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Juli Zehs Blick auf die Welt

Es sind nicht unbedingt die Thesen der Juli Zeh, denen man sich anschließen möchte. Sondern es ist der Eifer, mit Themen, die alle angehen, irgendwie zu Rande kommen zu wollen, mit dem ihre Aufsatzsammlung "Alles auf dem Rasen" überzeugt. Die Themen reichen von der Politik über Gesellschaft und Rechtswesen bis zu den Reisen, die sie unternommen hat.

Von Michael Schmitt |
    Es gibt bekanntlich mehr Spielarten, wie Literatur und Leben sich aufeinander beziehen können, als in den gängigen Diskussionen zum Ausdruck kommen. Und nicht wenige davon lassen sich der Vorstellung vom "Engagement" in Verbindung bringen. Nun hat dieser Begriff aber mittlerweile eine etwas leidige Geschichte hinter sich, in deren Verlauf er, kurz gefasst, von einer wirkungsmächtigen Pathosformel zur blässlichen Allerweltsfloskel heruntergekommen ist. Schon Elias Canetti hat bekanntlich an den Vorlesungen von Karl Krauss die schiere "Besessenheit" dieses Sprach- und Zeitkritikers bewundert – und demgegenüber die herkömmliche Vorstellung vom "engagierten" Schriftsteller als recht blässliche Gestalt hintangesetzt.

    Mit diesem Vorbehalt im Hinterkopf beugt man sich heute dann beispielsweise über das aktuelle Buch von Juli Zeh, in dem ihre Aufsätze und Essays aus den Jahren 2000 bis 2005 zusammengetragen worden sind - über Texte, die mal dem Tag verhaftet gewesen sind, die aber oft auch über reine Aktualität hinausweisen, und sich alles in allem wie eine Art von Begleitbuch zu dem literarischen Werk lesen lassen. Fragen wir also ganz direkt: Wie hält Juli Zeh es also mit "Besessenheit" und "Engagement"?

    "Besessenheit ist da einen ganze Menge drin, allerdings richtet die sich eher auf Sprachlich-Ästhetisches; da spüre ich beim Schreiben eine Obsession, eine Besessenheit, die mich vorantreibt, jedes einzelne Wort 50 mal auf die Goldwaage zu legen. Beim Inhaltlichen oder Politischen, wenn man es so nennen möchte, ist tatsächlich der etwas schwachbrüstige Begriff Engagement passender, weil ich da gar nicht so heißblütig bin, dass ich das eine Besessenheit nennen würde. Das empfinde ich eher als einen relativ natürlichen, organischen Prozess der Meinungsbildung und -äußerung."

    Das ist vielleicht ein bisschen kokett, denn es ist hierzulande nicht mehr selbstverständlich, dass jüngere Schriftsteller sich mit einiger Regelmäßigkeit in gesellschaftlich-politischen Fragen zu Wort melden. Wer außer Burkhard Spinnen oder Georg Klein fällt einem da sonst noch ein?

    Juli Zeh jedenfalls nützt ihre Prominenz, die sich ihrer Schlagfertigkeit genauso wie ihrem Talent zur Pointierung verdanken. "Alles auf dem Rasen"" - der Titel der Aufsatzsammlung entstammt einem etwas obszönen Kinderreim - ist deshalb vor allem eine Art von Itinerar einer "mündigen Staatsbürgerin". Es sind nicht nur einzelne Texte, die zählen, sondern die Konsequenz, mit der sie sich einmischt.

    Die Themen reichen von der Politik über Gesellschaft und Rechtswesen bis zum Schreiben und zu den Reisen, die sie unternommen hat. Und auch wenn nicht jeder dieser Texte für die Ewigkeit taugt, hat man doch nur selten das Gefühl, dass sich so ein Aufsatz voll und ganz in der Tagesaktualität verbraucht hat, dass es also nicht nötig gewesen wäre, ihn noch mal abzudrucken. Das dürfte zu Teilen an der burschikosen Schnoddrigkeit liegen, mehr aber noch daran, wie diese Aufsätze entstehen, wie Juli Zeh sich die Themen zurechtlegt und die Ziele bestimmt.

    "Ich weiß es inhaltlich. Es ist immer so, dass ich mir vor dem Schreiben genau überlege, was ist das Thema und was sind die Seiten daran, die mich besonders interessieren? Und wo finde ich anhand dieses Themas einen Weg, etwas vorzuführen, etwas aufzuzeigen, was mir besonders wichtig ist? Deswegen weiß ich im Grunde inhaltlich, was am Ende stehen soll. Und das Ganze ist dann mehr wie ein Weg zu einem Ziel, das man in der Ferne schon sieht. Die Frage, wie der Weg verlaufen wird, bleibt offen. Der Endpunkt aber ist ganz anders als beim literarischen Schreiben schon klar und steht mir deutlich vor Augen."

    Nun steht aber über dieser Aufsatzsammlung auch noch als Untertitel "Kein Roman", und das ist erst mal überraschend: Wie könnte es denn überhaupt anders sein, fragt man sich? Aber dieser Untertitel hat eine verquere Logik, denn natürlich ist das zwar kein Roman, aber jeder Aufsatz für sich und auch die Sammlung aller sind dennoch Fiktion, denn jeder Aufsatz ist notwendigerweise eine Zurichtung des Blicks auf die Welt.

    Denn Literatur kann dem, was gemeinhin als Journalismus betrieben wird, einiges hinzufügen, sagt Juli Zeh, und das kultiviert sie ganz bewusst. Als Beispiel kam die altehrwürdige Form des Lehrdialoges dienen, die mehr oder weniger verkappt in manchen dieser Texte aufgegriffen wird.

    "Die Form ergibt sich, wobei es mir natürlich schon auch bewusst ist, mit welchen Traditionen ich dann gerade arbeite. Nur ist das keine formelle Entscheidung vorab, sondern ich weiß - gerade auch bei den juristischen Texten - dass ich versuchen sollte, ein sehr sperriges Thema auch für einen nicht juristisch gebildeten Leser ansprechend aufzubereiten. Und dann schicke ich eben zwei Figuren ins Gefecht, der eine heißt eben oft 'F' – 'F' wie 'Freund', der immer ein Stellvertreter für einen Dialogpartner ist. Und die beginnen dann, sich zu unterhalten, manchmal geht das sehr locker und umgangssprachlich; manchmal ist das Thema aber auch so schwierig, dass der Dialog strenger sein muss, um die Argumentation zu stützen und den Weg vorzugeben."
    Und so umkreisen die beiden dann beispielsweise die juristische Struktur der Europäischen Union und was das für deren innere Dynamik, für deren Chancen auf Entwicklung bedeutet. Das ist ja per se kein besonders ersprießliches Thema, der Aufsatz spendet auch nicht wirklich Trost für den Leser, wird aber durch das Hin und Her zu einem durchaus informativen, aber auch ironisch gebrochenen Vergnügen.

    "Die Idee, mit Dialogen zu arbeiten - und das war sicher schon bei Sokrates der Ansatz - besteht darin: Wenn man die Gesprächsform wählt, kann man die Herleitung des Gedankens und dadurch die Mechanismen des menschlichen Denkens und der Meinungsbildung zeigen. Das erleichtert zum einen das Verständnis und macht natürlich die Sache besser lesbar und auch witziger. Es gibt dadurch Raum für Humor. Die Aufsätze versuchen immer auch eine humoristische Komponente mit unterzubringen. Es hat aber noch eine weitere Funktion, die ich für mich sehr wichtig finde: Ich distanziere mich bei diesen Aufsätzen bewusst von einem rein journalistischen Zugriff, der zumindest in bestimmten journalistischen Gattungen mit der Voraussetzung arbeitet, es gäbe so etwas wie objektive Wahrheiten, es gäbe Fakten, und die könne man präsentieren, und jemand anderes könne das quasi eins zu eins übernehmen. Das ist ein Ansatz, der für Schriftsteller und für literarisches Arbeiten natürlich nicht gilt. Und ich versuche deswegen, auch durch die Fiktionalisierung eine gewisse Subjektivität in die Texte hinein zu bringen"

    Es gibt in diesen Texten also fast immer einen Überschuss an Form, der in der bloßen Angemessenheit dem Thema gegenüber nicht aufgeht. Und da, wo dieser Überschuss fehlt, wo die Nähe zum tagesaktuellen Leitartikel zu groß wird, wirken die Aufsätze dünnblütig und verbraucht. Es ist vor allem das Spiel mit den Formen und auch das Spiel mit den Sprachen, etwa mit derjenigen der Juristen im Kontrast zu derjenigen der Literatur, das diese Textsammlung so anregend macht, das auch die Eigenständigkeit von Juli Zeh bezeichnet. Dieses Spiel sagt nämlich zugleich auch: Ich nehme mich selbst nicht tierisch ernst, das muss nicht alles ewig gültig sein. Es sind also nicht unbedingt die Thesen, die sie vertritt, denen man sich anschließen möchte, sondern es ist der nicht nachlassende Eifer, mit Themen, die alle angehen, irgendwie zu Rande kommen zu wollen, der überzeugen kann.

    "Wenn man so stark individualistisch ist, muss man sich ja als Mensch mit jedem Satz quasi neu erzeugen und sagen, 'ich bin so und so' oder 'das und das ist meine Haltung zur Welt'"

    Juli Zeh erschafft sich den Hallraum, innerhalb dessen sie nachdenkt, sozusagen auch immer wieder neu. Und das würde man sich von manchem anderen Zeitgenossen ebenfalls wünschen. Sie ist natürlich nicht so provokativ wie etwa alte Haudegen vom Schlage Botho Strauss oder Martin Walser, und das muss sie auch nicht sein. Sie führt einfach nur vor, wie man sich ein Verhältnis zu seiner Welt erarbeiten kann und dass dies ein unendlicher Prozess bleiben muss, bei dem der Weg interessanter ist als die eine große Wahrheit, die womöglich hinter dem Horizont wartet.