Jörg Fegert ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Abteilungsleiter am Uni-Klinikum Ulm. Selbstverletzendes Verhalten in Schulen ist "sehr, sehr häufig", führte er im DLF aus. Und immer jüngere Jugendliche seien betroffen, warnte er. Fast 20 Prozent und teilweise noch mehr hätten im vergangenen Jahr gezeigt, dass sie sich irgendwann einmal selbst geschnitten oder selbst verletzt hätten. In die Übergangszeit zum Erwachsenenalter fielen zwei große Aufgaben, so Feger: die Aufnahme von Arbeit oder Studium und erste Liebesbeziehungen. Die Problematik besteht nach seinen Worten nun vor allem darin, dass diese Jugendlichen hier ihre Emotionen nicht regulieren können. Sie bekommen widerstreitende Gefühle nicht in den Griff. Die Selbstverletzung mit scharfen Gegenständen bringt ihnen in solchen Situationen eine Entspannungsreaktion. Oftmals verselbstständige sich dieses Verhalten dann, erläuterte Fegert.
Selbstmordgefährdungen müssen erkannt werden
Aus Sicht der Medizin gibt es laut Fegert zudem ein Behandlungsproblem. Und das hat mit dem sogenannten "Hotel Mama" zu tun. Man beobachte seit einiger Zeit, dass Jugendliche immer später von Zuhause auszögen, erläuterte Fegert. Dadurch verschöben sich die Entwicklungsherausforderungen wie der Übergang zur Selbstständigkeit weiter nach hinten. Das Psychiatrie-System in Deutschland sei nun aber sehr rigide strukturiert. Die stationäre Jugendpsychiatrie reiche bis zum 18. Lebensjahr, die ambulante vielleicht noch bis zum 21. Dann komme recht abrupt die Erwachsenenpsychiatrie. Diesen Verschiebungen im Alltag, diesem Übergangsbereich zwischen der Jugend- und der Erwachsenenpsychiatrie werde zu wenig Beachtung beigemessen, betonte Fegert. Das müsse sich ändern: "Wir müssen auch diejenigen erkennen, die besondere Hilfen brauchen, die vielleicht auch erhöht selbstmordgefährdet sind."
Das Interview in voller Länge:
Martin Winkelheide: Der Übergang von der Jugend in das Erwachsenenalter ist für jeden eine große Herausforderung. Jugendliche werden selbstständiger, lösen sich vom Elternhaus ab, entwickeln eine eigene Persönlichkeit, stellen Weichen für den Beruf. In dieser für die persönliche Entwicklung so wichtigen Zeit sind sie aber eben auch besonders verletzlich – es kann zu Krisen kommen und psychischen Erkrankungen, die nicht selten länger andauern. Manche Jugendliche halten den großen Druck nicht stand, sie greifen dann zu scharfen Gegenständen, verletzen sich selber, ritzen, verbrennen, schneiden sich. Im Schmerz spüren sie Erleichterung. Auf dem Berliner Hauptstadtsymposium der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde in der vergangenen Woche ging es um das Scheitern und Gelingen von Übergängen und um psychische Erkrankungen zwischen Jugend und Erwachsenenalter. Professor Jörg Fegert ist ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm, und er hat dort auch die Situation analysiert in Ulm und um Ulm herum. Schönen guten Tag, Herr Professor Fegert!
Jörg Fegert: Ja, guten Tag, Herr Winkelheide!
Winkelheide: Warum sind eigentlich die Übergänge oder der Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter, warum ist das so eine komplizierte Zeit?
Fegert: Allgemein muss man große Entwicklungsaufgaben schaffen, meistens der Übergang in Arbeit und, oder Studium, dann die ersten festeren Freundschaften, also Beziehungsaufnahme. Das sind die beiden großen Entwicklungsherausforderungen, und wir wissen ja auch schon, dass die normalen Jugendlichen immer später zu Hause ausziehen. Also dieser Übergang verschiebt sich mehr in das Erwachsenenalter hinein.
Winkelheide: Wird er dadurch schwieriger?
Fegert: Ich weiß nicht, ob er dadurch schwieriger ist. Es ist einfach ein Phänomen, das man beobachten kann. Wir nennen das manchmal spöttisch ein bisschen Hotel Mama. Es gibt ja heutzutage oft wenige Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen und den Eltern und deshalb auch wenig Gründe, zu Hause auszuziehen. Die Schwierigkeit entsteht, dass unsere Systeme relativ rigide aufgebaut sind. Das heißt die jugendpsychiatrische Behandlung endet stationär mit 18 Jahren, ambulant vielleicht mit 21 Jahren, und dann beginnt der erwachsenenpsychiatrische Bereich, und wir tragen diesem Übergangsphänomen zu wenig Rechnung und sehen vielleicht auch zu wenig, wie sich Krankheitsbilder oder Symptome in unterschiedlichen Kontexten im Jugendalter und im Erwachsenenalter anders bewerten lassen. Deshalb haben wir auch gesagt, wir müssen eigentlich auf dem Hauptstadtsymposium gemeinsam – wo Kollege Freiberger aus Greifswald und ich zum Vorschlag ein Eckpunktepapier gemacht haben –, wir müssen uns aufeinander zu bewegen zwischen den Fächern Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie und diesen Übergangsbereich stärker thematisieren.
Winkelheide: Wie kann das gehen, also außer, dass man sagt, wir arbeiten besser zusammen?
Fegert: Zuerst mal durch gemeinsame Weiterbildung. Sie haben das selbstverletzende Verhalten gerade angesprochen. Wir müssen die Musterweiterbildungsordnung ändern, weil für uns Jugendpsychiater ist selbstverletzendes Verhalten in Schulen etwas sehr, sehr häufiges. Fast 20 Prozent, teilweise noch mehr, der Jugendlichen zeigen, dass sie im letzten Jahr, dass sie sich mal geschnitten und verletzt haben. Die sind nicht alle hoch psychisch auffällig und schon gar nicht alle suizidal. Wir müssen da also sehr genau schauen differenzialdiagnostisch, wer braucht welche Form der Behandlung. Wenn Erwachsenenpsychiater 25-jährige, 30-jährige Personen mit selbstverletzenden Verhalten sehen, haben die fast alle eine schwere Persönlichkeitsentwicklungsstörung. Wir reden als bei der gleichen Symptomatik über eine ganze andere Diagnose und therapeutische Reaktionen. Diese Übergänge, wo verschwindet manches Verhalten, wo ist es jugendtypisch, wo haben wir noch Entwicklungsverzögerungen, wo man aber aus der Betreuung der Psychiatrie auch rausgeht – wir reden viel über Care leaver, die diese etwas längere Betreuung brauchen, aber dann selbstständig sind –, und die anderen Übergänge, wo schwere Störungen früh erkannt werden müssen, ich glaube, das können wir besser gestalten.
Winkelheide: Bleiben wir mal beim selbstverletzenden Verhalten. Sie sagten, bei Kindern und Jugendlichen ist es oft anders motiviert. Also worauf deutet sozusagen das Symptom hin, wenn Kinder und Jugendliche sich selbst verletzen?
Fegert: Es sind vor allem Jugendliche, immer jüngere Jugendliche, aber ich würde nicht so sehr von Kindern sprechen, und das ist vor allem eigentlich ein Problem der Emotionsregulation. Ich kann nicht mit irgendeiner Sache, die mich bedrängt, mit widerstreitenden Gefühlen umgehen, und das Schneiden an sich, das Selbstverletzen bringt eine Entspannungsreaktion, und das kann dann quasi wieder erlernt werden und verselbstständigt sich. Gleichzeitig konnten wir in großen Untersuchungen zeigen, dass ein Zusammenhang auch mit Jugendmoden und Trends bestehen, zum Beispiel in der Goth-Subkultur ist selbstverletzendes Verhalten deutlich höher als zum Beispiel bei Jugendlichen, die viel Sport treiben. Also wir haben auch soziale Einflüsse, und da muss man sich sehr, sehr genau mit den Strömungen im Jugendalter auskennen, um genau sortieren zu können, wie pathologisch, wie psychiatrisch auffällig dieses Verhalten ist.
Winkelheide: Sie meinen, es kann auch sein, dass es einfach nur eine vorübergehende Phase ist.
Fegert: Genau, und das ist ja eigentlich auch des Ermutigende: Wir sehen, dass eigentlich drei Viertel dieser Verhaltensweisen wieder verschwinden. Diese Patienten wollen wir auch nicht zu sehr psychiatrisieren, sondern wir wollen diese Entwicklung aus der Fürsorge heraus unterstützen, aber wir müssen auch die erkennen, die besondere Hilfe brauchen, die vielleicht auch erhöht selbstmordgefährdet sind.
Winkelheide: Wann würden Sie da sozusagen hellhörig werden? Ist das dann eine Frage des Alters, ist das eine Frage, wie ausgeprägt die selbstverletzenden Tendenzen sind?
Fegert: Nein, es ist vor allem eine Frage, ob Suizidgedanken dabei sind, weil wir sprechen ganz klar auch in den Leitlinien von sogenannten nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhalten, also ein Verhalten, was eingesetzt wird, um Spannungen zu reduzieren, aber wo keine Absicht da ist, sich umzubringen. Es ist wirklich ganz, ganz wichtig, danach zu fragen, besteht eine Absicht, sich zu töten, gibt es schon Pläne. Und hier, das muss man sehr, sehr ernst nehmen.
Winkelheide: Soweit Professor Jörg Fegert, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum in Ulm. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
Fegert: Ich danke Ihnen!
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Anm. d. Red.: Wir haben das ursprünglich eingesetzte Foto gegen ein neutraleres ausgetauscht, nachdem uns eine Nutzerin darauf aufmerksam gemacht hat, dass es bei Betroffenen unangenehme Erinnerungen und Gefühle auslösen könnte.