Christiane Florin: Glaubt man der aktuellen Shell-Jugendstudie, dann glaubt ein Drittel der 12–25-Jährigen in Deutschland an Gott. Eine neue Untersuchung der Universität Tübingen schaut beim Thema Religion etwas genauer hin. Gut 7200 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 11 und 12 sowie Auszubildende aus Baden-Württemberg wurden befragt. Es gab Fragebögen und auch Einzelinterviews. Wie sie sich Gott vorstellen, ob sie mit ihren Eltern über Glaubensfragen sprechen und welche Einstellung sie zu den Kirchen haben – das wollten die Wissenschaftler zum Beispiel wissen. Beteiligt haben sich evangelische, katholische, freikirchliche, muslimische und konfessionsfreie Jugendliche. Eine Besonderheit: Eineinhalb Jahre später haben die Wissenschaftler dieselben Fragen denselben Jugendlichen noch einmal gestellt, so dass wir hier nicht nur über eine Momentaufnahme reden.
Reden möchte ich nun mit einem der Autoren der Studie, mit dem evangelischen Theologe Friedrich Schweizer, der uns aus Tübingen zugeschaltet ist. Guten Morgen, Herr Schweizer.
Friedrich Schweitzer: Guten Morgen, Frau Florin.
Florin: Das ist nicht die erste Jugendstudie, die Sie machen. Welcher Befund ist Ihrer Ansicht nach besonders auffallend?
Schweitzer: Besonders auffällig und überraschend ist die große Zahl der Jugendlichen, die sagen, dass sie beten. Das sind drei Viertel der Jugendlichen. Das ist ein Befund, der mit vielen Vorurteilen aufräumt, dass Jugendliche kein Interesse an Religion hätten, dass sie keine Formen der religiösen Praxis mehr bräuchten.
Florin: Sie schreiben: "Heutige Jugendliche sind nicht einfach religiös gleichgültig oder uninteressiert, sie sind keine religiösen Analphabeten, wie oft behauptet wird." Warum wird das eigentlich behauptet?
Schweitzer: Ich glaube, das hängt vor allem an veralteten Sichtweisen und Erwartungen. Noch immer wird in der Öffentlichkeit und in der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung Religion mit Kirche gleichgesetzt. Religiös ist, wer in einen Gottesdienst geht, religiös ist, wer sich mit den Aussagen von Kirche identifizieren kann, während man sich nicht genügend bewusst macht, dass die Religion der Jugendlichen in hohem Maße individualisiert ist, also mit eigenen Fragen und eigenen Formen zusammenhängt. Das muss man sich klarmachen, um den Blick für die jungen Menschen zu öffnen.
"Leben nach dem Tod - die Frage spielt eine wichtige Rolle"
Florin: Auf die Kirchen möchte ich später zu sprechen kommen. Zunächst noch etwas zum Glaubensbefund: 22 Prozent bezeichnen sich als religiös, 41 Prozent als gläubig, ein knappes Drittel kann mit Religion gar nichts anfangen. Wie ist der Unterschied zwischen gläubig und religiös?
Schweitzer: Wir haben das bei den jungen Leuten selbst erfragt. Das war nicht unser eigener Gedanke, sondern die jungen Leute fanden das ganz wichtig. Der Unterschied besteht darin, dass sie bei "religiös" häufig an Kirche denken und mit Kirche fangen sie wenig an. Aber selber sehen sich viele als gläubig an, dabei geht es um ihre Sinnfragen, um ihr Verhältnis zu Gott, es geht auch darum, dass sie so etwas wie einen letzten Halt im Leben suchen. Dabei spielt auch die Frage nach dem Leben nach dem Tod für viele Jugendliche eine ganz wichtige Rolle und der Glaube bezieht sich auch darauf.
Florin: Etwas mehr als die Hälfte, 52 Prozent, sagt: "Ich glaube an Gott." Sie haben das Beten vorhin als überraschenden Befund genannt. Dieser Gott als Gesprächspartner, ist dies ein persönlicher Gott, den man sich als Gegenüber vorstellt?
Schweitzer: Für viele Jugendliche ist das ein personales Gegenüber, zu dem sie offenbar sprechen können, zu dem sie beten können. Dass sogar weit mehr Jugendliche sagen: "Ich bete" als "Ich glaube an Gott" ist überaus spannend. Das zeigt: Sie sind sich häufig in der Gottesfrage doch etwas unsicher, fragend und auch kritisch. Aber dann, wenn es um Situationen, Lebenserfahrungen geht, dann ist das Beten für sie wichtig, wenn sie so gar nicht sicher sind, wie das mit Gott eigentlich aussieht. Das finde ich spannend. Das zeigt die versuchende, ausprobierende Haltung der jungen Leute.
Florin: Wird häufiger in einer glücklichen Situation, also aus Dankbarkeit, gebetet oder eher, wenn man sich unter Druck fühlt oder sogar in Not.
Schweitzer: Es kommt durchaus beides vor. Aber natürlich gilt der alte Satz: "Not lehrt beten" auch für die Jugendlichen heute. Es sind immer wieder Grenzerfahrungen, Grenzsituationen, in denen es jemand schlecht geht. Da liegt es nahe zu beten. Aber es ist nicht die einzige Situation, das wird auch deutlich, dass auch positive Erfahrungen der Schönheit der Welt, ein Sonnenuntergang oder an was man denken mag, die Jugendlichen zum Beten bringt.
Suche nach Verantwortung und Gestaltungsfreiheit
Florin: Schauen wir uns das Verhältnis zu den Kirchen etwas genauer an, Sie haben es vorhin schon angesprochen. Da sagen zunächst 61 Prozent der Befragten, die Kirche müsse sich ändern, wenn sie eine Zukunft haben wolle. Eineinhalb Jahre später sind es schon 71 Prozent? Womit erklären Sie sich diesen Anstieg?
Schweitzer: Das entspricht einer Tendenz, die sehr genau wahrgenommen werden kann: Dass die Jugendlichen, je älter sie sind, desto weiter sich von der Kirche entfernen. Allerdings muss man hinzufügen: Es sind nicht nur die Jugendlichen, die sich von der Kirche entfernen, sondern die Kirche öffnet sich viel zu wenig für Jugendliche im höheren Alter. Auf evangelische Seite ist das die Zeit nach der Konfirmation, also ab 14 Jahren, auf katholischer Seite die Zeit nach der Firmung. Hier gibt es viel zu wenig Angebote, die für junge Menschen attraktiv sind, und viel zu wenig Möglichkeit für junge Menschen, sich aktiv und mit eigener Verantwortung einzubringen.
Florin: Und das betrifft beide Kirchen gleichermaßen?
Schweitzer: Im Grund ja. Beide Kirchen haben zu wenig Tradition, jungen Menschen eigene Verantwortung zu übertragen, ihnen Handlungsfreiheit zu geben, Gestaltungsfreiheit in der Kirche. Das ist vielleicht in der evangelischen Kirche schon etwas weiter, wenn man nach Möglichkeiten frage, aber im Grunde würde ich es für beide Kirchen so sehen.
Florin: Wir haben in dieser Woche viel berichtet über sexuelle Gewalt gegen Kinder in der katholischen Kirche, das Thema war vorhin in den Nachrichten. Haben Sie nachgemessen, wie sich das auf das Kirchenbild auswirkt?
"Die Kirche muss zeitgemäßer werden"
Schweitzer: Das haben wir in den Gesprächen mit den Jugendlichen immer wieder gehört, dass solche Wahrnehmungen von Kirche verstören sind, dass viel Vertrauen kaputtgegangen ist. Insofern ist das ganz deutlich ins Kirchenbild eingegangen. Und trotzdem: Wenn die jungen Leute sagen, die Kirche müsse sich ändern, denken sie mehr, die Kirche müsse zeitgemäßer sein, offener für die Glaubensweisen und Ausdrucksformen junger Menschen. Die Missbrauchsdiskussion berührt dann doch sehr viel stärker die Erwachsenen.
Florin: Haben Sie festgestellt, dass konfessionelle Unterschiede trennend wirken? Oder auch der Unterschied zwischen christlichen Jugendlichen einerseits und muslimischen andererseits? Anders gefragt: Wenn Sie feststellen, Religion ist wichtig, ist das eher etwas Trennendes oder etwas Verbindenden?
Schweitzer: Man kann sehr deutlich von drei Gruppen von Jugendlichen sprechen. Wir haben keine großen Unterschiede mehr zwischen evangelischen und katholischen Jugendlichen. Das sind die christlichen Jugendlichen, die etwa 60 Prozent aller Jugendlichen ausmachen. Dann haben wir die Konfessionslosen, die allerdings eine gemischte Gruppe sind. Das wird in unserer Untersuchung sehr deutlich. Es gibt einen Anteil bei den Konfessionslosen, die selber sagen: Wir glauben nicht an Gott, wir haben kein Interesse an religiösen Fragen. Das muss man wahrnehmen und sehr ernstnehmen. Und die dritte Gruppe, das sind die jungen Muslime mit einem Anteil von etwa 5 bis 10 Prozent. Diese jungen Muslime zeichnen sich durch einen sehr viel stärkeren Glauben, durch eine sehr viel stärker traditionelle Haltung gegenüber den Lehren des Islam und des Koran aus, als man das für christliche Jugendlichen sagen kann.
"Wir brauchen dringend Studien zu muslimischen Jugendlichen"
Florin: Aber das ist eine Gruppe, die noch nicht besonders gut erforscht ist.
Schweitzer: Das würde ich sagen. Unsere Studie hat mit fast 400 muslimischen Jugendlichen einen erheblichen Anteil von muslimischen Jugendlichen erfasst. Aber repräsentativ ist das nicht. Wir brauchen dringend repräsentative Untersuchungen. Das kann man nur erreichen, wenn man spezielle Untersuchungen zu jungen Muslimen in Deutschland durchführt.
Florin: Vielen Dank. Da wäre noch viel Redebedarf. Jugend ohne Gott – ein Klischee. Mit dem evangelischen Theologen Friedrich Schweizer von der Universität Tübingen habe ich über eine neue Jugendstudie gesprochen, an der er mitgewirkt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jugend-Glaube-Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht (Glaube – Wertebildung – Interreligiosität / Berufsorientierte Religionspädagogik). 284 Seiten, 24.90 Euro. Waxmann-Verlag 2018.