In Jugenheim, dem 1.600-Einwohner-Dorf* mitten in den rheinhessischen Weinreben, kommt der Frühling früher als anderswo. Dass hier auf den warmen Empfang für Flüchtlinge nach Silvester und den sexuellen Übergriffen eine Eiszeit folgt, halten Sarah Kirchhoff und Uli Röhm als Mitbegründer der Initiative "Willkommen im Dorf" für ausgeschlossen.
"Man lebt schon lange miteinander, und natürlich kommen neue dazu. Aber die werden aufgenommen in die Gemeinschaften, die schon da sind."
"Die Erfahrung war im Dorf, dass das, was in Köln passiert ist, nichts mit unserer Realität zu tun hat."
In der Konzertpause stecken die ehrenamtlichen "Paten" der Willkommensinitiative die Köpfe zusammen. Wolfhard Klein erzählt von seiner Realität. Dazu gehören die Kinder einer afghanischen Alleinerziehenden, die der Pensionär gemeinsam mit seiner Frau fördert: "Wir haben heute schon geübt. Drei Stunden Deutsch gepaukt."
Dass die afghanische Familie nach 15 Monaten immer noch keinen Termin hat, um ihren Asylantrag einzureichen, ist ein Problem auch für die Kleins. Die Paten fürchten keine Übergriffe von Asylbewerbern, sondern dass "ihre" afghanische Familie abgeschoben werden könnte.
"Da bleibt kein Raum für Anfeindungen"
Das Weindorf Jugenheim feiert gern, und die Asylsuchenden, ob alleinstehend oder mit Familie, sind immer dabei. Sportfest, Martins-Umzug, Plätzchen-Verkaufen auf dem Adventsmarkt - unzählige Gelegenheiten, sich besser kennenzulernen. Das Benefizkonzert in der Kirche - eine davon. In der Pause gesellt sich Nora zu den Paten. Warum das syrische Mädchen nicht mehr im Jugendchor singt, will die Pfarrerin wissen. Nora gestikuliert wild. Sarah Kirchhoff fragt nach.
- "Hast du viel Arbeit,?"- "Ja." -"Du hast viel zu tun?" "Ja!"
Mit Lernen und Organisieren ist Nora derzeit ausgelastet. Aber irgendwann wird sie wieder mit proben. Die Frauen und Mädchen aus den Flüchtlingsfamilien turnen und singen in den Vereinen, die Männer spielen Fußball beim TuS Jugenheim. Das Netz ist dicht geknüpft. Allein im Chor singen drei Paten und mehrere gelegentliche Helfer mit. Immer und überall, so die Pfarrerin, findet sich ein Ehrenamtlicher, der Beschwerden aufnehmen und im Konfliktfall vermitteln würde.
"Das ist - glaube ich - auch gut, dass es Personen gibt, wo man weiß, die könnte ich ansprechen, selbst wenn ich ein Problem hätte."
"Da bleibt kein Raum für Anfeindungen", meint Wolfhard Klein. Ist Jugenheim gefeit gegen Ressentiments?
"Herzlich willkommen bei "Willkommen im Dorf!" Zu einem der monatlichen Patentreffen im Saal der evangelischen Gemeinde reist eine tschechische Zeitungs- und Buchautorin an, aus ihrem Wohnort Saarbrücken. Alena Wagnerová interessiert, was der Impfstoff ist, der das rheinhessische Dorf immun zu machen scheint gegen die kursierende Verunsicherung und den vereinzelt aufflammenden Fremdenhass. Warum sich die Jugenheimer so für die Flüchtlinge ins Zeug legen, fragt die Journalistin in die Runde von dreißig Paten.
"Warum machen Sie das? Denn es kursieren solche Gerüchte: Ja, die Deutschen haben ein schlechtes Gewissen, und deswegen machen sie das."
Lachen, dann: nachdenkliche Stille. "Ich glaube, wir haben uns als soziale Wesen wiederentdeckt", versucht Christian Schlüter die Lust an der Hilfsbereitschaft zu erklären.
"Und ich glaube auch, dass es mit der deutschen Geschichte zu tun hat. Also, dass es bei vielen eine Rolle spielt, dass die jüngere deutsche Geschichte von Vertreibung geprägt war, die von Deutschland ausgegangen ist und in Deutschland durch den Krieg einfach passiert ist."
Kein AfD-Direktkandidat
Für die Jugenheimer Künstlerin Susanne Ritter ist der Punkt, "dass die ganz junge deutsche Geschichte, dieses Sich-Herausnehmen‚ wir kriegen alles, wir können uns alles leisten, wir sind so schlau, wir sind so pünktlich, wir sind so gut - und dazu nehmen wir euch die Bananen billig weg, die Kleidung billig weg, die Baumwolle billig weg. Aber wir sind nicht bereit, das, was wir daraus bewirtschaften, mit euch zu teilen. Und ich hab' mich schon vor 20 Jahren gewundert, dass die nicht einfach kommen. Und jetzt sind sie da."
Zu viele, sagen manche Politiker im rheinland-pfälzischen Landtagswahlkampf. Vor allem die rechtspopulistische AfD denkt laut über totale Abschottung nach. Ein Helfer aus dem benachbarten Stadecken-Elsheim warnt die Jugenheimer beim abendlichen Patentreffen vor allzu großem Optimismus: die Ressentiments - wenn auch öffentlich nicht ausgesprochen - reichen tief in die bürgerliche Mitte, hat er in Gesprächen erfahren.
"Wo ein ehemaliger Lehrer, mit dem ich mich 30 Jahre gut verstanden habe, sagt: ‚Wir müssen Patrioten sein. Das passt in unseren deutschen Volkskörper nicht hinein, was da alles kommt.' Und ich denke, wir werden im Frühjahr auch hier in Rheinland-Pfalz zehn, fünfzehn Prozent AfD haben."
Bislang ist die Alternative für Deutschland im Wahlkreis Ingelheim noch nicht aktiv. Sie stellt hier keinen Direktkandidaten und bleibt gesichtslos. Bis auf vereinzelte Hausbesuche hat der Wahlkampf in Jugenheim noch nicht begonnen. Erst Ende des Monats bauen Parteienvertreter ihre Stände auf dem Platz vorm kleinen Supermarkt auf. Ob einer die dörfliche Willkommenskultur attackieren wird - noch offen. Dass jeder, der das wagt, Paroli geboten bekommt, steht aber fest.
Am Wochenende veröffentlichte Alena Wagnerová in der Tageszeitung Lidové Noviny ihre Reportage über Jugenheim, "weil mir das wichtig ist, dass da irgendwie auch in Tschechien andere Stimmen auf der breiten Ebene kommen. Und dass es etwas dagegen gibt - gegen diese Xenophobie, die Ängste, die Unkenntnis."
"Orientace" heißt die Beilage, in der die Jugenheim-Story erscheint. Und Orientierung, so meint die tschechische Schriftstellerin, biete das Dorf der Alltagshelden durchaus.
* Anmerkung der Redaktion: In der Hörfunk-Fassung ist von 1.200 Einwohnern die Rede. Das ist falsch und deshalb im Onlinetext korrigiert.