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Jungwähler, Protestwähler, Nichtwähler

Laut Everhard Holtmann gelingt es der Piratenpartei, bisherige Nichtwähler zur Wahlurne zu bewegen. Der eigentliche "parlamentarisch-politische Lackmustest" für die Piraten seien jedoch die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, so der Politologe.

Peter Kapern sprach mit Everhard Holtmann |
    Peter Kapern: CDU 35,2 Prozent (plus 0,7), SPD 30,6 Prozent (plus 6,1), Die Linke 16,1 Prozent (minus 5,2), Grüne 5,0 (minus 0,9), FDP 1,2 Prozent (minus 8) und die Piraten 7,4 Prozent (plus 7,4) – das ist das vorläufige amtliche Endergebnis der gestrigen Wahlen im Saarland. Und wenn nicht völlig erstaunliche Dinge geschehen, dann führt dieses Ergebnis zu einer Großen Koalition unter Führung der CDU. Nicht nur an der Saar, sondern in ganz Deutschland verbreiten die Piraten mittlerweile Angst und Schrecken, jedenfalls bei den etablierten Parteien. Wie soll man mit denen umgehen, die nicht auf einer Woge populistischer Parolen herangesurft kommen, sondern mit der Forderung nach Transparenz vor allem? Mitgehört hat Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg. Herr Holtmann, 95 Thesen können wir heute Mittag aus Zeitgründen nicht durchdeklinieren, also beschränken wir uns auf die wichtigsten. Warum wird mit den Piraten eine Partei gewählt, deren Fundament man ja so beschreiben kann: Wir haben zwar keine Rezepte für die Lösung der drängendsten Fragen, aber immerhin sagen wir das ganz offen?

    Everhard Holtmann: Ja, sie haben einen gewissen Neuigkeitseffekt für einen eher wachsenden Teil der Wählerschaft. Die Piraten profitieren offensichtlich grundsätzlich von der mangelnden Anziehungskraft der etablierten Parteien. Es gelingt ihnen, in einem doch beachtlichen Ausmaße - jedenfalls bei den letzten Landtagswahlen an der Saar erkennbar -, bisherige Nichtwähler zu mobilisieren - das ist ja im Sinne einer Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie durchaus begrüßenswert -, und da schälen sich auch einzelne Konturen eines sozialen Profils heraus. Es sind in einem überdurchschnittlichen Maße Jungwähler, jeder vierte gestern bei den Landtagswahlen, und durchaus auch Protestwähler, was den Bogen wieder zurückschlägt zur mangelnden Anziehungskraft der sogenannten alten Parteien.

    Kapern: Ist Ihrer Meinung nach schon sicher, dass die Piraten Dauerbewohner in deutschen Parlamenten werden?

    Holtmann: Ich denke, der eigentliche parlamentarisch-politische Lackmustest werden die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen sein, einem entsprechend großen Flächenstaat mit nicht nur sehr viel größerer Bevölkerungsdichte, sondern auch einem insgesamt, was jetzt die etablierten Parteien betrifft, sehr viel stärker verankerten Parteiensystem. Also dann wird sich weisen, ob die Piraten tatsächlich ihren Siegeszug durch die einzelnen Bundesländer fortsetzen werden. Immerhin: Die jüngsten Umfragen deuten an, dass sie da durchaus begründete Chancen haben.

    Kapern: Haben Sie ein Patentrezept für die etablierten Parteien, wie die mit den Piraten umgehen sollen?

    Holtmann: Nun, ich denke auf der einen Seite, sie müssen jetzt nicht einfach nur hinterherlaufen. Es kann ja nicht sein, dass die bisherige sorgfältige, gründliche parteiinterne, aber auch koalitionsinterne Arbeit in einzelnen Politikfeldern, also gewissermaßen die Mühen der Ebene, völlig bedeutungslos würde oder auch nutzlos gewesen sei. Das werden umgekehrt die Piraten sicherlich auch noch lernen müssen, wenn sie sich konsolidieren wollen. Es reicht auf der einen Seite sicherlich nach meiner Einschätzung nicht aus, aus den Postulaten Transparenz, direkte Beteiligung und deren Kombination mit bestimmten sozialstaatlichen Leistungen ein langfristig konkurrenz- und tragfähiges Programm zusammenzuzimmern. Und man muss sicherlich aus der Sicht der etablierten Parteien auch die eine oder andere Forderung kritisch beleuchten, denn Transparenz scheint ja auf der einen Seite so etwas wie ein Selbstläufer zu sein mit entsprechender Popularität. Auf der anderen Seite: Man kann rationale und auch effektive Politik in einem Mehr-Ebenen-System wie dem deutschen nur dann machen, wenn man ab und zu auch einmal nicht alles durchsichtig macht. Wie soll man verhandeln zwischen Interessenorganisationen und den vielfältigen Interessen und Bedürfnissen einer Gesellschaft, wenn man sich nicht zu vertraulichen Beratungen zurückziehen kann. Also hier gilt es auch, durchaus offensiv bestimmte Forderungen, die jetzt sehr populär sind, zu problematisieren.

    Kapern: Haben Sie die FDP mit dem gestrigen Wahlergebnis abgehakt?

    Holtmann: Abgehakt sicherlich nicht. Es war ja keine Überraschung, allenfalls, dass sie tatsächlich, was die Wählerprozente betrifft, auf den Status einer Splitterpartei zurückatomisiert wird. Ich denke, auch für die FDP wird es entscheidend darauf ankommen, wie die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen ausgehen werden, reicht der zumindest in Ansätzen erkennbare Mobilisierungseffekt, den die Kandidatur von Christian Lindner hervorgerufen hat, tatsächlich aus, um noch einmal die Fünfprozenthürde zu überspringen. Viel Stoff an sogenannten Wechselwählern oder Leihstimmen von der CDU wird es dort sicherlich nicht geben.

    Kapern: Was muss Parteichef Rösler eigentlich mehr fürchten, dass Christian Lindner die FDP in Nordrhein-Westfalen über die Fünfprozenthürde hievt, oder dass er genau das nicht schafft?

    Holtmann: Nun, wenn es Lindner schaffen sollte, dann gehört er sicherlich wieder fast auf einen Schlag zum ganz engen Führungskreis der FDP und wird damit auch zu einer ernsthaften Konkurrenz für Rösler. Auf der anderen Seite: Auch Rösler wird trotz dieser Personalie durchaus ja wissen, dass die Existenz der FDP von einem entsprechenden Erfolg in Nordrhein-Westfalen abhängt, und wenn der ausbleibt, dann ist in der Tat es nicht unwahrscheinlich, dass es zu einer Implosion auch der FDP kommt, und zwar nicht nur im Bund, sondern möglicherweise auch aus den Ländern heraus.

    Kapern: Ist eigentlich auch dies eine These, die sich aus dem gestrigen Wahlergebnis ableiten lässt, egal was in der Welt passiert, egal wer zulegt oder wer Verluste erleidet, die Kanzlerin steht unerschütterlich da?

    Holtmann: Das Ergebnis der gestrigen Landtagswahl hat ja bezogen auf Berlin nur einen begrenzten richtungsweisenden Status. Da wird es nach dem Wahlergebnis, wie immer es ausfallen mag, in Nordrhein-Westfalen ganz andere Wellenbewegungen geben. Die Kanzlerin ist insofern in ihrem politischen Status, was jetzt auch die Regierung in Berlin betrifft, von den gestrigen Wahlergebnissen weitgehend unbewegt, denn sie muss und sie kann ja damit rechnen, der FDP bleibt gar nichts anderes übrig, trotz einer möglicherweise sich fortsetzenden Serie von Misserfolgen bei Landtagswahlen, dass sie als Koalitionspartner in Berlin erhalten bleibt. Die Alternative, etwa vorzeitige Neuwahlen, das wäre für die FDP ja der kalkulierte Selbstmord. Also Angela Merkel kann das ruhig eigentlich abwarten, zumal ja nicht nur ihre eigenen Popularitätswerte gut sind, sondern auch die CDU sich bundesweit in den Ländern als Partei, was die Prozentwerte betrifft, entsprechend konsolidiert.

    Kapern: Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg. Herr Holtmann, danke für das Gespräch, schönen Tag noch.

    Holtmann: Bitte sehr, Ihnen auch.

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