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Julia Rothenburg: "hell/dunkel"
Wenn die Mutter stirbt

Valerie ist 19, und ihre Mutter wird an Krebs sterben. Dann taucht plötzlich Halbbruder Robert auf und macht alles noch komplizierter. Wie schon in ihrem Debüt „Koslik ist krank“ beschäftigt sich Julia Rothenburg auch in ihrem zweiten Roman mit dem Immer-Noch-Tabuthema Krankheit und Tod.

Von Julia Schröder |
Die Schriftstellerin Julia Rothenburg und ihr Roman "hell dunkel"
Keine Angst vor letzten Fragen: die junge Berliner Autorin Julia Rothenburg (Buchcover: Frankfurter Verlagsanstalt / Autorenportrait privat)
"Fahre jetzt doch ins Krankenhaus. Ruf zurück." Mit dieser SMS geht es los. Geht alles wieder los, beziehungsweise geht alles weiter. Als die 19-jährige Schülerin Valerie die Nachricht ihrer Mutter liest, weiß sie Bescheid. Die Mutter, mit der sie allein in einer kleinen Wohnung lebt, hat Krebs, seit längerem, und jetzt wird es wieder schlimm. Oder noch schlimmer. Und noch etwas ist dieses Mal anders, wie sie feststellt, als sie heimkommt:

"Die Tür ist nicht abgeschlossen. In der Wohnung riecht es nach ihrer Mutter, schwach noch nach ihrem Parfum, aber vor allem nach Camels. Eigentlich riecht es in der Wohnung immer so, der Geruch haftet an den Tapeten, so oft man auch lüftet. Valerie hasst das, aber gegen so etwas kann man nichts machen. Da hilft auch das beste Raumspray nichts. Diesmal ist es allerdings frischer Rauch, das merkt man sofort. (…)
'Hallo', ruft Valerie. Ihr Herz rast jetzt. Sie schleicht, aber die Dielen knarren unter ihrem Schritt. Vor lauter Rauch kann man ihn kaum erkennen, aber es ist Robert, der da auf dem Sofa sitzt und mit dem Finger auf eine Zigarette klopft, als wäre nie etwas gewesen."
Die sterbende Mutter ruft den Halbbruder auf den Plan
Robert, der da langsam im Rauch erkennbar wird, das ist Valeries vier Jahre älterer Bruder, ihr Halbbruder, um genau zu sein. Der Unterschied ist deutlich: Valeries Haut ist so hell wie ihr Haar, Robert hat das Dunkle von seinem italienischen Vater geerbt. "hell/dunkel" hat die Berliner Autorin Julia Rothenburg ihren zweiten Roman genannt, mit einem Schrägstrich zwischen den beiden Adjektiven, weil er abwechselnd aus der Perspektive von Valerie und der von Robert erzählt ist. Aber hell und dunkel zugleich ist auch die ganze Geschichte dieses kleinen Familiendreiecks, das sich mal hierhin, mal dorthin verzieht.
Valerie steht kurz vor dem Abi, hat noch einen spätpubertären Trotz in sich, fühlt sich schnell blöde "angeglotzt" und kompensiert ihre Trauer und ein diffuses Schuldgefühl mit Wutausbrüchen und kleinen Fluchten. Dann rennt sie raus, auf die Straße, in Kneipen oder zu ihrem Nicht-so-richtig-Freund Ali. Auch Valeries Halbbruder Robert treibt es immer wieder nach draußen. Auch er hat das Gefühl, Mutter und Schwester etwas schuldig geblieben zu sein. Und das nicht grundlos: In einer anderen Stadt hat Robert schon einen Start ins Erwachsenenleben versiebt, mit Gekiffe und abgebrochener Lehre, verlassener Freundin und halb angefangenem Therapieversuch. Jetzt ist er zurück. Dieses Mal will er alles besser machen, für Valerie und die Mutter da sein, sich kümmern. Dabei muss er aber mal um mal erfahren, dass weder Selbstvertrauen noch das Zutrauen der anderen wachsen können auf unsicherem Grund – was die ebenso unstete Valerie ihn nach vorsichtigen Annäherungen auch immer wieder spüren lässt:
Die Geschwister diskutieren, streiten - und kommen sich näher
"Wie kann es sein, denkt er dann, dass zwischen dem hier und vorhin im Imbiss nur wenige Stunden liegen. Dass man in dem einen Moment so ein Gefühl hat, so eine Stimmung, und im anderen ein ganz anderes Gefühl, als hätte es nie einen Übergang gegeben, als sei alles, was man fühlen und denken kann, ganz unverbunden, kleine Fetzchen im Nichts."
Die gemeinsamen Tage der Halbgeschwister in der kleinen Wohnung sind gezeichnet vom Bemühen, so etwas wie ein normales Leben zu improvisieren, unterbrochen von niederschmetternden Besuchen bei der krebskranken Mutter im Krankenhaus, von Augenblicken der Nähe und abbrechenden Verständigungs-Versuchen. Dass Robert Valerie irgendwann sein Lieblingslied "River of no Return" als Ohrwurm einpflanzt, ist kein Zufall. In der Hoffnung der einsamen, verwirrten Seelen Marilyn Monroe und Robert Mitchum in Otto Premingers Western, auf dem "Fluss ohne Wiederkehr" zueinander zu finden, spiegelt Julia Rothenburg Roberts Sehnsucht nach Zugehörigkeit und bereitet den Leser auf die entscheidende Wendung der Geschichte vor: Nachdem der Arzt den beiden Halbgeschwistern im Krankenhaus eröffnet hat, dass die Mutter nicht mehr lange leben wird, kommen Robert und Valerie einander näher, als Geschwister, auch Halbgeschwister das dürfen.
Eine Autorin mit Faible für ernste, existenzielle Themen
Julia Rothenburg, Jahrgang 1990, hat schon in ihrem vor zwei Jahren erschienenen Debüt "Koslik ist krank" eigene Erfahrungen mit dem Klinik-Milieu verarbeitet, mit dem unfreiwilligen Eintauchen in eine Welt, in der ganz andere Regeln gelten als draußen, mit dem kafkaesken Verlust der Illusion von Selbstbestimmung, die den Gesunden ganz unzweifelhaft scheint. In "hell/dunkel" steht aber nicht die Innensicht der Kranken, der Sterbenden im Mittelpunkt; sie wird nur in den wenigen, zumeist nicht beendeten Sätzen der Mutter angedeutet. Hier geht es vielmehr um die Hilflosigkeit der Angehörigen angesichts des Unausweichlichen – und der Tatsache, dass das Leben ja immer, immer weiter geht, mit all seinen kleinen Ärgernissen und kleinen Forderungen, und dass der Tod der einen für die anderen eben auch bedeutet, eine Sorge weniger zu haben. Die impulsive Valerie artikuliert diese paradoxe Empfindung einmal deutlich so:

"Wie kann man gleichzeitig so traurig und so glücklich sein? Ist die glücklich, weil sie traurig ist, endlich? Oder ist sie glücklich, weil da gar nicht nur Trauer ist, sondern etwas, das sich beinahe anfühlt wie Tatendrang, Abenteuer, etwas Neues? Als würde endlich alles gut."

Im nächsten Augenblick – und das ist typisch für das Hell-Dunkel-Erzählen von Julia Rothenburg - schlägt die Stimmung wieder um. Denn gerade im Reich der großen Gefühle gibt es keine Verlässlichkeit. So würden ihre beiden jungen Protagonisten das natürlich nicht ausdrücken, denn Valerie und Robert ist genauso wie ihrer Schöpferin kaum etwas so wichtig wie die Vermeidung von falschem Pathos.
Im Reich der großen Gefühle, ohne kitischig zu werden
Auf diese Weise bekommt der Roman fast etwas Naturalistisches, zumal Rothenburg den herbstlichen Bergmannkiez, das Ufer des Landwehrkanals und die anderen Kreuzberger Handlungsorte mit großer Genauigkeit und viel Sinn für das stimmige Detail zeichnet. Dass sich nach und nach entscheidende Weichenstellungen erhellen, aber sehr vieles trotzdem im Dunkeln bleibt, zeigt die Versiertheit der Autorin im Umgang mit der literarischen Leerstelle. Glücklicherweise bewahrt all das den Roman dann doch vor einer gewissen Jugendbuchhaftigkeit, der er gelegentlich zu verfallen droht. Das hat mit den Erzählperspektiven zu tun, die Julia Rothenburg gewählt hat. Während ihr die fast noch kindliche Valerie glaubwürdig gelingt, wirkt der 23-jährige Robert stellenweise übertrieben ahnungslos.
Am Ende ist es die Mutter, die Valerie und Robert buchstäblich mit dem letzten Atemzug das Schuldgefühl nimmt und den Weg ins Offene weist, obwohl die Kinder sie seit vielen Jahren als kalte, angespannte und verbitterte Frau erlebt haben. Dass die Sterbende schließlich, so versehrt und in allem eingeschränkt sie sein mag, unerwartet über ihren Tod selbst entscheidet, ist fast ein bisschen viel des Guten – und zugleich eine Ahnung von Helligkeit, die man sich angesichts der Dunkelheit, von der dieses Buch erzählt, ganz gern gefallen lässt.
Julia Rothenburg: "hell/dunkel"
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main. 316 Seiten, 20 Euro.