Im weißen Hemd, das dunkle Sakko lässig über die Schulter gehängt, erscheint Jean-Claude Juncker zum Interview in der EU-Kommission. Für ein Foto mit uns bindet Juncker sich dann doch lieber rasch die Krawatte eines Mitarbeiters um. "Ich bin nicht besonders gut mit Krawattenknoten", gibt der Mann, der keinen Tag seines Lebens ohne Schlips auskommen dürfte, dabei schmunzelnd zu. Mag sein, dass der Kommissionschef auch deshalb gut gelaunt scheint, weil die EU nicht mehr ganz so dicht am Abgrund steht wie noch vor wenigen Monaten oder einem Jahr. Ob US-Präsident Trump beim Zusammenschweißen der EU – sozusagen als abschreckendes Beispiel – geholfen habe, wollen wir wissen. Was Juncker, zumindest in Teilen, unumwunden zugibt:
"Libyen ist ein nicht-existierender Staat"
"Ich führe dieses europäische Aufwachen allerdings nicht nur auf die Präsidentschaft von Trump zurück", erklärt Juncker. Wobei Kritiker durchaus Zweifel anmelden, ob die EU in Sachen Flüchtlingskrise wirklich aufgewacht ist: Auf der Mittelmeer-Route von Libyen nach Italien versuchen derzeit mehr Schutzsuchende denn je die lebensgefährliche Überfahrt.
"Mit der Türkei kann man Abkommen schließen. Libyen aber – ich sage das nicht gerne laut – ist ein nicht-existierender Staat. Bisher habe ich dort denjenigen noch nicht gefunden, mit dem man abschlussfertige und in der Folge wirkende Vereinbarungen treffen könnte."
Kein Beispiel gehobener Staatskunst
Den Türkei-Flüchtlingspakt auf Nordafrika zu übertragen, hält Juncker also für schlicht unmöglich. Von einer Lösung des Problems also ist man in der EU meilenweit entfernt. Was die Türkei selbst angeht, so liegen die Beziehungen zur EU für alle Welt deutlich sichtbar in Trümmern. Die Beitritts-Gespräche deshalb einseitig abzubrechen, hielte der Kommissionschef aber für einen Fehler:
"Jetzt die Last der Verantwortung auf die Europäische Union zu übertragen, statt sie in der Türkei zu belassen, hielte ich nicht für ein Beispiel gehobener Staatskunst", so Juncker. Der im Gespräch mit dem ARD-Europastudio Brüssel gleichzeitig mahnend an die Adresse Ankaras feststellt, dass sich die Türkei schrittweise - und manchmal auch mit Riesenschritten - von der EU entferne. Parallel zu den Beitritts-Gesprächen empfahl Junckers Kommission Ende vergangenen Jahres auch, mit Ankara über eine Vertiefung der Zollunion zu reden.
Doch weitere Handelserleichterungen stellt der Chef der Brüsseler Behörde nun in Frage: "Ich bin mit mir selbst darüber im Zwiegespräch. Es sind aber in den letzten 18 Monaten so viele Ereignisse eingetreten, auch was die Freiheit von objektiv berichtenden Journalisten anbelangt. Daher will ich jetzt nicht sagen, dass wir das ohne Abstriche tun sollten."
"Martin Schulz bleibt mein Freund"
Dass der 62-Jährige zu einer ganzen Reihe von Themen – Polen, Diesel-Skandal, deutsche Bundestagswahl – lieber geschwiegen als geredet hätte, daraus machte Juncker kein Geheimnis. Letztlich aber entschied er sich doch für’s Reden. Etwas widerwillig auch bei der Frage, ob er eigentlich bei der Wahl im September seiner Parteifreundin Angela Merkel oder seinem echten Freund Martin Schulz die Daumen drückt:
"Erstens möchte ich Ihre Frage nicht beantworten. Zweitens bin ich Christdemokrat, wünsche mir also, dass meine Parteifamilie erfolgreich aus diesen Wahlen hervorgehen wird. Und drittens: Martin Schulz bleibt mein Freund."
Und eins stellte Juncker zum Schluss auch noch klar: Natürlich sei die Bundestagswahl für Europa wichtig. Auch wenn es in Deutschland so aussieht, als entscheide die sich zwischen einer Pro-Europäerin und einem Pro-Europäer.