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Julian Barnes: "Die einzige Geschichte"
Eine literarische Reise in die Paarhölle

Der 1946 geborene Julian Barnes gilt als Essayist unter den Romanciers. Auch in seinem neuen Roman "Die einzige Geschichte" steckt eine Abhandlung. Sie zerlegt in raffiniert gesetzten Schnitten den bürgerlichen Traum der romantischen Liebe. Eine Fahrt in die Hölle.

Von Ursula März |
Cover von Julian Barnes Roman "Die einzige Geschichte". Im Hintergrund ist ein zerwühltes Bett zu sehen.
Abrissbirne der idealistischen Liebesidee: "Die einzige Geschichte" des englischen Schriftstellers Julian Barnes (Kipenheuer & Witsch / Unsplash / Marisa Harris)
Emma Bovary ist weltberühmt. Und ihr Gatte? Dessen philologische Schattenexistenz provozierte den Schriftsteller Jean Amery vor vierzig Jahren zu dem Essay "Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Mannes", in dem er den vermeintlich trüben, für ein tragisches Schicksal zu langweiligen Charles Bovary ins Licht rückte. Einen ähnlichen Perspektivwechsel nimmt nun auch der englische Schriftsteller Julian Barnes vor. Sein neuer Roman erzählt eine Ehebruchsgeschichte, wenn auch nicht aus der Sicht der untreuen Frau, sondern aus der eines Mannes, ihres Liebhabers.
"Die meisten von uns haben nur eine einzige Geschichte zu erzählen. Damit meine ich nicht, dass uns im Leben nur einmal etwas geschieht: Es gibt unzählige Ereignisse, aus denen wir unzählige Geschichten machen. Aber nur ein Ereignis ist von Bedeutung, nur eins ist letzten Ende erzählenswert. Hier ist meins."
Etwas Ernüchtertes schwingt in diesem Fazit mit, das der Ich-Erzähler schon auf der ersten Seite zieht. Er heißt Paul, ist Engländer wie sein Erfinder Julian Barnes und besitzt dessen Alter. Auf siebzig Lebensjahre blickt Paul zum Zeitpunkt der Erzählung zurück, siebzig Jahre, von denen nur "Die einzige Geschichte" zählt, wie auch der Titel des Romans lautet.
"Die Zeit, der Ort, das soziale Milieu? Ich weiß nicht, ob das in Geschichten über die Liebe wichtig ist. In den alten Zeiten vielleicht, bei den Klassikern, wo es einen Konflikt zwischen Liebe und Pflicht, Liebe und Religion, Liebe und Familie, Liebe und Staat gab. So eine Geschichte ist das hier nicht. Aber trotzdem, wenn Sie darauf bestehen. Die Zeit: vor über fünfzig Jahren. Der Ort: etwa fünfzig Meilen südlich von London. Das soziale Milieu: der sogenannte Börsenmaklergürtel. Unsere Zone des städtischen Randgebiets trug den neckischen Namen "The Village" und hätte Jahrzehnte zuvor vielleicht auch als Dorf gelten können. Jetzt gab es hier einen Bahnhof, von dem montags bis freitags Männer in Anzügen nach London fuhren und manche auch am Samstag, um einen halben Arbeitstag zusätzlich einzulegen".
Austreten aus der Ordnung
In diese saturierte Vorortwelt kehrt der 19jährige Paul in den Semesterferien für drei Monate zurück. Die Mutter wäscht und bügelt seine Wäsche, ihre penetranten Lebensratschläge überhört er. Weder hat er Lust, sich eine passende junge Frau zu suchen, um mit ihr eine Familie zu gründen, noch sich für einen Beruf zu entscheiden. Der Anbruch der Rebellionsepoche der späten 60er Jahre erreicht Paul nur in der Form diffuser Verweigerung. Er weiß nicht, was er will, nur was er nicht will: So bieder, angepasst und ereignisarm zu leben wie die Elterngeneration. Der Mutter zuliebe tritt er dennoch dem Tennisclub des "Village" bei, was er dort am wenigsten erwartet, ist eine Schicksalsfügung von geradezu antiker Gewalt.
"Nach etwa drei Wochen meiner Mitgliedschaft auf Zeit wurde ein Turnier im Gemischten Doppel ausgetragen, bei dem die Paarungen durch das Los bestimmt wurden. Ich erinnere mich, dass ich später dachte: Los ist doch ein anderer Name für Schicksal, nicht wahr? Das Los teilte mir Susan Macleod als Partnerin zu. Ich schätzte sie auf Mitte vierzig; sie hatte die Haare mit einem Band zurückgebunden, sodass man ihre Ohren sehen konnte, was mir damals aber nicht auffiel. Ein weißer Tennisdress mit grüner Borte und einer Reihe grüner Knöpfe vorne am Oberteil. Sie war fast exakt so groß wie ich, also 1 Meter 75, wenn ich ein bisschen mogle und gut zwei Zentimeter zugebe. "Welche Seite ist Ihnen lieber?" fragte sie. – "Seite?" – "Vorhand oder Rückhand?" – "Ach so. Ist mir eigentlich egal". – "Dann fangen Sie mal auf Vorhand an."
Ein kaum erwachsener Mann und eine mehr als doppelt so alte verheiratete Frau: Diese amouröse Konstellation ruft geradezu nach den gängigen psychologischen und narrativen Deutungsmustern. Keines, beteuert der Ich-Erzähler, habe auf seine Geschichte mit Susan zugetroffen. Weder die ödipale Variante, noch die Variante der "Reifeprüfung", die ihren Namen dem Titel eines berühmten amerikanischen Film aus dem Jahr 1967 verdankt, in dem sich ein College-Absolvent von einer älteren Upperclass-Dame verführen lässt, bevor er ihre altersgemäße Tochter zum Traualtar führt.
"Es ist auch nicht so, dass sie mich in "die Kunst der Liebe einführt", wie es in Büchern so schön heißt. Wir sind, wie gesagt, beide unerfahren. Und sie stammt aus einer Generation, in der man unterstellt, in der Hochzeitsnacht werde der Mann "schon wissen, was er zu tun hat".
Immer wieder wendet sich der Ich-Erzähler im ersten der drei Romanteile direkt an den Leser, als kenne er dessen konventionelle Erwartungen an eine derartige Amoure und wolle sie korrigieren. Die Liebe, die ihn und Susan verband, gleicht in seiner Darstellung einem unbeschriebenen Blatt Papier, frei von Spuren moralischer, biografischer oder sozialer Normen. In der Passage, die von der ersten gemeinsamen Nacht des Paares handelt, verwendet er einen begrifflichen Kontrast: Das Allgemeine und das Spezifische. Nichts, auch nicht die Lust, soll verwechselbar und weniger als einzigartig gewesen sein.
"Ich habe noch nie eine ganze Nacht mit jemand zusammen geschlafen. Das Bett sieht riesig aus, die Beleuchtung ist trüb, und aus dem Bad riecht es nach Desinfektionsmittel. "Ich liebe dich", erkläre ich ihr. "So was sagt man doch nicht zu einem Mädchen", erwidert sie und fasst mich am Arm. "Wir sollten erst was zu Abend essen, bevor wir uns lieben." Ich habe bereits eine Erektion, und zwar ganz und gar keine allgemeine. Sie ist sehr, sehr spezifisch. Susan ist schamhaft. Sie zieht sich nie vor mir aus; wenn ich ins Zimmer komme, ist sie immer schon im Bett und hat das Nachthemd an. Und das Licht ist aus. Das ist mir alles völlig egal. Ich habe ohnehin das Gefühl, ich könnte im Dunklen sehen."
Das Grauen lauert
Das Verhältnis der verheirateten Frau mit dem Studenten bleibt nicht geheim. Der Tennisclub kündigt ihnen die Mitgliedschaft, Susans dem Alkohol verfallener Ehemann wird gewalttätig, was allerdings auch in anderen Ehen vorkommt, ohne dass die Frau eine Affäre hätte. Aber der große gesellschaftliche Skandal mit etwaigen juristischen Folgen, der unweigerlich zum Setting der Ehebruchromae des 19. Jahrhunderts gehört, bleibt aus. "Die einzige Geschichte" spielt in der modernen Sittenwelt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Paul und Susan gehen nach London, mieten gemeinsam ein kleines Haus und genießen ihr Glück. So sieht es auf den ersten hundert Seiten des Romans zumindest aus.
"Wir waren zehn oder zwölf Jahre zusammen – und damit meine ich "zusammen" – je nachdem, wo man zu zählen anfängt und aufhört. Und diese Jahre fielen zufällig mit dem zusammen, was die Zeitungen gern die "sexuelle Revolution" nannten: eine Zeit, in der alle durcheinander bumsten – so stellte man es zumindest dar -, eine Zeit der Instant-Freuden und der flüchtigen Affären ohne Schuldgefühle, eine Zeit, in der starke Lust und emotionale Leichtigkeit angesagt waren. Man könnte also sagen, dass meine Beziehung zu Susan ebenso gegen die neuen Normen verstieß wie gegen die alten".
Es ist der entscheidende Satz des Romans. Die Liebe des ungleichen Paares wird nicht von gesellschaftlichen Sanktionen bedroht, die eine Emma Bovary, Anna Karenina oder Effie Briest in den Tod trieben. Sie wird just von dem bedroht, was sie zugleich einzigartig macht, dem Fehlen aller sozial verbindlichen Maßstäbe und Normen. Wer das Werk von Julian Barnes auch nur halbwegs kennt, ist auf das Grauen, das den zweiten und dritten Teil des Romans beansprucht, nicht unbedingt vorbereitet.
"Du kommst eines Abends nach Hause und findest sie stockbesoffen im Sessel vor, in dem Wasserglas neben ihr steht noch ein daumenhoher Rest von etwas, das kein Wasser ist. Du beschließt, so zu tun, als sei das alles völlig normal – ja, so sehe ein wahres Zuhause aus. Du gehst in die Küche und schaust dich nach etwas um, aus dem sich etwas machen lässt. Du findest ein paar Eier; du fragst, ob sie ein Omelett möchte. "Für doch ist es leicht", erwidert sie streitlustig. "Was ist für mich leicht?" "Das ist eine gerissene Anwaltsantwort" entgegnet sie und trinkt direkt vor deinen Augen einen kräftigen Schluck, was sie selten tut."
Seit "Flauberts Papagei" aus dem Jahr 1984 zählt Julian Barnes zu den englischen Schriftstellern von Weltrang. Er verdankt seinen Ruhm seiner enormen essayistischen und erzählerischen Vielseitigkeit, zugleich aber seinem leichthändigen, dabei raffinierten Stil und dem seltenen Vermögen, postmoderne Romankonstruktionen zugänglich zu gestalten. Er kommt dem Lesepublikum entgegen wie den Ansprüchen der Kritik. All diese Vorzüge finden sich in der "Einzigen Geschichte". Dennoch ist es kein typischer Barnes-Roman. Schwärzer, aussichtsloser, ja erbarmungsloser hat dieser Autor noch kaum eine Liebesgeschichte erzählt, im Gegenteil. Die Privatheit erfüllter Liebe nimmt im literarischen Kosmos von Julian Barnes die Funktion eines Bollwerks gegen die Unzulänglichkeiten und Enttäuschungen der Welt ein. In "Lebensstufen", einem dreigliedrigen, 2013 erschienen Essay verknüpfte er die Pioniergeschichte der Ballonfahrt mit einer Reflexion der monumentalen Trauer über den Tod seiner Ehefrau. Ein englischer Kritiker nannte Barnes Abbildung seiner Ehe einen "Taj Mahal aus Papier". Der Roman über die Liebe von Paul und Susan gleicht, salopp gesagt, eher einer Abrissbirne jedweder idealistischen Liebesidee.
Mitleid und Zorn
"In einem Seminar lernst du Paula kennen – blond, freundlich, direkt -, die als Soldatin auf Zeit bei der Armee war und dann auf Jura umgesattelt hat. Dir gefällt ihre Handschrift, als sie dir eine Fallzusammenfassung von einer Vorlesung zeigt, die du verpasst hast. Einmal lädst du sie morgens zu einem Kaffee ein, dann trefft ihr euch manchmal mittags im nahen Park auf ein Sandwich. Eines Abends gehst du mit ihr ins Kino und gibst ihr einen Abschiedskuss. Ihr tauscht Telefonnummern aus. Ein paar Tage später fragt sie: "Wer ist diese Verrückte, die bei dir im Haus wohnt?" – "Wie bitte?" Schon überläuft dich ein kalter Schauer. "Ich hab gestern Abend bei dir angerufen. Am Telefon war eine Frau." – "Das muss meine Vermieterin gewesen sein". – "Die hörte sich total plemplem an."
Susan verfällt dem Alkoholismus, Paul sieht sich mit einer früh gealterten, verwahrlosenden Kranken konfrontiert, die zusehends den Verstand verliert. Dieser, für den Leser geradezu schockierende Absturz des Paares wird durch den Wechsel der Erzählhaltung markiert. Paul spricht im zweiten Romanteil nicht mehr im Ich. Er spricht zu einem Du, als stünde er der eigenen Person befremdet gegenüber. Wie die Trinkerin nichts mehr mit der Frau zu tun hat, die Susan einmal war, so wenig ist er mit sich selbst identisch. Diese Dissoziation wirkt zerstörerischer als jedes gesellschaftliche Gesetz es vermöchte. Sie ist auch insofern grausamer, als das Unheil nicht von außen kommt, sondern von innen, aus der Liebe selbst.
"Er hätte so weitermachen können. Aber dazu hätte er Masochist sein müssen. Und inzwischen hatte er die erschreckendste Entdeckung seines Lebens gemacht, eine Entdeckung, die wohl all seine späteren Beziehungen überschattete: Liebe, selbst die glühendste und aufrichtigste Liebe, kann, wenn man es richtig anstellt, zu einem Gemisch aus Mitleid und Zorn gerinnen. Seine Liebe war vergangen, war ihm ausgetrieben worden, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Aber am meisten erschütterte ihn, dass sie Gefühlen gewichen war, die ebenso heftig waren wie die Liebe, die vorher in seinem Herzen gewohnt hatte. Und so waren sein Leben und sein Herz so aufgewühlt wie zuvor, nur dass Susan nicht mehr imstande war, sein Herz zu besänftigen. Das brachte ihn schließlich dazu, sie abzugeben. Er schrieb einen Brief an Martha und Clara. Er ersparte ihnen die emotionalen Einzelheiten. Er erklärte lediglich, dass er beruflich für längere Zeit – vielleicht mehrere Jahre – auf Reisen gehen müsse und Susan aus offensichtlichen Gründen nicht mitnehmen könne. Er werde in drei Monaten aufbrechen und hoffe, dass sie dadurch genügend Zeit hätten, die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen. Falls es in Zukunft einmal notwendig werden sollte, sie irgendwo in Pflege zu geben, werde er das nach Kräften unterstützen; allerdings sei er gegenwärtig nicht in der Lage, einen Beitrag zu leisten. Und das meiste davon war wahr."
Pauls eigentliche Tragödie, auf die sich der dritte Teil des Romans konzentriert, beginnt im Grunde, nachdem er die Verantwortung für Susan an eine ihrer Töchter abgegeben hat und Susan in einem Pflegeheim verdämmert. Sie ist aus seinem Leben verschwunden, aber sein Leben ist ein für allemal versehrt. Nicht nur durch Schuldgefühle, sondern mehr noch durch das Wissen, nie wieder lieben zu können und auch nicht lieben zu wollen, wie er es mit Susan konnte. Das Schicksalsgeschenk der "Einzigen Geschichte" ist zugleich ein Fluch. Jeder andere Liebesversuch, den Paul in späteren Jahren unternimmt, erweist sich als matt, überflüssig, dem absoluten Gefühlsmaßstab, den Paul schon als Zwanzigjähriger gewann, nicht gewachsen. Äußerlich ist seine Tragödie unauffällig. Paul erkrankt nicht an Depressionen, schmiedet keine Suizidpläne, beginnt nicht zu trinken. Er führt das funktionierende Dasein eines seelisch sedierten Menschen, der seine Jahre menschenscheu und ereignislos ablebt.
Beglückung und Überforderung
"Seiner Ansicht nach gehörte es zu seinen letzten Aufgaben im Leben, Susan richtig in Erinnerung zu behalten. Damit meinte er nicht: korrekt, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Nein, er meinte es so: Es war seine letzte Pflicht ihnen beiden gegenüber, sie so in Erinnerung zu behalten und zu bewahren, wie sie in der ersten Zeit ihres Zusammenseins gewesen war. Sie so in Erinnerung zu behalten, dass sie wieder das hatte, was er ihre Unschuld nannte: eine seelische Unschuld. Bevor die Unschuld verunstaltet wurde. Ja, das war das richtige Wort dafür: vollgekrakelt mit den wilden Graffiti des Alkohol."
Gegen Ende des Romans variiert die Erzählerperspektive ein weiteres Mal: Paul berichtet nun, gleichsam neutral in der dritten Person Singular. Ein Stilmittel, in dessen beinahe unauffälliger Anwendung sich Julian Barnes überragende literarische Kunst erweist. Nie fällt er in den hohen Ton, nie verlieren seine Sätze jene Gelassenheit, die das Tragische umso wirkungsvoller und bitterer macht. An Pauls Tragödie erweist sich die Dialektik der Idee von der großen romantischen Liebe, die unsere Kulturgeschichte seit über zwei Jahrhunderten prägt. Das Maß ihrer Beglückung ist zugleich das ihrer subjektiven Überforderung. Darum geht es in der "Einzigen Geschichte".
"Manchmal fragten ihn die Leute, sei es hinterhältig oder mitleidig, warum er nie geheiratet habe; andere nahmen an oder gingen davon aus, dass er einmal verheiratet gewesen sein müsse; irgendwo, irgendwann. Dann antwortete er ausweichend und legte eine englische Zurückhaltung an den Tag, sodass die Fragen selten etwas erbrachten. Susan hatte vorhergesagt, dass er eines Tages selbst eine Schau abziehen werde, und sie hatte recht behalten. Seine Schau, die sich herausgebildet hatte, ohne dass er es recht bemerkte, war die eines Menschen, der nie – nicht richtig, nicht wirklich – geliebt hatte."
Julian Barnes Roman "Die einzige Geschichte"
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger,
Kiepenheuer & Witsch, Köln. 303 Seiten, 22 Euro.