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Jurij Wynnytschuk
Das Geheimnis um den Todestango

Ein Ukrainer, ein Pole, ein Deutscher und ein Jude - vier junge Männer in Lemberg/Lwiw in den 30er-Jahren. Wie der Zweite Weltkrieg ihr Leben und zugleich das Gesicht der Stadt verändert, erzählt der 1952 geborene Autor Jurij Wynnytschuk in seinem Roman "Im Schatten der Mohnblüte".

Von Lerke von Saalfeld |
    Straße in der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg)
    Straße in der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg) (dpa / picture alliance / Markiian Lyseiko)
    "Oben schneit es, die Raben krächzen, die Bäume knacken vor Frost und in der Ferne knirscht der Schnee unter den Stiefeln der Mörder. Ihr Kommen ist ringsum vernehmbar. Noch fernes, wütendes Bellen von Hunden, das anders ist als das Gekläff der Dorfhunde, es schwillt an, wird allmählich lauter, die Raben fliegen laut krächzend auf und davon. Die vier jungen Männer sitzen in ihrem Versteck und lauschen. Dann blicken sie sich in stillem Einverständnis an und verbrennen Papiere."
    Mit dieser Schilderung beginnt der Roman von Jurij Wynnytschuk "Im Schatten der Mohnblüte". Die vier jungen Männer, das sind ein Ukrainer, ein Pole, ein Deutscher und ein Jude, Freunde, die in Lemberg/Lwiw gemeinsam ihre Jugend verbracht haben. Nun sitzen sie in einem Bunker, den Zweiten Weltkrieg haben alle überlebt, aber neue Gefahr droht, die Sowjets nehmen die Ukraine ein. Wie schon ihre Väter stehen sie vor der Wahl: Tod oder Knechtschaft. Bevor die NKWD-Einheiten sie überfallen, zünden sie eine Granate. Drei der jungen Männer sind sofort tot, der vierte, der Jude, überlebt, verliert nur einen Arm. Er stand ein wenig abseits und spielte auf seiner Geige den Freunden den "Todestango" vor, der im Verlaufe des Romans eine immer wiederkehrende, geheimnisvolle Rolle spielt.
    Zwei ineinander verflochtene Geschichten
    Jurij Wynnytschuk baut den Roman in zwei Strängen auf: Die Kapitel A bis Z erzählen die Geschichte der vier unzertrennlichen Freunde in den 30er-Jahren und während des Krieges, dazu alternierend sind die Kapitel 1 bis 31 gesetzt, in denen die Hauptfigur der Wissenschaftler Jarosch ist, der sich mit der alten Sprache des Arkanischen beschäftigt und in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts in Lemberg lebt. Zusammen kommen diese beiden Stränge, weil der Wissenschaftler der Melodie und dem Geheimnis um den Todestango nachspürt und von dem überlebenden jüdischen Geiger Joschi, inzwischen ein 90-jähriger Greis, die Aufzeichnungen seines Jugendfreundes Orest erhält, in denen dieser als Icherzähler der Kapitel A bis Z das Leben und Treiben des Freundeskreises erzählt - ausgenommen das bittere Ende im gesprengten Versteck und den Tod der drei Freunde, das erzählt der Geiger Joschi dem Wissenschaftler mündlich.
    Diese Konstruktion ist nicht leicht zu lesen, aber reizvoll. Wynnytschuk, der auch schon in früheren literarischen Arbeiten über das vergangene galizische Lemberg geschrieben hat, schildert in bunten Farben aus der Perspektive des Orest die vergangene Welt, die die Freunde in der Zwischenkriegszeit erleben:
    "Von klein auf lernte ich Lwiw anhand von Gerüchen kennen. Es sind unzählige, an ihnen erkennt man die Jahreszeit, selbst wenn man im Haus sitzt und die Nase nicht nach draußen streckt. Der Herbst etwa riecht streng nach sauren, mit duftendem Dill, Knoblauch und Kren gewürzten Gurken, aus den Vororten weht der Geruch von Bratkartoffeln. Während des Übergangs vom Herbst zum Winter riecht es nach Sauerkraut und im Winter, besonders vor den Weihnachtsfeiertagen, liegt der Rauch in der Luft, in dem fast ganz Lwiw Würste, Schinken und Speck räuchert ... An den Weihnachtsfeiertagen duftet es nach Semmeln, Fisch und Honig, im Judenviertel kitzelt zudem der Duft von Gänseschmalz, Röstzwiebeln, Peperoni und Euter, gekocht in Milchsuppe, die Nase. Im Frühling, vor den Ostertagen, dringt abermals das heftige Aroma des Geräucherten durchs Fenster ... Im Sommer verströmen dann Erdbeeren und in der Sonne getrocknete Pilze ihren Duft, sie werden überall auf den Straßen feilgeboten und die Stadt ertrinkt in einem berauschenden Duft von gekochten Beeren und Malvenmarmelade."
    Zwischen den Fronten
    Mit dieser multikulturellen Idylle ist es vorbei, als der Krieg sich immer mehr der Stadt nähert. Zuerst besetzen die Sowjets die Stadt, dann folgt die deutsche Wehrmacht - unter beiden Besatzungsmächten sind die Menschen ihres Lebens nicht mehr sicher; die Sowjets verüben barbarische Gräueltaten an der Bevölkerung, die Deutschen vernichten auch die jüdische Einwohnerschaft. Nach dem Ende des Kriegs, den die Freunde unterschiedlich erleben, der Deutsche in der Wehrmacht, der Jude im KZ, führen sie die Wege wieder zusammen. Alle treten ein für eine unabhängige Ukraine und finden - bis auf den jüdischen Geiger - den Tod im Widerstand gegen die neuerliche sowjetische Usurpation.
    Der Roman wurde vor dem Maidan-Aufstand 2013/14 verfasst - zu Zeiten, als Janukowitsch mit sowjetischer Rückendeckung das Land eisern regierte. Die Eroberung Lwiws in der Nachkriegszeit gab einen Vorgeschmack:
    "Die neuen sowjetischen Bewohner kochten vor Wut und Rachsucht, brachen das Parkett heraus und verheizten es, zerhackten die Möbel, zerstörten alles, was in der Wohnung wertvoll war, verwüsteten sie gründlich und geübt und besetzten dann in gewohnter Manier die nächste Wohnung. In ihrer ohnmächtigen Wut verfluchten sie diese ganze verhasste Welt, die sie plünderten, aber nicht unterwerfen konnten."
    All das, was später passierte, zeichnet sich bei Wynnytschuk bereits im historischen Gewand ab. Geheimdienste sowjetischer und ukrainischer Couleur bespitzeln das Leben der Bürger. Selbst das Geheimnis um die Melodie des Todestangos interessiert die Sicherheitskräfte. Gespielt wurde dieser Tango einst im Janowski-KZ vom Lagerorchester, wenn wieder Massenhinrichtungen anstanden. Die Melodie des Tangos, die auf Quellen und Noten aus dem 17. Jahrhundert zurückgeht, versprach ein Weiterleben nach dem Tode, diese magische Kraft beunruhigt auch die Herrschenden. Der Wissenschaftler Jarosch wird ins Visier genommen ebenso wie eine ihm ergebene Studentin, die seine Studien über das Arkanische und den Todestango eifrig unterstützt. Der greise ehemalige Geiger Joschi, der mit einem Arm nicht mehr spielen kann, findet eine junge Künstlerin, der er diesen Tango mit den verborgenen zwölf Noten beibringt.
    Fantastischer Realismus auf Ukrainisch
    Das klingt alles verwirrend und wird auch vom Autor in teils skurrile, teils fantastische Bilder gehüllt, so wenn die Folianten einer alten Bibliothek sich bedrohlich in Bewegung setzen, wenn wieder irgendwelche Leichen entsorgt werden müssen, wenn plötzlich eine Armee Gestorbener auftaucht oder türkische Sufi-Tänzer eine Traumwelt entstehen lassen, in der wiederum die Noten des Tangos den Ton angeben. Die Welt ist grausam und gespenstisch, die Menschen darin bewegen sich traumtänzerisch und gewitzt, sie wollen überleben und sich nicht beugen lassen. Die Blüten der Mohnblumen, die auch im Arbeitszimmer des jüdischen Geigers eine große Pracht entfalten, sollen vor den finsteren Mächten beschützen. Dies Bild wie den ganzen Roman könnte man als eine ironische Variante des fantastischen Realismus auf Ukrainisch interpretieren.
    Der Schluss von "Im Schatten der Mohnblüte" überzeugt leider nicht. Alles was vorher so schräg und schrill war, ordnet sich zu einem harmonischen Schluss-Tableau. Das ist ein wenig zu viel des Guten.
    Jurij Wynnytschuk: "Im Schatten der Mohnblüte"
    Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil
    Haymon Verlag, 455 Seiten, 22,90 Euro