Burkhard Müller-Ullrich: Jetzt aber erst mal zum wichtigste englischen Literaturpreis, dem Booker Prize. Der wurde gestern Abend traditionsgemäß in der Londoner Guildhall während eines opulenten Dinners vergeben, und das ist immer spannend, weil der oder die Juryvorsitzende erst mal eine kleine Rede über Gott und die Welt und die Lage der Literatur hält, und jeder wartet nur darauf, dass am Ende endlich der Name des Preisträgers genannt wird, denn die Nominierten sitzen alle im Saal.
Guter Typ, dieser Flaubert, hatte ich noch nie von gehört, sagte übrigens ein Juror des Booker Preises zu dem Schriftsteller Julian Barnes, als der mit seinem Roman "Flauberts Papagei" bei der Preisverleihung leer ausgegangen war. 1984 war das, und es zeigt, dass diese Jury – über die jedes Jahr neu verhandelt wird und die neu zusammengesetzt wird –, dass die nicht nur aus Literaten besteht, sondern auch aus bunten Vögeln der Glamour- und Promi-Welt.
Dieses Jahr nun war die Juryvorsitzende eine besonders schillernde Figur: Stella Rimington ist zwar inzwischen auch als Krimiautorin hervorgetreten, aber vorher war sie Chefin des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 und als solche wurde sie sogar zu einer Figur in mehreren James-Bond-Filmen. By the way können wir an dieser Stelle John le Carré grüßen, der heute seinen 80. Geburtstag feiert. Und jetzt, Denis Scheck, freuen wir uns darüber, dass Julian Barnes im vierten Anlauf (er hatte ja schon in früheren Jahren dreimal auf der Shortlist gestanden) endlich den Man Booker Prize gewonnen hat.
Denis Scheck: Ganz genau! Also ein klarer Favoritensieg in diesem Jahr, Burkhard Müller-Ullrich. Freilich, dass man Leute, die wenig mit Literatur zu tun haben, öfters auch hierzulande in literarischen Jurys trifft, das ist nun wahrlich keine Besonderheit des britischen literarischen Lebens. Ich könnte da Ihnen Dinge erzählen, aber die Diskretion zwingt mich zu schweigen. Ich glaube, international ist man heute sehr, sehr erleichtert, die Nachricht von der gestrigen Auszeichnung von Julian Barnes zu vermelden, zu kommentieren, denn Julian Barnes ist einer der ganz großen Sympathieträger und sicherlich einer der großen wichtigen Stimmen der britischen Gegenwartsliteratur. Seit dem Tod seiner Frau, Pat Kavanagh, die als Literaturagentin arbeitete, vor zwei Jahren, fliegen ihm erst recht die Herzen zu. Und zudem ist der Text, der ausgezeichnet wurde, die Novelle "The Sense of an Ending", eben einfach so brillant und so stark und bewegend, dass hier eine Reihe von Faktoren zusammenkamen und endlich, endlich Julian Barnes im 68. Lebensjahr nun den renommiertesten britischen Booker Award nach Hause tragen darf.
Müller-Ullrich: In dem Titel ist vom Ende die Rede, und in der Tat: Es geht darum. Also es sind Reflexionen über den Tod? Kann man das so sagen?
Scheck: Ja, das trifft eigentlich ... Es ist so ein bisschen ein Seitenflügel zu "Nothing to be frightened of", nichts wovor man Angst haben müsste, das Buch, in dem er sich mit dem Tod als philosophisches Problem auseinandersetzt. Das ist eine Geschichte von vier Schulfreunden, Studienkollegen, die verschiedene Bindungen eingehen. Da ist zum einen die Hauptfigur, der Erzähler der Novelle, der nach einer langen und befriedigenden Ehe geschieden wird, der in Rente ist und 40 Jahre danach noch mal zu seiner ersten Liebe Kontakt aufnimmt. Und dann spielt ein geheimnisvolles Tagebuch eines dritten Studienfreundes eine Rolle, eines hoch talentierten Schülers, an das er herankommt. Und plötzlich erscheinen Geschehnisse, nämlich diese Affäre von vor 40 Jahren, in ganz neuem, ganz anderem Licht. Nun darf man die Pointe dieser Novelle auf gar keinen Fall verraten, das würde das Lesevergnügen, das wir deutschen Leser dann im nächsten Jahr in der Übersetzung von Gertraude Krüger haben werden, doch bedenklich stören. Aber es ist wie oft bei Julian Barnes eine Meditation über Erinnerungen und die Streiche, die uns die Erinnerung spielt. Das ist ja seit dem Welterfolg mit "Flauberts Papagei", wo ein Arzt und Flaubert-Fan sich auf die Suche nach dem wahren Papagei, den Flaubert auf dem Schreibtisch stehen hatte, begibt und dann konfrontiert ist erst mit zwei, ja dann mit 50 Papageien, ohne noch in der Lage zu sein herauszufinden, welches nun der wahre Papagei ist, immer das Hauptthema von Julian Barnes gewesen, die Flüchtigkeit, die Problematik unseres Gedächtnisses und unseres Erinnerungsvermögens.
Müller-Ullrich: Dieses Buch, "The Sense of an Ending", ist relativ kurz, nur 150 Seiten. Viele sagen aber, sie haben es dann noch mal gelesen. Deswegen hat Julian Barnes selber gesagt, eigentlich geht er jetzt davon aus, dass es ein 300-Seiten-Werk ist.
Scheck: Mindestens! Ja, so könnte man sagen. Aber Barnes ist ja auch einer der großen Spaßvögel der Literatur, der nun wirklich sehr, sehr intelligente Tricks und Spielereien für seine Plots entwirft. "Arthur and George", denke ich nur mal, also den Erfinder von Sherlock Holmes, Arthur Conan Doyle, tatsächlich als Detektiv, als Ermittler auftreten zu lassen im Falle eines britisch-indischen, eben des George, des Titels zu Unrecht angeklagten und verurteilten Bürgers, das ist so eine typische Julian-Barnes-Idee, oder die erwähnte Recherche nach dem wahren Papagei von Flaubert, oder gar ein Kapitel schreiben zu lassen aus der Perspektive eines Holzwurms, der an Bord der Arche Noah war. Dafür lieben wir Julian-Barnes-Leser diesen Autor und dafür wollen wir ihn heute feiern, für den Booker.
Müller-Ullrich: Ist es denn readable, lesbar, weil das ja im Vorfeld des Preises eine große Rolle spielte? Diesmal ging es um Lesbarkeit, manche fanden, dass die Booker-Jury jetzt auf Lesbarkeit setze, deswegen wurde schon aus Ärger ein zweiter anderer Anti-Booker-Preis gegründet. Was ist von dieser ganzen Readability-Debatte zu halten?
Scheck: Die Juryvorsitzende, eben diese Krimiautorin und frühere Geheimdienstleiterin, hat sich etwas unklug wahrscheinlich als Kriterium entlocken lassen, nachdem die Jury diese Texte sortiert, das Hauptkriterium sei die Readability, die Lesbarkeit dieser Romane, und das ist natürlich als ästhetisches Prinzip doch ein bisschen schwach für ein seit Längerem alphabetisiertes Land wie Großbritannien. Da müsste einem ein bisschen was anderes noch einfallen. Nein, ich glaube, mit der Auszeichnung von Julian Barnes hat sich die Jury auf keinen Fall blamiert. Und dass es nun auch noch einen renommierten und einen populären Autor traf, na das ist auch kein Schaden.
Müller-Ullrich: Schön gesagt von Denis Scheck. Vielen Dank! – Und so viel zum Booker Prize, der mit 50.000 Pfund dotiert ist und gestern Abend in London vergeben wurde. Er heißt ja jetzt Man Booker Prize, weil er von der Man Group gesponsert wird. Das ist eine traditionsreiche Investmentgesellschaft, die zum Beispiel Hedgefonds auf dem Lebensmittelmarkt eingeführt hat. Und Booker, der alte Sponsor, ist ebenfalls ein sehr alter und mächtiger Lebensmittelkonzern, gegen dessen ausbeuterische Praktiken zum Beispiel auf Zuckerrohrplantagen in Übersee bei früheren Preisverleihungen öfters mal demonstriert wurde. Der Gewinner des Jahres 1972, John Berger, gab sogar die Hälfte seines Preisgeldes aus Protest gegen Booker an die Black-Panther-Bewegung.
Guter Typ, dieser Flaubert, hatte ich noch nie von gehört, sagte übrigens ein Juror des Booker Preises zu dem Schriftsteller Julian Barnes, als der mit seinem Roman "Flauberts Papagei" bei der Preisverleihung leer ausgegangen war. 1984 war das, und es zeigt, dass diese Jury – über die jedes Jahr neu verhandelt wird und die neu zusammengesetzt wird –, dass die nicht nur aus Literaten besteht, sondern auch aus bunten Vögeln der Glamour- und Promi-Welt.
Dieses Jahr nun war die Juryvorsitzende eine besonders schillernde Figur: Stella Rimington ist zwar inzwischen auch als Krimiautorin hervorgetreten, aber vorher war sie Chefin des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 und als solche wurde sie sogar zu einer Figur in mehreren James-Bond-Filmen. By the way können wir an dieser Stelle John le Carré grüßen, der heute seinen 80. Geburtstag feiert. Und jetzt, Denis Scheck, freuen wir uns darüber, dass Julian Barnes im vierten Anlauf (er hatte ja schon in früheren Jahren dreimal auf der Shortlist gestanden) endlich den Man Booker Prize gewonnen hat.
Denis Scheck: Ganz genau! Also ein klarer Favoritensieg in diesem Jahr, Burkhard Müller-Ullrich. Freilich, dass man Leute, die wenig mit Literatur zu tun haben, öfters auch hierzulande in literarischen Jurys trifft, das ist nun wahrlich keine Besonderheit des britischen literarischen Lebens. Ich könnte da Ihnen Dinge erzählen, aber die Diskretion zwingt mich zu schweigen. Ich glaube, international ist man heute sehr, sehr erleichtert, die Nachricht von der gestrigen Auszeichnung von Julian Barnes zu vermelden, zu kommentieren, denn Julian Barnes ist einer der ganz großen Sympathieträger und sicherlich einer der großen wichtigen Stimmen der britischen Gegenwartsliteratur. Seit dem Tod seiner Frau, Pat Kavanagh, die als Literaturagentin arbeitete, vor zwei Jahren, fliegen ihm erst recht die Herzen zu. Und zudem ist der Text, der ausgezeichnet wurde, die Novelle "The Sense of an Ending", eben einfach so brillant und so stark und bewegend, dass hier eine Reihe von Faktoren zusammenkamen und endlich, endlich Julian Barnes im 68. Lebensjahr nun den renommiertesten britischen Booker Award nach Hause tragen darf.
Müller-Ullrich: In dem Titel ist vom Ende die Rede, und in der Tat: Es geht darum. Also es sind Reflexionen über den Tod? Kann man das so sagen?
Scheck: Ja, das trifft eigentlich ... Es ist so ein bisschen ein Seitenflügel zu "Nothing to be frightened of", nichts wovor man Angst haben müsste, das Buch, in dem er sich mit dem Tod als philosophisches Problem auseinandersetzt. Das ist eine Geschichte von vier Schulfreunden, Studienkollegen, die verschiedene Bindungen eingehen. Da ist zum einen die Hauptfigur, der Erzähler der Novelle, der nach einer langen und befriedigenden Ehe geschieden wird, der in Rente ist und 40 Jahre danach noch mal zu seiner ersten Liebe Kontakt aufnimmt. Und dann spielt ein geheimnisvolles Tagebuch eines dritten Studienfreundes eine Rolle, eines hoch talentierten Schülers, an das er herankommt. Und plötzlich erscheinen Geschehnisse, nämlich diese Affäre von vor 40 Jahren, in ganz neuem, ganz anderem Licht. Nun darf man die Pointe dieser Novelle auf gar keinen Fall verraten, das würde das Lesevergnügen, das wir deutschen Leser dann im nächsten Jahr in der Übersetzung von Gertraude Krüger haben werden, doch bedenklich stören. Aber es ist wie oft bei Julian Barnes eine Meditation über Erinnerungen und die Streiche, die uns die Erinnerung spielt. Das ist ja seit dem Welterfolg mit "Flauberts Papagei", wo ein Arzt und Flaubert-Fan sich auf die Suche nach dem wahren Papagei, den Flaubert auf dem Schreibtisch stehen hatte, begibt und dann konfrontiert ist erst mit zwei, ja dann mit 50 Papageien, ohne noch in der Lage zu sein herauszufinden, welches nun der wahre Papagei ist, immer das Hauptthema von Julian Barnes gewesen, die Flüchtigkeit, die Problematik unseres Gedächtnisses und unseres Erinnerungsvermögens.
Müller-Ullrich: Dieses Buch, "The Sense of an Ending", ist relativ kurz, nur 150 Seiten. Viele sagen aber, sie haben es dann noch mal gelesen. Deswegen hat Julian Barnes selber gesagt, eigentlich geht er jetzt davon aus, dass es ein 300-Seiten-Werk ist.
Scheck: Mindestens! Ja, so könnte man sagen. Aber Barnes ist ja auch einer der großen Spaßvögel der Literatur, der nun wirklich sehr, sehr intelligente Tricks und Spielereien für seine Plots entwirft. "Arthur and George", denke ich nur mal, also den Erfinder von Sherlock Holmes, Arthur Conan Doyle, tatsächlich als Detektiv, als Ermittler auftreten zu lassen im Falle eines britisch-indischen, eben des George, des Titels zu Unrecht angeklagten und verurteilten Bürgers, das ist so eine typische Julian-Barnes-Idee, oder die erwähnte Recherche nach dem wahren Papagei von Flaubert, oder gar ein Kapitel schreiben zu lassen aus der Perspektive eines Holzwurms, der an Bord der Arche Noah war. Dafür lieben wir Julian-Barnes-Leser diesen Autor und dafür wollen wir ihn heute feiern, für den Booker.
Müller-Ullrich: Ist es denn readable, lesbar, weil das ja im Vorfeld des Preises eine große Rolle spielte? Diesmal ging es um Lesbarkeit, manche fanden, dass die Booker-Jury jetzt auf Lesbarkeit setze, deswegen wurde schon aus Ärger ein zweiter anderer Anti-Booker-Preis gegründet. Was ist von dieser ganzen Readability-Debatte zu halten?
Scheck: Die Juryvorsitzende, eben diese Krimiautorin und frühere Geheimdienstleiterin, hat sich etwas unklug wahrscheinlich als Kriterium entlocken lassen, nachdem die Jury diese Texte sortiert, das Hauptkriterium sei die Readability, die Lesbarkeit dieser Romane, und das ist natürlich als ästhetisches Prinzip doch ein bisschen schwach für ein seit Längerem alphabetisiertes Land wie Großbritannien. Da müsste einem ein bisschen was anderes noch einfallen. Nein, ich glaube, mit der Auszeichnung von Julian Barnes hat sich die Jury auf keinen Fall blamiert. Und dass es nun auch noch einen renommierten und einen populären Autor traf, na das ist auch kein Schaden.
Müller-Ullrich: Schön gesagt von Denis Scheck. Vielen Dank! – Und so viel zum Booker Prize, der mit 50.000 Pfund dotiert ist und gestern Abend in London vergeben wurde. Er heißt ja jetzt Man Booker Prize, weil er von der Man Group gesponsert wird. Das ist eine traditionsreiche Investmentgesellschaft, die zum Beispiel Hedgefonds auf dem Lebensmittelmarkt eingeführt hat. Und Booker, der alte Sponsor, ist ebenfalls ein sehr alter und mächtiger Lebensmittelkonzern, gegen dessen ausbeuterische Praktiken zum Beispiel auf Zuckerrohrplantagen in Übersee bei früheren Preisverleihungen öfters mal demonstriert wurde. Der Gewinner des Jahres 1972, John Berger, gab sogar die Hälfte seines Preisgeldes aus Protest gegen Booker an die Black-Panther-Bewegung.