Der Konkurrenz ist verdutzt. Sportliche Leiter anderer Teams können nur bitter auflachen, wenn man sie fragt, wie sie in die Jumbo-Phalanx einbrechen wollen.
„Das ist die Millionenfrage, oder? Bis jetzt haben wir gesehen, dass wir wenig ausrichten können, außer natürlich, die drei fahren gegeneinander. Wir konzentrieren uns auf unseren Plan und hoffen auf einen Etappensieg", sagt José Vicente Garcia Acosta, seit 28 Jahren im Profi-Radsport, seit zwölf Jahren sportlicher Leiter des Teams Movistar.
Jumbos Dominanz macht viele ratlos
16 Saisons als Rennfahrer hat er auf dem Buckel, weitere zwölf Jahre ist er nun schon als sportlicher Leiter im Geschäft. Aber Jumbos Dominanz macht ihn ratlos, die Siegesliste wird lang und länger.
Tour de France und Giro d’Italia, dazu prominentere kleinere Rundfahrten. Tour de France und Giro d’Italia wurden gewonnen, prominentere kleine Rundfahrten wie Dauphiné, Baskenlandrundfahrt. Parallel zur Vuelta jetzt dominierte der Rennstall auch die Tour of Britain. Und jetzt nun winkt quasi als Krönung noch der mögliche Vuelta-Dreifach-Triumph.
Das alles noch nicht einmal mit dem höchsten Budget. In der Geldrangliste des Radsports steht Team Ineos einsam vorn mit 45 bis 50 Millionen Euro im Jahr. Jumbo-Visma folgt erst an dritter Stelle, mit geschätzt 25 Millionen Euro.
"Als Mannschaft funktionieren sie extrem gut"
Die er Dreifachdominanz-Sieg bei der Vuelta wurde natürlich auch erst durch den schwarzen Tag des Titelverteidigers Remco Evenepoel möglich. Der verlor auf der schweren Etappe zum Col du Tourmalet 27 Minuten und konzentrierte sich fortan auf das Bergtrikot. Trotzdem reibt man sich im Feld verwundert die Augen, wie hier Bernhard Eisel, sportlicher Leiter des Teams Bora-hansgrohe:
„Wir haben zwar unsere Ideen und Pläne wie alle Mannschaften, aber die drei da vorne sind schon unglaublich. Die funktionieren aber auch als Mannschaft extrem gut. Das darf man nicht vergessen. Also die drei haben geteilte Leaderrolle und stehen sich jetzt aber auch nicht im Weg.“
Ein wenig im Weg standen sich die drei Jumbo-Leader schon. Tour-Sieger Jonas Vingegaard und Giro-Champion Primoz Roglic meldeten sehr deutlich Ansprüche an, selbst diese Rundfahrt zu gewinnen.
Drei Kapitäne statt zwei
Vingegaard fuhr allen am Tourmalet auf und davon, obwohl Teamkollege Kuss da schon vorn war. Und Roglic gab am Angliru Fersengeld. Teamkollege Vingegaard konnte folgen, Kuss aber nicht. Das sorgte nach der Etappe auf den Alto di Angliru sogar kurz für Krisenstimmung im Team, als der Gesamtführende Sepp Kuss dem Tempo seiner Teamkollegen nicht mehr folgen konnte. Tags darauf engagierte sich Vingegaard als Helfer für Kuss und Roglic hielt sich zumindest zurück.
Mit mehreren Kapitänen zu einem Rennen zu reisen, ist nicht neu für Jumbo-Visma. Neu ist, dass es statt zwei nun deren drei sind.
“Ich denke, es war schon von Anfang an so, dass Jonas und Primoz die Freiheit hatten, auf Sieg zu fahren. Dann kam auch ich mit dazu, und das wurde etwas komplizierter. Aber das wichtigste ist, dass wir uns nicht gegenseitig jagen und die Dinge gemeinsam erledigen", beschrieb Sepp Kuss das Szenario, der eigentlich wie schon beim Giro und der Tour als Edelhelfer ins Rennen ging.
Bei Besprechungen dürfte es heiß her gegangen sein
Ein Leader wurde nicht festgelegt. Und das ließ allen Beteiligten viel Interpretationsspielraum. Roglic und Vingegaard leiteten den Freibrief zur Attacke ab. Kuss, der als Edelhelfer ins Rennen ging, dann aber dank eines geglückten Ausreißversuchs ganz nach vorn kam, wollte natürlich das Klassement mit ihm an der Spitze möglichst einfrieren und selbst Begehrlichkeiten anmeldete.
"Wir wollen natürlich die Situation, wie sie jetzt ist, behalten. Aber da gibt es keine Geschenke. Und wir wollen es auch nicht zu kompliziert machen, wie wir drei uns nutzen. Ja, es ist schön, uns drei in dieser Position zu haben. Aber wir dürfen dabei nicht das große Ziel vergessen, und das bedeutet, das Rennen mit einem von uns zu gewinnen. Und da müssen wir ehrlich miteinander umgehen."
Bei den Besprechungen dürfte es heiß her gegangen sein. Aber direkte Kommunikation stellt Teamchef Richard Plugge als eine Stärke von Jumbo-Visma heraus, dass 2012 von Plugge als Team Blanco gegründet wurde – damals auf den Trümmern des wegen Dopings auseinandergebrochenen Rabobank-Rennstalls. Blanco bedeutete weiß wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, aber auch rein – als Abgrenzung zur Dopingvergangenheit.
"Wir versuchen, alle im Team einzubeziehen. Motto: totaler Radsport. 'Samen winnen' heißt das auf niederländisch, zusammen gewinnen, so versuchen wir das zu machen. Und das betrifft auch Ernährung, Training, das Material. Und mit den Partnern, Cervelo und all den anderen, versuchen wir Wir versuchen das Beste herauszuholen."
Bedingungslose Hingabe für ein Gesamtziel
Plugge gründete 2012 den Rennstall als Team Blanco, damals auf den Trümmern des wegen Dopings auseinandergebrochenen Rabobank-Rennstalls. Blanco bedeutete weiß wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, aber auch rein – als Abgrenzung zur Dopingvergangenheit.
„Wir schauten anfangs auf andere Teams und entwickelten dann unseren eigenen Weg. Sky war damals natürlich ein gutes Beispiel für uns.“
Da meint Plugge vor allem die Hinwendung auch zu kleinsten technischen Details. Und natürlich nicht die Dopinggeschichten wie um den Teamarzt Richard Freeman, der lange nach den großen Siegen von Sky für vier Jahre gesperrt wurde.
Totaler Radsport, bewusst angelehnt an einem der ganz großen Sportvorbildern in den Niederlanden: am voetbal total, dem „totalen Fußball“ der Oranjes in den Zeiten von Superstar Johan Cruyff. Der war von permanenten Positionswechseln geprägt, die den Gegner verwirren sollten.
Analog steht der „totale Radsport“ für einen Ansatz, in dem zwar nicht alle alles können müssen, wo aber auf Rollenwechsel gesetzt und bedingungslose Hingabe an ein Gesamtziel gefordert wird. Damit ist Jumbo-Visma nun sogar erfolgreicher als die Vorbilder aus dem Ballsport.
Dopingfall erzeugt Zweifel
Die Dominanz gerade in diesem Jahr erzeugt erwartbar auch Kritik. Es gewann dann Jonas. Für den Wettkampfsport ist eine solche Dominanz nicht förderlich. Erfolg erzeugt auch Kritik. Der französische Ex-Profi Jerome Pineau warf dem Rennstall Motordoping vor. Das wies Rennstallchef Plugge empört zurück. Belege dafür gibt es bisher auch nicht.
Nicht zurückweisen kann Plugge den positiven Dopingbefund eines seiner Rennfahrer, des jungen deutschen Profis Michel Heßmann. Nur sehr karg fiel seine Antwort zu diesem Fall aus:
„Wir haben uns dazu geäußert, als die Nachricht unmittelbar kam. Jetzt gibt es keine Neuigkeiten. Wir warten auf offizielle Benachrichtigungen.“
Eine detailliertere Haltung zum ersten offiziellen Dopingfall stünde dem Chef der Betreiberfirma, die immer noch Blanco heißt, gut an. So bleibt Respekt für einen enormen Erfolg, aber auch einiger Grund für Zweifel.