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Jugendroman "Das Herz von Libertalia"
Anne Bonny - die sympathische Piratin

Anne Bonny ist die Protagonistin des Jugendromans "Das Herz von Libertalia". Libertalia ist ein sagenhaftes Piratenreich, das die junge Anne, die nach grenzenloser Freiheit hungert, auf einer Kaperfahrt durch die Karibik erreicht. Ein Roman über eine historische Seefahrerin im 18. Jahrhundert, die von Anna Kuschnarowa als "sehr sympathisch" gezeichnet wurde.

Anna Kuschnarowa im Gespräch mit Tanya Lieske |
    Die Jugendbuchautorin Anna Kuschnarowa
    Die Jugendbuchautorin Anna Kuschnarowa (picture-alliance/dpa/Tim Brakemeier)
    Tanya Lieske: Der Büchermarkt für junge Leser mit Tanya Lieske am Mikrofon. Heute geht es um eine historische, aber keineswegs sehr bekannte Seefahrerin. Es handelt sich um eine Piratin. Anne Bonny hieß sie, sie lebte heftig und starb jung, und es gibt einen Roman dazu. Geschrieben hat ihn Anna Kuschnarowa, mit ihr bin ich jetzt über Studioleitung verbunden.
    Wenn man ihrem neuen Roman, Frau Kuschnarowa, Glauben schenken darf, dann gehörte Anne Bonny zu den Menschen, die alles tun was sie wollen und wenig bereuen?
    Kuschnarowa:Ja, ich denke, das kann man so sagen. Das Bild, das sich abzeichnet deutet ganz darauf hin, ein Leben ohne Kompromisse.
    Lieske: Anne Bonny ist eine historisch gesicherte Person, geboren 1690 in Kinsale in Irland. Ihre Spur verliert sich um 1720 in der Karibik. Wie haben sie von dieser Person erfahren?
    Ich war schon als Kind unglaublich fasziniert von Abenteurern, vor allem Piraten, und noch mehr natürlich von den paar Piratinnen, die uns heute überliefert sind. Von daher ist mir Anne Bonny schon sehr lange ein Begriff, und ich kreise schon seit sechs Jahren um das Thema, und war dann sehr froh als mein Verlag gesagt hat, wenn du das machen willst, dann los.
    Historische Romane sind immer auch ein Risiko, wie haben sie sich dieser Figur genähert, wie haben sie recherchiert?
    Kuschnarowa:Ich muss sagen, es war natürlich ein bisschen schwierig, da es sich bei Anne Bonny eben nicht um eine Königin handelt, von daher ist die Quellenlage gar nicht so dicht gesät. Es gibt auch sehr divergierende Angaben was beispielsweise ihr Geburtsdatum betrifft. Das bewegt sich alles so zwischen 1690 und 1702. Auch ob sie jetzt in der Stadt Cork oder in Kinsale geboren ist, ist umstritten. Eine meiner Hauptquellen war die "General History oft he most notorious Pirates", ein dickes Buch, das 1724 in seinem ersten Band erschienen ist, 1728 folgte der zweite Band. Er wird einem Captain Charles Johnson zugeschrieben, man vermutet aber, dass sich hinter dem tatsächlichen Autor entweder Daniel Defoe, oder oppositionelle Schriftsteller Nathaniel Mist verbirgt.
    Entwurf einer recht sympathischen Piratin
    Lieske: Also zwei Schriftsteller die möglicherweise reisen wollten, selber aber nicht gereist sind, die sich dann aber eine Piratengeschichte ausdenken. Das heißt, schon in ihrer Quellenlage vermischt sich einiges an Fakt und Fiktion. Hat das Ihnen vielleicht die Arbeit auch ein bisschen leichter gemacht, dass sie dann gesagt haben, dann kann ich mir ja auch das ein oder andere ausdenken?
    Kuschnarowa:Ja, auf jeden Fall, schon alleine was Bonnies Charakter betrifft, bin ich mir sicher, man könnte auch eine etwas weniger sympathischere und wesentlich brutalere Frau aus der Quellenlage gestalten. Da die Quellenlage aber eben doch sehr brüchig und unsicher ist, hatte ich die Möglichkeit eine, zumindest mir, recht sympathische Piratin zu entwerfen.
    Lieske: Ich spekuliere jetzt mal, was Ihnen Ihre Anne Bonny so sympathisch macht: Sie ist sehr wahrheitsliebend, sie ist sehr mutig, sie hat es auch gerne wenn es anderen gut geht, aber sie liebt und führt auch selbst ihr eigenes gutes Leben. Bin ich da ungefähr auf der richtigen Spur?
    "Ich habe mich ihr sehr nahe gefühlt"
    Kuschnarowa: Ja, auf jeden Fall.
    Lieske: Ist sie vielleicht auch ein bisschen so etwas wie ein Alter Ego von Ihnen selbst?
    Kuschnarowa:Das können wahrscheinlich meine Freunde besser beurteilen. Aber ich muss gestehen, ich habe mich persönlich ihr sehr nahe gefühlt.
    Lieske: Es ist ziemlich sicher, dass Anne Bonny ein uneheliches Kind war. Ihr Vater war Jurist, ihre Mutter Dienstmagd. Sie ist in Irland aufgewachsen, ist dann später mit ihrer Familie in die Südstaaten gegangen, sie hat eine Ausbildung bekommen, konnte lesen und schreiben, und sie wollte schon sehr früh diversen Frauenschicksalen entgehen. Sie hat schon sehr früh Männerkleider getragen. Wie kam das eigentlich zustande, dass sie sich wie ein kleiner Junge, später wie ein Mann anziehen musste?
    Kuschnarowa:Das fand ich besonders interessant an der Geschichte von Anne Bonny, dass ihr Vater sie eigentlich schon im Alter von fünf oder sechs Jahren in Jungenkleider gesteckt hat, und Anne als einen entfernten Verwandten ausgegeben hat. Anne konnte auf diese Weise schon sehr früh die andere Geschlechterrolle kennenlernen, welche natürlich etwas freier war als die Mädchenrolle zu der damaligen Zeit. Ich glaube, das hat sie auch gestählt für ihre Zeit später auf dem Piratenschiff.
    Freiheit kann man nicht von Verantwortung loskoppeln
    Lieske: Also eine super Vorbereitung. Es ist auch literarisch gesehen eine klassische Hosenrolle, und lässt sich ja sehr viel ausloten. Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung, wie werden Freiheiten von einer Gesellschaft gegeben, oder auch verweigert. Da gibt es eine Szene wo sie Jungenkleider von einem Indianer erbittet, mit dem sie befreundet ist, und sie sagt, ich zitiere: "Erstaunlich wie die Freiheit manchmal daher kommt, grob und nicht ganz sauber, wie diese Jungenkleider." Was glauben sie, Anna Kuschnarowa, ist Freiheit, ist Weiblichkeit, eine Sache der Erziehung und eine Sache der Kleidung?
    Kuschnarowa:Also, ich denke, man kann die Freiheit einerseits gar nicht von der Verantwortung loskoppeln, das ist eigentlich auch ganz wichtig, es ist etwas, das sie im Laufe ihres Lebens lernt, dass Freiheit eben nicht gleichzusetzen ist mit Egoismus. Ich denke aber auch, dass wir bis heute ein bisschen in den typischen Geschlechterrollen gefangen sind.
    Lieske: Anne bricht da aus. Der Ruf zur Toleranz finde ich läuft wie so ein roter Faden in ihrem Buch, das natürlich auch ein Buch über Kaperfahrten, über viel Gewalt und über alle möglichen Todesfälle ist. Sie sind unterwegs in der Zeit des sogenannten "Goldenen Zeitalters" der Piraterie, eine Zeit in der große Handelsschiffe mit Stoffen und mit Steinen, mit Opium, Edelhölzern und Metallen unterwegs waren, von Südamerika nach Europa. Was hat sie so fasziniert an dieser Zeit?
    Kuschnarowa: Ich glaube es liegt daran, dass diese Zeit eine ganz wichtige Umbruchphase ist. Einerseits ist das 17. Und 18. Jahrhundert das Zeitalter der Utopien, aber auch der Staatstheorien. Es ist das Zeitalter der Frühaufklärung, es ist eine Zeit, in der ganz viele Menschen auch auf der Flucht sind. Die Bauern verlassen ihre Scheunen, es gibt Bauernaufstände, es gibt Religionskriege, für das 17. Jahrhundert gab es nur ein einziges Jahr, in dem es keinen Krieg in Europa gab. Diese ganze Zeit ist einerseits Flucht, aber auch Verheißung, und das Meer spielte dabei eine ganz besondere Rolle. Das Meer bildete sozusagen die Passage zu der Neuen Welt, in der dann tatsächlich auch eine Gegenwelt zu der bestehenden Ordnung etabliert werden konnte.
    Lieske: Darauf bezieht sich der Titel des Romans, den sie geschrieben haben: "Das Herz von Libertalia". Was war Libertalia?
    Kuschnarowa: Libertalia ist eine sagenumwobene Piratenrepublik, die sich auf Madagaskar befunden haben soll. Es gibt eigentlich nur zwei schriftliche Quellen, in denen Libertalia erwähnt wird, und zwar befinden die sich ebenfalls in der "General History of most notorious Pirates". Man muss aber wohl davon ausgehen, dass es Libertalia, so wie es in der "General History" dargestellt wird, nie gegeben hat, sondern dass es sich eigentlich um einen politischen Essay handelt, in dem diese geistigen neuen Strömungen verarbeitet werden, als Gegenentwurf zu der bestehenden Welt. Was ich sehr interessant finde ist, dass diese Piratenrepublik als Staatsform schon eine repräsentative Demokratie ist. Das ist natürlich wegweisend.
    Lieske: Repräsentativ insofern, als dass die Repräsentanten des Kleinstaates gewählt wurden und abgesetzt werden konnten. Das galt ja, glaube ich, auch für Piratenschiffe. Die Mannschaft konnte ja ihren eigenen Kapitän selbst bestimmen, das schreiben sie ja auch, und auch wieder absetzen.
    Kuschnarowa: Ja, wobei auf den Piratenschiffen eine direkte Demokratie bestand. In Libertalia gab es jedoch Repräsentanten, die für sie eben wieder gewählt haben.
    Lieske: Sie haben ja schon eine ganze Reihe von Jugendromanen geschrieben, das ist keineswegs ihr erster. "Junkgirl" zum Beispiel handelt von einer Jugendlichen, die Drogenabhängig ist. In "Djihad Paradise" geht es um einen jugendlichen Selbstmörder, der glaubt im Namen Gottes zu handeln. Für ihren Roman "Kinshasa Dreams", der von dem Fluchtweg eines Afrikaners nach Europa berichtet, haben sie den Gustav-Heinemann-Friedenspreis bekommen. All diese Themen sind eher aktuell. "Das Herz von Libertalia" ist Ihr erstes historisches Thema, gibt es für sie dennoch ein Bezug zu dem Heute, in dem junge Frauen leben?
    Kuschnarowa: Ich denke doch. Ich muss gestehen, ursprünglich hatte ich tatsächlich vor, eine wilde Räuberposse letztlich zu schreiben. Je tiefer ich mich dann in den Stoff eingewühlt habe, und je mehr ich bemerkte wie viel diese Umbruchphase tatsächlich mit der Gestalt der heutigen westlichen Welt zu tun hatte, desto politischer wurde dieser Roman, obwohl es natürlich ein historischer Roman ist. Was unsere heutige Gesellschaft betrifft, würde ich zwar nicht so weit gehen zu sagen, dass wir schon in einer Postdemokratie leben, aber ich habe doch den Eindruck, dass unsere Demokratie in einer tiefen Krise steckt. Es gibt auch ganz interessante diametrale Bewegungen: Einerseits ist natürlich Frauenpolitik inzwischen auch schon in der großen Politik angekommen, da gibt es auch sehr schöne Fortschritte, aber gleichzeitig gibt es an der Basis, und zwar in ganz Europa schon wieder Gegenströmungen, die das alles für Kokolores halten. Sie meinen, dass das nicht nötig sei und dass es doch besser wäre, langsam wieder Kurs auf ein traditionelleres Familien- und Rollenbild zu nehmen. Ich finde das ein bisschen besorgniserregend und von daher hat sich dieser Roman mir auch angeboten, einfach um noch einmal zu zeigen, wie es aussieht, wenn man in solch einer traditionellen Gesellschaft lebt.
    Lieske: Es wird Anne Bonny am Ende der Prozess gemacht. Um 1720 hat die Englische Marine ihre Kontrollen in der Karibik verschärft und den Piraten den Kampf angesagt. In den Prozessakten haben sie einen Satz gefunden, ich zitiere mal: "Auch meine Männer werden befragt. ‚Sie hatte das Zeug zur Anführerin und hätte uns anstacheln können, der ganzen Welt den Kampf anzusagen', sagt John Harper." Sie, Frau Kuschnarowa, erlauben sich dann noch einen Autorinnensatz: "Gut so, wenn es aktenkundig ist, dass Frauen führen können." Hat es Ihnen besonders Spaß gemacht an dieser Stelle da noch einmal drauf hinzuweisen?
    Kuschnarowa:Ja, natürlich, das konnte ich mir einfach nicht verkneifen!
    Lieske: Es macht natürlich auch auf eine Schwierigkeit aufmerksam. Sie schreiben von ihrem Schreibtisch des 21. Jahrhunderts aus, und kriechen in die Seele, in die Psyche einer Frau, die vor 300 Jahren gelebt hat. Wie sehr haben Sie sich dieser Schwierigkeit, die Zeit zu überbrücken, genähert, wie historisch ist ihre Figur oder wie modern dann doch in ihrem Bewusstsein?
    Kuschnarowa: Ich denke, sie ist ein Zwitter. Sie ist einerseits sicherlich ein Kind ihrer Zeit. Andererseits spielen natürlich auch modernere Gedankengänge da eine ganz wichtige Rolle. Ich glaube, man muss sich von dem Gedanken verabschieden, tatsächlich zu hundert Prozent in ein historisches Bewusstsein hineinkriechen zu können. Nichtsdestotrotz glaube ich aber, dass Anne Bonny eine wahrhaftige Rebellin war, der es sicherlich auch unangenehm gewesen ist, die traditionelle Frauenrolle auszufüllen.
    Lieske: Sie finden kleine Kompromisse. In Europa, es war ja die Zeit des Hochbarock, es ging sehr manieriert zu, mit Puder, Perücken und Kratzfüßen. Man redete Französisch, und wenn nicht Französisch, dann doch sehr umständlich. Ich finde manchmal Anklänge in ihrer Sprache, wenn bestimmte Figuren in manchen Situationen sagen "mich düngt", oder wenn von "Kauffahrteischiffen" die Rede ist. Mussten sie darum hart ringen oder ist das Ihnen einfach so zugeflogen?
    Anne Bonny ist eine klassische Hosenrolle
    Kuschnarowa: Ich hatte ja sehr viel recherchiert und ich bin so ein Typ, bei dem solche Ausdrücke einfach kleben bleiben. Mich fasziniert das auch, wie sich Sprache verändert. Von daher fand ich es gar nicht so schwierig diese Begriffe, relativ organisch wie ich hoffe, in diesen Text einzuflechten.
    Lieske: Wir hatten darüber gesprochen, dass Anne Bonny auch eine klassische Hosenrolle ist, und sie loten das bis zum letzten aus. Es gibt tatsächlich eine weitere Piratin von der wir wissen, und die beiden haben sich auch getroffen. Diese Piratin hieß Mary Reed und war ebenfalls in Frauenkleidern unterwegs. Die beiden treffen sich, was passiert?
    Aufruf zur Toleranz in allen Bereichen des Lebens
    Kuschnarowa: Klassischerweise wird kolportiert dass Mary Reed als Mark Reed auf einem Handelssegler unterwegs war, das von Anne Bonny gekapert wurde. Mark Reed wurde schanghait, das heißt an Bord aufgenommen als neues Mannschaftsmitglied. Es scheint eine Weile gedauert zu haben, bis ihre Verkleidung sozusagen gefallen ist, und es wird gerne kolportiert, dass Mary, Jack und Anne eine folie à trois gepflegt haben. Ich fand das interessant, weil man das eben nicht nachweisen kann, ob dem tatsächlich so war. Man kann nur nachweisen, dass sie auf dem gleichen Schiff gewesen sind. Ich fand es ganz interessant Jack, außen vor zu lassen.
    Lieske: Die beiden werden ein Liebespaar. Ihr Roman ist eben auch ein Aufruf zur Toleranz in allen Bereichen des Lebens.
    Kuschnarowa: Ja, unbedingt.
    Lieske: Frau Kuschnarowa, sie sind 1975 in Würzburg geboren, und schreiben auf ihrer Webseite sie hätten, ich zitiere: "Russische, ukrainische, kubankosakische und hugenottische Wurzeln. Wie darf ich mir das vorstellen?
    Kuschnarowa: Das ist eine gute Frage. Ich betreibe im Moment so etwas wie Familienarchäologie. Der Hintergrund ist der, dass mein Großvater aus dem Kuban stammt und tatsächlich Kosake war. Ihn hat es in den Zeitläufen des Ersten Weltkriegs in deutsche Kriegsgefangenschaft verschlagen. Unsere Familiengeschichte reicht aber noch bis in das Zaristische Russland zurück. Das finde ich eben unheimlich interessant und ich werde in Kürze nach Südrussland aufbrechen, um selber mehr darüber zu erfahren und mein nächstes Buch darum kreisen zu lassen. Die hugenottische Wurzel gehört zu der Frau meines Großvaters, dieser Name verweist darauf, dass dieser Zweig der Familie ursprünglich hugenottische Wurzeln hatte.
    Lieske: Eine Autorin auf Wurzelsuche. Sie haben jetzt zwischen den Zeilen schon eine Frage beantwortet, die man immer gerne am Schluss stellt. Ihr nächstes Projekt ist die Geschichte ihrer eigenen Familie?
    Kuschnarowa: Ja, das finde ich unheimlich interessant, wie die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts auf eine kleine, unbedeutende Familie im Odenwald eingewirkt hat.
    Lieske: Wir sind gespannt. Anna Kuschnarowa, "Das Herz von Libertalia", vielen Dank für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Anna Kuschnarowa
    Das Herz von Libertalia, Beltz & Gelberg, 464 Seiten, 7,95 Euro