Denken statt Auswendiglernen
Wie das Jurastudium reformiert werden müsste

Ohne Juristen funktioniert der Rechtsstaat nicht. Darum ist ihre Ausbildung wichtig. Doch muss sie auch dringend verändert werden, finden Studierende. Einer Reform stehen indes viele Hürden im Weg.

    Ein Student schaut in einer Unibibliothek in Hamburg aus dem Fenster.
    Vom Paragrafenberg und Lernstoff erschlagen: So ergeht es vielen Jura-Studierenden. Viele leiden unter Prüfungsangst. (picture alliance / dpa / Markus Scholz)
    Einen Klempner, eine Elektrikerin oder einen Mediziner gut zu kennen oder gar in der eigenen Familie zu haben, kann Gold wert sein. Früher oder später ist man auf ihren Rat angewiesen. Gleiches gilt für Juristinnen und Juristen, die auch für den Staat unabdingbar sind.
    Wenn das Jurastudium nicht gut funktioniert, kann das für die gesamte Gesellschaft ein Problem werden. Das scheint in Deutschland der Fall zu sein. Denn viele Studierende sind zufrieden mit der juristischen Ausbildung und auch Juraprofessoren sehen Reformbedarf. Die Landesjustizministerinnen und -minister haben zu dem Thema bereits getagt, doch ist es nicht sicher, ob durchgreifende Änderungen stattfinden werden.

    Inhaltsverzeichnis

    Wie ist ein Jurastudium aufgebaut und wie lange dauert es?

    Jura gehört zu den arbeitsreichsten Studiengängen. Dabei wird vor allem Spezialwissen auswendig gelernt: Dieser Paragrafenberg aus Gesetzen und Einzelnormen wächst und wächst. Schließlich unterliege das Recht „ständiger Veränderung“, sagt der Juradozent Daniel Steffens von der Universität Leipzig. „Dazu kommt, dass jährlich höchstrichterliche Rechtsprechung gelernt werden muss, man sollte sich mit aktuellen Entscheidungen auskennen – und entsprechend kommt immer mehr potenzieller Prüfungsstoff hinzu.“
    Etwa vier Semester dauert es bis zur Zwischenprüfung. Dann folgt zwei Semester ein sogenanntes Schwerpunktstudium, also eine gewisse Spezialisierung. „Dann mindestens zwei Semester Examensvorbereitung, in der Regel sind das eher drei“, sagt Professor Fabian Wittreck, der an der Universität Münster das Institut für Öffentliches Recht und Politik leitet.
    Das Studium bis zum ersten Staatsexamen dauert also mindestens vier, oft aber auch fünf, sechs Jahre oder noch länger. Danach kommen zwei Jahre Referendariat – dort schnuppert man Praxisluft. Dann kommt noch das zweite Examen.
    Von den Noten der Examensklausuren hängt maßgeblich ab, welche Chancen die Studierenden später auf dem Arbeitsmarkt haben. Unterkommen werden zwar die allermeisten Absolventen. Wer aber auf eine wirklich gut dotierte Position will – in der Wirtschaft, im Staatsdienst oder in einer großen Anwaltskanzlei –, der braucht in den meisten Fällen immer noch ein sogenanntes Prädikatsexamen: mit der Note „sehr gut“, „gut“ oder „vollbefriedigend“. Das allerdings schaffte 2020 im Zweiten Staatsexamen gerade mal ein gutes Fünftel.

    Welche Kritikpunkte gibt es an dem Jurastudium?

    • Zu viel Spezialwissen muss auswendig gelernt werden

    Mit jedem Jahr wächst der Berg an Paragrafen und wichtigen Gerichtsentscheidungen. Diese Stoffmenge sei irgendwann nicht mehr zu beherrschen, da sind sich viele Juristinnen und Juristen einig. Zu kurz komme dagegen selbstständiges Denken, sagt der Münsteraner Institutsleiter Fabian Wittreck.

    • Abschluss nur mit Staatsexamen

    Das Jurastudium lässt sich an vielen Universitäten nur mit dem Staatsexamen abschließen. Fünf bis sechs Jahre dauert es in etwa bis zum ersten Staatsexamen. Fällt man dann durch, hat man nichts außer Abitur. Kein abwegiges Szenario, denn die Prüfungen sind keinesfalls einfach: Im ersten Anlauf fällt ein Drittel durch. Zwar hat man mehrere Versuche, und zuletzt schaffen über 90 Prozent das Examen. Trotzdem erzeugt die „Hit or miss“-Situation mächtig Druck.
    Deswegen besuchen Kandidatinnen und Kandidaten vor den Prüfungen meist einen externen, privaten Kurs, das sogenannte Repetitorium. Das kann über 1.000 Euro kosten.

    Wie belastend ist die Ausbildung für Jurastudierende?

    Einer Umfrage der Initiative iur.reform mit etwa 12.000 Teilnehmenden hat gezeigt: Nur etwa 20 Prozent der Jurastudierenden sind zufrieden mit der juristischen Ausbildung.
    Viele Studentinnen und Studenten plagen vor den Prüfungen Versagensängste – gerade auch, wenn sie zuvor gute Noten hatten. Sie schlafen schlecht, sie durchleben mitunter echte Depressionen. Herausgefunden hat das der Regensburger Psychologe Stefan Wüst in seiner Studie JurSTRESS.
    „Was das Ganze so schwierig macht, ist die psychische Belastung, ein, anderthalb Jahre zu lernen auf sechs Klausuren. Denn: Egal wie gut man vorbereitet ist, es bringt einem auch keine Garantie, dass diese sechs Klausuren auch gut laufen“, beschreibt es ein Jurastudent.

    Zu welchen Problemen führt die Ausrichtung des Jurastudiums?

    Da es bei den Examina durchaus passieren kann, dass Prüfer Fragen zu exotischen Lieblingsspezialgebieten einbauen, wird im Studium viel auswendig gelernt. Anderes sei aber viel wichtiger, kritisieren die Befürworter einer Reform: ob eine Kandidatin oder ein Kandidat verstanden hat, wie ein Gesetz funktioniert, wie mehrere Gesetze ineinandergreifen.
    Freies Denken und Assoziieren seien wichtige Voraussetzungen für eine gute Leistung in den Berufen, sagt der Fachanwalt für Arbeitsrecht Friedrich Kühn. „Ein Richter, ein Staatsanwalt wird oftmals vor Fällen sitzen, wo es erforderlich ist, auch ein bisschen Fantasie walten zu lassen. Wenn das überlagert wird von auswendig Gelerntem, könnte das eher schädlich sein.“
    Auch das Erlernen von praktischen Fähigkeiten wie beispielsweise Verhandlungsgeschick – für Juristen in Firmen ein zentraler Punkt – kommen zu kurz.

    Welche Ideen für Reformen des Jurastudiums gibt es?

    Der Verein Bündnis zur Reform der juristischen Ausbildung“ hat auf dem Internetportal iur.reform gut 40 Reformvorschläge aufgelistet. Zentrale Elemente sind: „Die emotionale Entlastung von Studierenden und ReferendarInnen, die Digitalisierung während der Ausbildung und die Stoffreduktion“, sagt die Vorstandsvorsitzende von iur.reform, Sophie Dahmen.

    • Prüfungsstoff reduzieren

    In der Umfrage von iur.reform fordern zwei Drittel der Befragten, der Prüfungsstoff müsse reduziert werden. Auch die Mehrheit der Juraprofessorinnen und -professoren hat sich dafür ausgesprochen. Es muss auswendig gelerntes Spezialwissen gestrichen werden. Nach der Devise: Denken statt Pauken.

    • Bachelor einführen

    Mehr als 70 Prozent der Studierenden haben sich in der iur.reform-Umfrage für die Einführung eines integrierten Bachelors ausgesprochen. So könnte gewährleistet werden, dass diejenigen, die das Staatsexamen nicht bestehen, nicht ohne rechtswissenschaftlichen Abschluss die Hochschule verlassen.
    Auch ist fraglich, ob überhaupt alle ihre zwei Staatsexamina benötigen: Dann ist man zwar „Volljurist“ und gilt als „befähigt zum Richteramt“. Ein Teil aber geht gar nicht zur Justiz oder in die Anwaltskanzlei, sondern arbeitet beispielsweise in die Wirtschaft oder die Verwaltung. Dafür könnte ein Bachelorstudium ausreichen, zumal oft ganz andere Fähigkeiten benötigt werden, die im Studium nicht vermittelt werden.
    An fast 20 Universitäten gibt es einen Bachelorabschluss schon, etwa in Berlin. In Lüneburg kann man darüber hinaus auch ein Masterstudium belegen.

    • Digitalisierung und Legal Tech ins Studium einbinden

    Künstliche Intelligenz wird bereits in der juristischen Praxis eingesetzt, beispielsweise bei Massenverfahren, wo die Sachverhalte stets sehr ähnlich sind. Legal Tech nennt sich diese „Automatisierung“ von juristischen Tätigkeiten. Im Studium wird diese Entwicklung noch nicht thematisiert. Dabei könnte sie die Arbeit von Juristen bald grundlegend verändern.

    Warum sind Reformen des Jurastudiums so schwierig?

    Juristische Prüfung und Studium sind von jeher zweigeteilt: Unis bilden aus. Der Staat aber prüft sie. Als dieses Prozedere vor 150 Jahren im monarchischen Preußen erdacht wurde, ging es offenkundig darum, die Justiz vor allzu fortschrittlichen Einflüssen aus der Sphäre der Universitäten zu schützen. Seither hat sich die juristische Ausbildung in Deutschland strukturell kaum gewandelt, und die Politik legt nicht eben Übereifer an den Tag, daran etwas zu ändern.
    Und: Bei tieferen Eingriffen verfängt man sich schnell im Gestrüpp des Föderalismus. Das Bundesjustizministerium verweist auf Anfrage auf die Länder, denn die regeln von jeher die Details der Ausbildung.
    Der Bund selbst habe aber unlängst den Weg dafür freigemacht, dass die fünfstündigen Examensklausuren nicht mehr mühsam mit der Hand geschrieben werden müssen, sondern jetzt auch auf Computern, die die Prüfungsämter stellen. Sofern die Länder da mitziehen. Diese wiederum zeigen sich offen gegenüber Bachelor- und Masterabschlüssen zusätzlich zum Staatsexamen. Solche Ansätze können zusätzlich frischen Wind in die Curricula bringen. Auch mit Blick auf ein in der Praxis allgegenwärtiges Thema: die Digitalisierung.
    „Ich würde sagen: Große Reform, das ist schon ein dickes Brett. Aber wenn es eine Chance gibt, dann jetzt“, sagt die Juristin und Journalistin Ann-Kathrin Jeske.

    Michael Kuhlmann, Ann-Kathrin Jeske, Leila Knüppel