokläufern handelte es sich um einen männlichen Einzelgänger, bestimmt von Wut und Hass. Psychisch auffällig.
    Prof. Jörg Fegert ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm.
    Jörg Fegert: Guten Tag.
    Floto: Wenn man sich Amok-Täter anschaut - lässt sich da ein typisches Muster erkennen, wenn es um die Voraussetzungen für eine solche Tat geht?
    Fegert: Täter, die einfach durch Stimmen eingegeben bekommen, irgendwas zu tun, das sind Psychosephänomene, aber am häufigsten sind es eigentlich narzisstisch entwickelte Persönlichkeiten, die extrem kränkbar sind, sehr von sich eingenommen sind, sich sozial immer stärker isolieren, vielleicht auch ängstlich bis sozial phobisch sind und einen immer stärkeren Hass auf ihre Umwelt aufbauen.
    Häufig ist es ja auch vorgeplant, prämeditiert, es gibt lauter, ja, Nachahmungsüberlegungen, die Vorbilder werden verherrlicht. Deshalb finde ich es auch gut, dass Sie jetzt keine Namen angesprochen haben, weil für diese Subkultur potenzieller Täter, vorangegangene Täter, quasi Helden sind, mit denen sie sich identifizieren.
    Floto: Woher kommt dieses extrem Kränkbare, Narzisstische? Ist das, in Anführungszeichen, "angeboren", ist ((spielt)) da Genetik eine Rolle oder gibt es da Urerfahrungen im Leben?
    Viele der Täter hatten eine Phase, in der sie in der Klasse gemobbt wurden
    Fegert: Ich denke, da spielt Genetik eine Rolle, wie immer sind es eigentlich biopsychosoziale Einflüsse. Es kann Genetik eine Rolle spielen, sehr viel ist sicher auch Erziehung, ist es eine gewisse Leistungsorientierung und Leistungsanspruch, denen man nicht genügen kann und die Fantasie, es doch sehr viel besser zu können. Letztendlich sind es immer sehr viele Faktoren, die zusammenspielen.
    Floto: Kann Opfererfahrung, also selbst Opfer gewesen zu sein, eine Bedeutung haben?
    Fegert: Nun, sehr viele der Täter hatten in ihrem Profil eine Phase, in der sie in der Klasse gehänselt, gemobbt wurden, nur wenn Sie sehen, wie vielen Kindern das in der Schule passiert, ist das kein hinreichender Erklärungsgrund. Ähnlich wie bei der Psychopathologie haben wir viele Phänomene, die sehr verbreitet sind, aber die Verarbeitung ist bei diesen Tätern hochspezifisch. Ob das tatsächlich ausschlaggebend ist, das mag ich eher infrage stellen.
    Floto: Jetzt das Erkennen: Lässt sich erkennen, dass da in der Verarbeitung von diesen negativen Erfahrungen irgendetwas nicht stimmt und schiefläuft? Können das geschulte Menschen erkennen, könnten Sie es erkennen, könnten es vielleicht auch Lehrerinnen und Lehrer erkennen?
    Eine Einengung im Denken
    Fegert: Zuerst möchte ich vor einer Hybris warnen. Sicher ist man nie, und hinterher – wie bei so einem Interview auch – ist man immer schlauer. Aber was sicher wichtig ist, ist bei solchen Persönlichkeiten, die sich stark zurückziehen, nach einem Interesse an Waffen zu fragen in der Anamnese, auch nach dem Computerspielgebrauch. Damit will ich nicht sagen, dass die Computerspiele per se eine Gefahr darstellen – viel zu viele Jugendliche spielen Computerspiele und die werden nicht alle Amokläufer –, aber wenn jemand schon eine Einengung im Denken hat, kann er an bestimmten Ego-Shooter-Spielen bestimmte Vorgänge üben, und je größer der Bildschirm ist, desto stärker ist das Immersionserleben, das Hineinsinken in die virtuelle Realität, und das hat natürlich, sagen wir mal, Abstumpfungseffekte und Übungseffekte. Nach all diesen Dingen müssen wir explorieren.
    Das Typischste ist, dass viele dieser Täter ein sogenanntes Leaking haben, dass schon irgendwas durchsickert – sie haben Pläne, sie beziehen Freunde mit ein, sie haben Tagebucheinträge. Also wenn Mitschüler von so was hören, von solchen Äußerungen, da sollte man, denke ich, sehr, sehr wachsam sein.
    Floto: Gibt es die Chance, dass diese Menschen mit diesem Profil profitieren können, wenn eine Bezugsperson auf sie zugeht und sie einfach mal, ich sag mal ganz banal in den Arm nimmt und sagt: Du hast ein schweres Leben, wir wissen das, du leidest unter dem Mobbing, wir wollen uns mal um dich kümmern. Diese Form von besonderer Zuwendung, kann die etwas ausrichten?
    "Wenn man es schafft, mit ihnen in Dialog zu kommen, ist viel gelungen"
    Fegert: Ja, absolut. Das Ansprechen, das draufzugehen, das Versuchen, den Jugendlichen wieder ins Leben hineinzuholen. Wenn wir sehen - überhaupt ist das Risiko für Selbstverletztendes Verhalten, für Suizidhandlungen ja im Jugendalter und jungen Erwachsenenalter deutlich erhöht, das geht später wieder zurück. Das sind hoch labile Phasen – wenn man hier es schafft, Jugendliche anzusprechen, mit ihnen in Dialog wieder zu kommen, dann ist sehr, sehr viel gelungen.
    Floto: Es ist ja in diesem Fall die Rede von einem stationären psychiatrischen Aufenthalt, wohl auch wegen Depressionen. Dort ist immer die Frage, werden Medikamente eingesetzt, und wenn es solche begleitenden medikamentösen Therapieverfahren gibt, kommt es doch auf die Wahl auch des richtigen Medikaments an. Es gibt ja Komponenten, die stimmungsaufhellend sind, und solche, die antriebssteigernd sind. Welches mögliche Gefahrenpotenzial schlummert eigentlich dann in solchen Medikamenten und in der Anpassung der richtigen Wahl?
    Fegert: Also noch mal, ich kommentiere jetzt nicht den Einzelfall, weil den kenne ich auch nicht …
    Floto: Nein, nein, es geht ganz allgemein.
    Fegert: Da gilt auch zu Recht die Schweigepflicht, aber prinzipiell ist es so, dass die moderneren Antidepressiva vor allem deshalb auch ihre Stärke haben, weil sie die Lethargie, die mit der Depression einhergeht, auch unterbrechen können und Verhalten wieder aktivieren können.
    Kommt diese Verhaltensaktivierung vor der Stimmungsaufhellung, die das Medikament auch mit sich bringt, dann ist ein gewisses Risiko da, dass Patienten zum Beispiel auch sich versuchen umzubringen, weil sie quasi schon wieder den Impuls spüren, aber noch die tiefe Traurigkeit haben. Also insofern muss man bei der Psychopharmaka-Therapie diese Nebenwirkungen und diese Wirkungsabläufe der Medikamente sehr stark im Blick behalten. Das ist gerade in Bezug auf die sogenannten SSRI-Medikamente sehr stark diskutiert worden, und hier sind diese Nebenwirkungen auch im Jugendalter am stärksten.
    Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen
    Floto: Auch da ist – letzte Frage – noch mal eine Differenzierung notwendig, bei wem das eingesetzt wird, also um welche Altersgruppe es sich handelt – ist das ein wichtiger Aspekt?
    Fegert: Das ist ein wichtiger Aspekt, den wir generell in der Kinder- und Jugendmedizin haben. Wir haben oft Medikamente nur bei Erwachsenen untersucht, und Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen, sie reagieren anders, und zum Beispiel diese Risiken sind bei Kindern und Jugendlichen erhöht. Deshalb brauchen wir auch spezifische Studien zu Kindern und Jugendlichen in der medizinischen Forschung.
    Floto: Das ist noch ein großes Feld, auch darüber werden wir uns gewiss weiter unterhalten. Ich bedanke mich bei Professor Jörg Fegert, er ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm. Vielen Dank, einen schönen Tag!
    Fegert: Ja, Ihnen auch einen schönen Tag und Grüße an Frau Steil und die Kollegin/Kollegen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.