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Julien Gracq
Chronist eines lächerlichen Krieges

Julien Gracq geboren 1910 war ein unzeitgemäßer Autor. Er liebte die deutsche Romantik und wurde dafür im französischen Literaturbetrieb oft verhöhnt. Die beiden Weltkriege blieben für Gracqs fiktionales Schaffen grundlegend.

Von Thomas Palzer | 18.11.2013
    Julien Gracq gehört zu den großen Einzelgängern der französischen Literatur. 1910 als Louis Poirier in der Nähe von Angers geboren, erregt Gracqs erste literarische Publikation Auf Schloss Argol 1938 die Begeisterung André Bretons, was die literarische Welt aufhorchen lässt. Nach der Ablehnung des Prix Goncourt 1951 für seinen Roman Das Ufer der Syrten zieht sich Gracq zurück und unterrichtet für drei Jahrzehnte Geographie und Geschichte an verschiedenen französischen Gymnasien. Dem Literaturbetrieb gegenüber bleibt er äußerst reserviert. 1996 kehrt er Paris endgültig den Rücken und siedelt in seinen Geburtsort Saint-Florent-le-Vieil über, wo er 2007 im Alter von 97 Jahren stirbt.
    Im September 1939 fallen deutsche Truppen in Polen ein. Daraufhin erklären Großbritannien und Frankreich Hitler den Krieg. Acht Monate später, am 10. Mai des darauffolgenden Jahres, erfolgt der deutsche Angriff auf Belgien und Holland. Ein 30-jähriger Franzose namens Louis Poirier führt eine unterbesetzte Truppe aus bretonischen Bauern zur Verstärkung britisch-französischer Bataillone an die belgische Grenze und ins holländische Flandern. Er ist Absolvent der École Normale Supérieure, was ihm automatisch den Offiziersrang sichert, wenn auch als Leutnant den niedrigsten. In dem Haufen sieht man im Bataillon abwertend eine Art „Divisionsreserve“. Nach dem deutschen Durchbruch an die Kanalküste sind die britisch-französischen Truppen dann aber teils abgeschnitten. Der Leutnant marschiert mit seiner Kompanie durch Holland und Belgien zurück, besteigt einen Zug, und wird am 23. Mai westlich von Dünkirchen abgesetzt. Zwei Wochen später, am 2. Juni, gerät Louis Poirier, später bekannt unter dem "nom de plume" Julien Gracq, in Gefangenschaft.
    Mein Zug ist nicht so benannt, um ins Feld zu ziehen, 23 Mann (anstatt 40), darunter ein Reserveoffizier, der ausgesprochen feige und dumm ist – ein Hauptgefreiter. Die zweite Gruppe wird von einem Obergefreiten befehligt, der sehr unzulänglich ist, und die dritte von einem Gefreiten. Vier sind beurlaubt, darunter mein bester Unteroffizier. Wir werden sie nicht wiedersehen ... Ich gehe auf dem Feld auf und ab, ich lese und ich rauche. Große Ruhe inmitten dieser Hektik. Man teilt Karten aus, die Ufer der Schelde, Antwerpen, Rozendaal, Breda. Alle bis hin zum letzten Koch wissen schon seit Langem, dass die Geheimbefehle uns für Holland bestimmt haben. Ich fühle mich trotz allem geschmeichelt: Nur wenige Einheiten werden so weit marschieren wie wir. Belgien, das wäre mickrig gewesen.
    Zwei Schulhefte sind es, die sich im Nachlass Julien Gracqs gefunden haben und die 2011 in Frankreich veröffentlicht wurden – entgegen der Auflage ihres Verfassers, der bestimmt hatte, dass der Nachlass erst 20 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden soll, also 2027.
    "Aufzeichnungen aus dem Krieg" wurde sofort zu einem literarischen Ereignis. In dem einen Heft, ein rotes, beschreibt Julien Gracq seine Zeit als Leutnant vom 10. Mai bis zum 2. Juni 1940 in Flandern, wenige Kilometer entfernt von Dünkirchen. Es trägt die Inschrift: Souvenirs de guerre / Erinnerungen an den Krieg. Das zweite, grüne Journal beinhaltet eine Erzählung in der dritten Person und trägt den schlichten Titel Récit / Erzählung. Beide Hefte verfasste Gracq vermutlich nach seiner Entlassung aus der deutschen Gefangenschaft, also im engeren Umkreis des Jahres 1942.
    Gracq beschreibt den Krieg gewissermaßen von zwei Seiten, einmal als literarisch aufgearbeitetes Erlebnis, dem er die Form eines Tagebuchs gibt – und ein weiteres Mal verwandelt in eine klassische Erzählung. 1958 wird aus letzterer der Roman Ein Balkon im Wald, der eine deutlich stärker fiktionalisierte Version darstellt als die Erzählung. Vom Erlebnis zum Roman findet also über Tagebuch und Erzählung eine gestaffelte Distanzierung und Gestaltung statt.
    Gracqs Schilderung vermittelt in beiden Texten sowohl die große nervliche Belastung vor Ort, als auch das lächerliche und zerrüttende Warten in diesem drôle de guerre, dem komischen Krieg, wie ihn Jean-Paul Sartre nannte, der aufgrund mangelnder Befehle von oben geprägt ist von Unklarheit und Unübersichtlichkeit.
    Wir haben ausgezeichnete Karten. Leider belgische. Das gesamte holländische Gebiet ist weiß gelassen, also sind sie für uns nutzlos. Ein Oberstleutnant der Artillerie, der im Auto vorbeifährt – sehr gepflegt, ernst, ruhig – bringt mir die Namen einiger Kirchtürme bei, die man über den Bäumen hochragen sieht.
    Ziellos und zuweilen im Zickzack irrt der Trupp über das von Deutschen besetzte Land, unfähig, Freund und Feind immer trennscharf genug voneinander zu scheiden. Einmal lässt Gracq versehentlich auf die eigenen Flugzeuge schießen, die daraufhin sofort kehrt machen und der Flugabwehr ihre Kokarden auf den Flügeln zeigen. Auch fällt zwischen Deutschen und Franzosen kein einziger Schuss, obwohl man manchmal den Feind sprechen hören kann. In der Hauptsache liegt man in seinen Stellungen und wartet. Dann soll die Brücke von Zycklin übernommen werden. So jedenfalls lautet der Befehl. Doch Leutnant Poirier weiß nicht, wo sie sich befindet. Niemand aus dem Trupp weiß es.
    Alles ist falsch, jeder spürt es, alles ist nur Schein, jeder tut „als ob“. Imitiert die Gesten und Befehle, die die Tradition einer „heroischen Verteidigung“ vorschreibt. Erteilt den Befehl, sich auf der Stelle töten zu lassen oder diese oder jene unmögliche Mission auszuführen (das sind jetzt fast alle), wobei ihm die Seele genauso anschwillt, als unterschriebe er Akten in seinem Büro in der Kaserne. Und übergibt sich dann brav den Deutschen in Dünkirchen, wenn alle Gesten der „heroischen Verteidigung“ in der akademischsten Reihenfolge ausgeführt sein werden.
    Als der junge Gracq schreiben lernt, werden ihm die Worte vom Lärm des Ersten Weltkriegs diktiert, der gewissermaßen draußen vor dem Fenster stattfindet. Das fiktionale Erzählen hat der Schriftsteller nach und nach aufgegeben und sich dem Essay und der Betrachtung geöffnet, dem fragmentarischen Schreiben. Seinen letzter Roman publizierte Gracq mit 41 Jahren. Danach erschienen Bücher über Autoren, Bücher, Städte, Landschaften. Notate, Epigramme, Meditationen. Seine eindringliche Sprache, die dichte Atmosphäre, die sie knüpft, seine Liebe zum Detail und der Topographie der Handlungsorte, erschaffen eine an Empfindungen außerordentliche reiche Welt – die gerade nicht die ist, die geschildert wird, vielmehr die, die im Schreiben sich erfindet und aufleuchtet. Michel Tournier nannte ihn einmal den „größten Landschaftsmaler der ganzen französischen Literatur“. In den beiden Texten aus Aufzeichnungen aus dem Krieg sind alle diese Qualitäten vorweggenommen:
    Die siebte Granate fällt jetzt auf unser Haus. Und kein einziger Splitter ist in den Keller eingedrungen. Das wirkt beinahe beruhigend, so unwahrscheinlich ist es. Aber diese Granaten müssen einen schließlich verrückt machen. Vermutlich sind sie nicht ganz unbeteiligt an der jähen und unwiderstehlichen Lust, die ich empfinde, ein natürliches Bedürfnis zu befriedigen. Es kommt nicht infrage, aufs Klo zu gehen. Aber es gibt einen Eimer mit einem Deckel in unserem Keller, und ich ziehe vor meinen Truppen zwanglos die Hose hinunter. Fast alle tun es mir nach der Rangordnung nach. Ein typisch militärisches Aroma von Exkrementen, englischen Zigaretten und Cheddit-Sprengstoff beginnt den Keller zu füllen.
    Julien Gracq ist ein Aristokrat gewesen, ein Unzeitgemäßer, der die deutsche Romantik liebte und der für den verfilzten französischen Literaturbetrieb nur Hohn übrig hatte. Die beiden Weltkriege blieben für Gracqs fiktionales Schaffen grundlegend.