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Juncker-Kommission
"Das wird eine spannende Sache"

Mit der Wahl von Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident sei die europäische Integration auf einem guten Weg, sagte der Politikwissenschaftler Wichard Woyke im DLF. Auch die umstrittenen Kandidaten der Kommission hätten einen Vertrauensvorschuss verdient.

Wichard Woyke im Gespräch mit Dirk Müller |
    Jean-Claude Juncker bei der Vorstellung der neuen EU-Kommission
    Der Politikwissenschaftler Wichard Woyke hat sich für eine Änderung des Verfahrens für die Kommissare ausgesprochen. (afp / JOHN THYS)
    Er sei sehr gespannt, wie sich die neuen EU-Kommissare schlagen werden, sagte Woyke. Nach Einschätzung des Münsteraner Politologen würden viele in Brüssel sich gänzlich anders verhalten als die Politik in ihren Heimatländern vermuten lasse. Sie hätten auch deswegen einen Vertrauensvorschuss verdient.
    Er vermute zudem, dass Juncker umstrittene Kandidaten, wie den Franzosen Pierre Moscovici, deswegen nominiert habe, weil er sich als früherer Finanzminister in Paris mit schwierigen wirtschaftlichen Lagen vertraut haben machen könne, so Woyke. Das könnte in der aktuellen, ähnlich schwierigen europäischen Lage von Nutzen sein.
    Die Befugnisse des EU-Kommissionspräsidenten sollten nach Einschätzung Woykes aber künftig ausgeweitet werden. So sollten nicht die Nationalstaaten die Kommissars-Kandidaten vorschlagen, sondern der Präsident solle sie selbst auswählen dürfen.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Jean-Claude Juncker und weitere 27 Kommissare stehen auf der Liste, auf der Agenda des Europäischen Parlaments. Die Abgeordneten müssen in diesen Minuten entscheiden, ob die neue Kommission die notwendige Unterstützung aus Straßburg bekommt. Die großen Fraktionen, die Konservativen, die Sozialdemokraten etwa, werden wohl zustimmen, nahezu geschlossen. Damit ist die Mehrheit so gut wie sicher.
    Zugehört hat der Münsteraner Politikwissenschaftler und Europakenner Professor Wichard Woyke. Guten Tag.
    Wichard Woyke: Guten Tag, Herr Müller.
    "Juncker hat eine ausgesprochene große Erfahrung"
    Müller: Herr Woyke, ist Jean-Claude Juncker besser als die Kommission?
    Woyke: Jean-Claude Juncker ist Teil der Kommission, aber er hat natürlich eine ausgesprochen große Erfahrung, Europaerfahrung und nationale Regierungserfahrung, sodass er ganz sicherlich der führende Kopf in der Kommission sein wird. Ich denke, dass mit der Wahl von Juncker als Kommissionspräsident die europäische Integration auf einem guten Weg ist.
    Müller: Aber wenn wir diesen Prozess der vergangenen Wochen Revue passieren lassen, diese Anhörung der EU-Kommissare vor den Parlamentariern - das ist ein festgelegtes Prozedere, das gibt es immer und es ist meistens nicht reibungslos. Jetzt haben viele Beobachter, Korrespondenten gesagt, die schon viele Jahre in Brüssel sind, so schwierig war es irgendwie noch nie und so ein schlechtes Gefühl hatten wir irgendwie noch nie. Sie beobachten das Ganze auch schon seit Jahrzehnten, darf man ja sagen. Haben Sie auch ein schlechtes Gefühl?
    Woyke: Nein. Ich habe kein schlechtes Gefühl, denn es ist ja klar, dass die Kommission seit Jahrzehnten auch immer größer wird, aber nach dem etwa gleichen Prozedere gewählt werden muss. Das heißt, dass die Nationalstaaten dem Kommissionspräsidenten Kandidaten vorgeben, aus denen er sich eine Kommission basteln muss, und das ist außerordentlich schwierig. Solange das weiter bestehen wird, wird der Kommissionspräsident immer etwas eingeschränkt sein. Aber wir haben ja mit der Wahl des Kommissionspräsidenten, das heißt, dass er bei diesen Wahlen faktisch direkt durch den Bürger gewählt wurde, eine Veränderung dieses Systems und sind meines Erachtens damit auf einem guten Wege.
    Müller: Jetzt sagen Sie, es wird immer schwieriger, weil es immer größer wird und solange sich an diesem Prozedere nichts ändert, dass die nationalen Regierungen bestimmen, wer hingeht - und viele schütteln ja ganz häufig den Kopf und sagen, wieso ist das der denn, der ist doch national gescheitert, der kommt nach Europa. Warum ist Europa nicht etwas für die Besten?
    Woyke: Ich denke, wir sehen das vielleicht etwas aus unserer deutschen Perspektive und da mag es vielleicht manchmal so gewesen sein, dass aus deutscher Perspektive nicht die Besten hingeschickt wurden. Aus französischer Perspektive, die ich ja auch seit Jahrzehnten mit sehr stark berücksichtige, sehen sie das ganz anders. Ein Mann wie Jacques Delors war meines Erachtens der größte und beste Kommissionspräsident, den wir je hatten.
    Müller: Da können wir uns gar nicht mehr dran erinnern!
    Woyke: Sie nicht, aber ich.
    Müller: Ja doch, ich auch ein bisschen noch.
    Woyke: Ich sehr gut.
    Müller: Wie ist das mit Moscovici, wenn wir bei ihm schon sind?
    Woyke: Moscovici ist sicherlich ein guter Mann, aber geklagt wird ja, ob er das richtige Ressort bekommen hat. Aber vielleicht hat Juncker sich auch genau das überlegt, dass er genau Kandidaten auf Positionen gesetzt hat, die in Schwierigkeiten mit diesem Ressort zuhause waren. Das heißt, jetzt wird es ja sehr interessant werden, wie der französische Währungskommissar die französische Finanz- und Wirtschaftspolitik aus der Europaperspektive behandeln wird. Das wird eine ganz spannende Sache.
    "Das französische Defizit ist seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung"
    Müller: Moscovici war gar nicht so schlecht, sagen Sie. Er war auf jeden Fall gut genug, den Schuldenberg der Franzosen und den Haushalt immer weiter auszudehnen.
    Woyke: Ja natürlich! Aber das waren andere auch. Das ist unter Giscard - nein, Giscard war zu früh -, unter Sarkozy passiert, das ist unter Chirac passiert, und das waren konservative Regierungen. Das französische Defizit ist seit Jahrzehnten auf der Tagesordnung und ich bin mal sehr gespannt, ob Herr Moscovici jetzt dieses aus der europäischen Perspektive schafft, und er kann ja keine nationalen französischen Interessen vertreten, da wie wir wissen die Kommissare, wenn sie einmal eingesetzt sind, bildlich gesprochen ihre nationale Kleidung ablegen und die europäische Kleidung anlegen.
    Müller: Jetzt bleiben wir bei der deutschen Perspektive. Wir sind ja auch hier im Deutschlandfunk. Sie sind Deutscher, ich bin Deutscher. Wie soll ich denn gegenüber einem Moscovici, der diese Bilanz mitbringt, wenn er nach Straßburg beziehungsweise nach Brüssel kommt, Vertrauen schenken, wenn er den eigenen Laden nicht im Griff hat?
    Woyke: Na ja. Vertrauen kann ich ihm ja erst mal schenken dadurch, dass ich ihm - und das hat Juncker ja getan - ein Amt übergeben habe, von dem Juncker meint, dass dieses Amt für Moscovici durchaus zutrifft. Und ich kann dann weiter mein Vertrauen ihm schenken durch die Leistungen, die ein Kommissar in seinem Amt erbringt. Das heißt, da gilt das Abwarten. Ich muss ihm ein gewisses Vorvertrauen geben, und sie haben Recht, wenn Sie sagen, Sie haben da Ihre Zweifel. Ich hätte vielleicht auch meine Zweifel, aber ich habe gesehen und gelernt, dass die Kommissare, die dann in Brüssel waren - und das gilt auch gerade für die englischen Kommissare unter Lady Thatcher; an die können Sie sich wahrscheinlich auch noch erinnern -, dass die dann eine vollkommen andere Politik betrieben haben, als Lady Thatcher das wollte, und bei Lady Thatcher es dazu geführt hatte, dass sie diese Kommissare, weil sie sich von der britischen Position zu weit entfernt hatten, nicht zum zweiten Mal vorschlug, sondern andere Kandidaten nach Brüssel schickte.
    "Brüssel wird und wurde auch immer nicht als so wichtig gesehen"
    Müller: Ich hatte gerade an Martin Bangemann gedacht. Ich weiß auch nicht warum. An den kann ich mich erinnern. Das war ja nicht unumstritten, diese Personalentscheidung, und auch, was er da gemacht hat. Da hatten hinterher viele zumindest das Gefühl, er sei eigentlich der Sprecher der europäischen Industrie und nicht mehr der Kommissar der Europäischen Kommission.
    Woyke: Ja. Wir haben in den 80er- und auch Anfang der 90er-Jahre ganz sicherlich in der Personalpolitik in Brüssel gegenüber der EU, EG/EU, keine gute Figur gemacht. Das ist auch in wissenschaftlichen Analysen nachgewiesen worden, die da heißen "Politik mit der linken Hand". Das heißt, Brüssel wird und wurde auch immer nicht als so wichtig gesehen, und ich denke, dass auch gerade unsere Parteien in der Bundesrepublik die Entwicklung und Entscheidungen, die in Brüssel und Straßburg sich vollziehen, immer wichtiger nehmen sollten, weil tatsächlich die Musik zunehmend dort spielt.
    Müller: Sie haben gesagt "wir" und Sie meinen ganz klar Deutschland, Sie meinen Berlin.
    Woyke: Ich meine Berlin, ich meine die deutschen Parteien, ich meine die deutschen Politiker.
    Woyke: Änderung des Verfahrens für die Kommissare
    Müller: Und deswegen haben wir uns jetzt für Günther Oettinger entschieden? Also nicht wir beide, aber die Kanzlerin noch einmal.
    Woyke: Ja. Ich denke, dass der Kommissar Oettinger im Verlaufe seiner letzten fünf Jahre durchaus im Amt gewachsen ist. Ob er die Position, die jetzt ihm übergeben worden ist, ob man da vielleicht einen besseren hätte nehmen können, das mag sein. Aber Sie müssen ja immer auch die politischen Umstände berücksichtigen, die eine Regierung aus innenpolitischen Gründen hat, solch einen Kommissar nach Brüssel zu schicken. Von daher bin ich dafür, dass das Verfahren für die Kommissare geändert wird, dass nämlich der Kommissionspräsident tatsächlich aussuchen kann, wen er nimmt, und dabei nur einen nationalen Proporz in Ansätzen berücksichtigt. Der kann sich auch über eine gewisse Zeit, über zwei Perioden erstrecken, sodass nicht jedes Jahr ein Kommissar vertreten sein muss. Dann kann die Kommission auch verkleinert werden und kann wesentlich effizienter arbeiten.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Münsteraner Politikwissenschaftler und Europakenner Professor Wichard Woyke. Wir haben Sie - einige werden das gemerkt haben - kurz vor Ihrem Abflug erreicht. Wir haben ein paar Geräusche im Hintergrund gehört. Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub und danke fürs Gespräch.
    Woyke: Danke! Tschüss.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.