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Jungenkonferenzen

Wie praktische Jungenarbeit an einer weiterführenden Schule aussehen kann, erprobt seit 1997 die Gesamtschule in Bielefeld-Schildesche. Dort hat sich der Mathematik- und Wirtschaftslehrer Uli Boldt zunächst mit der pädagogischen Literatur zum Thema, dann mit seinen Kolleginnen und Kollegen und schließlich auch mit den Schülern selbst auseinander gesetzt.

Armin Himmelrath |
    Lehrer: Gestern hab ich euch so einen Zettel gegeben, mit Adjektiven für Jungen. Was wünscht ihr eurem besten Freund?

    Schüler: …dass er hilfreich ist.

    Donnerstag morgen an der Martin-Niemöller-Gesamtschule in Bielefeld. Klassenlehrer Uli Boldt sitzt mit einigen Neuntklässlern zusammen. Die Jungen sprechen über positive und negative Eigenschaften, erzählen, was sie sich wünschen und wovor sie sich bei anderen fürchten. Mädchen sind bei diesem Treffen ausdrücklich nicht zugelassen. Jungenkonferenz nennt Uli Boldt folgerichtig diese Sitzungen, für die die Klassen regelmäßig nach Geschlechtern getrennt werden. Das sei nicht etwa nur ein modischer pädagogischer Trend, sagt Uli Boldt. Im Gegenteil, für diese getrennten Gesprächsrunden gebe es einen echten Bedarf.

    Ich gehe davon aus, dass Jungen häufig darunter leiden – das ist ihnen zwar nicht bewusst, aber sie leiden darunter – dass sie ständig von einem Überlegenheitsimperativ ausgehend gezwungen sind, nicht ganz authentisch bei sich zu sein. Und dieser Außendruck kann genommen werden, wenn das andere Geschlecht fehlt.

    Das gelte für Bereiche wie die Sexualkunde, aber auch für Strategien zur Konfliktlösung. Jungen, hat Uli Boldt beobachtet, würden immer noch dazu tendieren, Auseinandersetzungen mit verbaler oder körperlicher Gewalt lösen zu wollen. Hier könne eine gezielte Jungenpädagogik sinnvoll ansetzen.

    Das heißt, Fallbeispiele zu besprechen, das heißt aber auch Rollenspiele einzuüben und so weiter und so fort. Ein anderes Beispiel ist der Bereich Sexualerziehung; wenn ich mich an meine eigene Kindheit erinnere, ist’s mir immer schwer gefallen, über solche Themen wie Verhütung nicht nur nachzudenken, sondern auch drüber zu sprechen. Und ich glaube, wenn das andere Geschlecht, die Mädchen, in meiner Jugend, gefehlt hätten, hätte mir das sehr stark helfen können, über die Frage der Verhütungsmittel, über die Frage von Freundschaften allgemein – wie bekomm ich eine Freundin? Was mache ich falsch? Was mache ich richtig? Kann mir einer einen Tipp geben?– zu reden.

    Ein Konzept, das aufgeht, bestätigen die beiden Neuntklässler Julian und Jan:

    Durch diese Jungengruppen haben wir dann auch wirklich, sind wir uns näher gekommen, und den Mädchen auch ein bisschen, war ganz erfolgreich eigentlich. Hat auch Spaß gemacht.



    Wenn man jetzt mit Mädchen Biologieunterricht hat, dann sind ja die meisten Jungs albern, machen nur so. Und wenn man rein in einer Jungengruppe ist, dann spricht man eben anders, nicht so albern, sondern ist man auch oft was ernster und so. In einer Klasse macht man eben mehr Scheiße.

    Seit fünf Jahren gibt es an der Martin-Niemöller-Gesamtschule solche Jungenkonferenzen, die übrigens parallel auch von entsprechenden Angeboten für die Mädchen begleitet werden. Bei Schülern und Eltern stieß die geschlechterbezogene Bildung schnell auf Zustimmung, schwerer taten sich dagegen vor allem die männlichen Kollegen, erinnert sich Uli Boldt. Doch die Ausgangslage in den Klassen sei letztlich das entscheidende Argument gewesen, eigene jungenpädagogische Ansätze zu entwickeln und umzusetzen:

    Wir haben oftmals in der Schule festgestellt – auch schon seit Jahren – dass wir oftmals, wenn wir mit Jungen zu tun haben, wie Feuerwehrleute agieren müssen: Also wir greifen dann ein, wenn’s brennt. Das bezieht sich sowohl auf schulisches Versagen und leistungsmäßiges Versagen, aber auch gerade im Verhaltensbereich, und ich habe das Gefühl, dass Schule sowohl auf die Jungen bezogen als auch auf die Mädchen bezogen in gewissen Bereichen präventiver arbeiten müsste, und insgesamt auch stärker die Frage des Geschlechts in alle möglichen schulischen Zusammenhänge mit einbauen müsste.

    Mittlerweile gibt es an der Gesamtschule regelmäßige interne Fortbildungen zu dem Thema, und im Kollegium herrscht Einigkeit darüber, dass sich die Atmosphäre in den Klassen gebessert hat:

    Ich habe das Gefühl, dass das Gewaltpotenzial insgesamt geringer geworden ist, dass die Jugendlichen gelernt haben, besser miteinander zu sprechen, sich gegenseitig zuzuhören, und mir persönlich geht es so, dass sich mir die Jungen anders darstellen. Ich habe die umfassender kennen gelernt. Mehrdimensionaler, so wie sie auch wirklich sind. Das erleichtert mir es bei Konfliktsituationen, die natürlich immer noch vorhanden sind, diese Konflikte zu regeln.

    Das Bielefelder Projekt findet mittlerweile reihenweise Nachahmer: Immer wieder kommen Lehrer anderer Schulen, um sich an der Martin-Niemöller-Gesamtschule über die Erfahrungen mit einer ganz eigenen Jungenpädagogik berichten zu lassen.