Dass die Menschen den Eindruck gehgabt hätten, dass es ein Jahr war, in dem die Politik um sich selbst gekreist sei, sei auch nachvollziehbar angesichts der vielen Querelen wie etwa dem Streit um das Asylrecht oder um Verfassungsschutzchef Maaßen, sagte Kühnert. Dabei halte er es für fraglich, ob das den Tatsachen entspreche, denn trotz nur acht, neun Monaten Regierungszeit "haben wir eigentlich eine ganze Menge auf die Beine gestellt".
Schon die letzte Große Koalition sei in der Wahrnehmung geprägt gewesen "von den Nicklichkeiten zwischen den Koalitionspartnern, weil es viel Streitpotential, viel Uneinigkeit gibt - und das geht immer auf Kosten der Wahrnehmung von tatsächlichen politischen Entscheidungen, die getroffen werden." Deswegen seien die Jusos auch gegen die Große Koalition, so Kühnert.
!Philipp May:!! Kevin Kühnert, vor einem Jahr noch der frisch gewählte, völlig unbekannte Vorsitzende der Parteijugendorganisation, heute für viele der letzte Hoffnungsträger der SPD. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
Kevin Kühnert: Schönen guten Morgen!
May: Wo ordnen Sie 2018 für sich persönlich ein? War das ein gutes Jahr?
Kühnert: Ganz persönlich gesehen war es vor allem ein irrsinnig intensives Jahr, sehr arbeitsreich, was meine Perspektiven erweitert hat, weil ich ganz viel gesehen und gelernt habe. Politisch natürlich ein weniger erfreuliches Jahr. Insofern, Licht und Schatten halten sich die Waage.
May: Bleiben wir erst mal bei Ihnen. Sie sind zu einer Person des öffentlichen Lebens geworden. Haben Sie sich schon daran gewöhnt?
"Wir machen doch Politik, damit Leute mitkriegen, was wir machen"
Kühnert: Es ist schwer, sich daran wirklich zu gewöhnen, weil es jetzt dafür auch noch nicht lange genug der Fall ist. Es passieren immer noch neue Sachen, man wird viel angesprochen, Leute wollen Fotos machen oder Ähnliches. Und das ist natürlich schon ein bisschen merkwürdig, wenn man das vorher so nicht hatte. Aber es ist gleichzeitig auch ein großes Privileg, dass man ein direktes Feedback bekommt für die eigene politische Arbeit, dass einen Leute ansprechen und sagen, ich hab dich irgendwo gesehen und möchte dir gern mal sagen, wie das gewirkt hat auf mich. Es macht also auch Spaß ein Stück weit, und, ehrlicherweise: Wir machen doch Politik, damit Leute mitkriegen, was wir machen, und sich mit unseren Argumenten auseinandersetzen. Und dann kann ich mich ja nicht ernsthaft darüber beschweren, wenn Leute auch von mir was mitbekommen.
May: Und das Feedback geht mittlerweile schon weit über Deutschland hinaus. Das "Time Magazine", das große US-amerikanische Magazin hat Sie zu einem von zehn Anführern der neuen Generation erklärt, weltweit. Was macht das mit Ihnen? Ein bisschen den Bauch pinseln?
Kühnert: In diesem konkreten Fall muss ich Ihnen ehrlich sagen, hat das eher für Belustigung gesorgt, weil ich halte –
May: Also Sie kriegen das schon mit?
Kühnert: Klar. Das sagt mir dann spätestens unser Pressereferent im Büro, wenn so was stattfindet. Ich hab aber schon, bevor ich Juso-Vorsitzender war, von solchen Ranglisten herzlich wenig gehalten, und das ändert sich auch nicht in dem Moment, wo ich dann selber in solchen Ranglisten drinstehe, weil mir einfach überhaupt nicht klar ist, wie so was zustande kommt und auf welcher Grundlage das entschieden wird. Ich bin jetzt ein Jahr Juso-Vorsitzender. Ich freue mich natürlich, wenn Leute irgendwie meine Arbeit gut finden, aber ich würde mir jetzt nicht anmaßen, jemanden, den ich seit einem Jahr kenne oder öffentlich verfolgen kann, irgendwelche führenden Rollen für die Zukunft zuzuschreiben. Da scheint mir doch ein bisschen viel Übertreibung auch dabei zu sein.
May: Okay, ist angekommen. 2019 spreche ich Sie nicht mehr darauf an, aber möglicherweise auf eine andere Sache. Sie werden nämlich mittlerweile von einigen in der SPD schon für den Parteivorsitz ins Spiel gebracht sogar.
"Zu einem Parteivorsitz gehört schon ein bisschen mehr dazu"
Kühnert: Ja, habe ich auch mitbekommen. Ist in etwa ähnlich lustig, weil da gilt ja letztlich genau das Gleiche. Ich würde, glaube ich, niemandem den Parteivorsitz anvertrauen, der seit einem Jahr in einer etwas herausgehobenen politischen Verantwortung ist. Ich freue mich, wenn Leute finden, dass wir als Jusos in dem Jahr ein paar Sachen ganz gut gemacht haben, ich vielleicht auch persönlich. Aber zu so einem Parteivorsitz gehört schon noch mal ein bisschen mehr dazu. Und ich habe noch eine zweite Sache in diesem Jahr gelernt, nämlich dass einzelne herausragende Personen zwar wichtig für eine Partei sind, aber dass es am Ende halt auch um Mehrheiten in einer Organisation geht. Und einfach nur den Vorsitz auszutauschen oder den Generalsekretär oder was auch immer, und zu glauben, damit ändert sich dann alles in der Partei, das ist eben nicht der Fall, weil die Entscheidungen nicht einsam am Schreibtisch getroffen werden, sondern auf Parteitagen oder in Gremien. Und das ist demokratisch ja eigentlich auch die viel schönere Art, zu politischen Entscheidungen zu kommen, weil wir ja eben nicht in einer Autokratie oder Diktatur leben, sondern in einer Demokratie, und die Last dort nicht nur auf eine oder zwei Schultern verteilen müssen.
May: Aber es liegt natürlich auch daran, Sie haben es gerade schon angedeutet in der ersten Frage, dass Ihr Aufstieg parallel zum immer dramatischeren Niedergang Ihrer Partei gelaufen ist, der sich auch nicht verlangsamt hat seit der erneuten Stabübergabe von Martin Schulz zu Andrea Nahles, was den Parteivorsitz angeht. Was ist in diesem Jahr schiefgelaufen?
"Es war politisch ganz viel Selbstbeschäftigung"
Kühnert: Ich glaube, viele Menschen würden mit Rückblick auf das Jahr sagen, dass es politisch ganz viel Selbstbeschäftigung war. Dem Eindruck kann man sich jetzt schwerlich erwehren. Wir haben am Anfang des Jahres über Monate darum gerungen, ob diese Regierung überhaupt zustande kommt. Und als sie dann zustande gekommen ist, gab es immer neue Querelen. Der Asylstreit von Horst Seehofer und der CSU vor der Sommerpause, der Streit um den Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen nach der Sommerpause. Das Jahr wird in Erinnerung bleiben, zumindest gefühlt, als eines, in dem die Politik um sich selbst gekreist ist, und das wird natürlich gerade den Regierenden angelastet.
Ob das dann tatsächlich so den Tatsachen entspricht, da würde ich mal ein Fragezeichen hinter setzen, weil wir haben trotz gerade mal acht, neun Monaten Regierungszeit eigentlich sogar eine ganze Menge auf die Beine gestellt. Nur, das kennen wir eben schon aus der letzten Großen Koalition, die ist in der Wahrnehmung nach außen geprägt vor allem von den Nickeligkeiten zwischen den Koalitionspartnern, weil es viel Streitpotenzial, viel Uneinigkeit gibt. Und das geht immer auf Kosten der Wahrnehmung von tatsächlichen politischen Entscheidungen, die getroffen werden. Und das ist letztlich einer der Gründe, warum wir als Jusos gegen diese Koalition waren, weil wir vor allem glauben, dass es für die demokratische Kultur einfach kein Gewinn ist, sondern Misstrauen in Demokratie eher noch verstärkt.
May: Also, ich muss Sie jetzt gar nicht fragen, ob Sie sich im Nachhinein bestätigt fühlen mit Ihrer No-GroKo-Kampagne. Aber es war ja auch durchaus die Kritik von der Parteichefin, von Andrea Nahles, ganz konkret an den Jusos und vor allem auch an Ihnen persönlich, wer die ganze Zeit fordert, raus aus der GroKo, verhindert konstruktive Politik. Ziehen Sie sich den Schuh an?
"Der Begriff "Mitte" ist ein Problem"
Kühnert: Nein, den ziehe ich mir nicht an, und das habe ich ihr auch auf unserem Bundeskongress erwidert, nachdem sie den Vorwurf gemacht hat, weil das trifft nicht das, was wir gemacht haben in diesem Jahr. Mir ist sehr wohl bewusst, weil ich häufig drauf angesprochen werde, dass der Eindruck sich in manchen Köpfen festgesetzt hat, die Jusos würden die ganze Zeit den Ausstieg aus der Großen Koalition fordern. Da würde ich aber empfehlen, mal eine Suchmaschine zur Hand zu nehmen und zu gucken, ob das tatsächlich den Tatsachen entspricht. Wir haben die Entscheidungen des Mitgliedervotums der SPD akzeptiert, weil wir gute Demokratinnen und Demokraten sind und erwartet hätten, wenn es andersherum ausgegangen wäre, dass es dann auch akzeptiert wird. Und wir haben überhaupt das erste Mal wieder den Ausstieg aus der Koalition ins Spiel gebracht, als Hans-Georg Maaßen nach seinen unsäglichen Äußerungen zu Chemnitz dann sogar noch zum Staatssekretär befördert werden würde. Und da waren wir ja nun auch wahrlich nicht die Einzigen, die empört waren über diesen Vorgang, sondern das war ja eine breite gesellschaftliche Stimmung. Alles andere vorher, alle Verwerfungen, wo die Leute schon die Hände überm Kopf zusammengeschlagen haben und niemand einen Pfennig darauf gewettet hätte, dass die Koalition noch zwei weitere Wochen bestehen bleibt, haben wir nicht genutzt, um zu billiger Polemik anzusetzen und zu sagen, wir haben es ja schon immer gewusst, sondern wir haben uns da solidarisch gezeigt und auch als gute Verlierer, und deswegen lasse ich mir den Vorwurf so auch nicht machen.
May: 2018 sind die Grünen in den Umfragen und Wahlen an Ihnen vorbeigezogen, der einstige natürliche Koalitionspartner sozusagen. Die besetzen jetzt die Mitte. Was heißt das für die SPD? Blinker links?
Kühnert: Diese Form von Aufteilung von "Mitte" und "links", der habe ich mich ehrlich gesagt schon immer entgegengestellt. Aber vor allem der Begriff "Mitte" ist insofern ein Problem, weil er häufig verstanden wird als eine politische Positionierung. Wenn man nicht links und nicht rechts ist, dann ist man Mitte. So einfach scheint mir das aber nicht zu sein. Sigmar Gabriel hat das mal sehr schön –
May: Na ja, gut, dann ist man für viele Personen wählbar, würde ich sagen. Sowohl für Leute, die auch gern mal die CDU wählen, als auch Leute, die sich eigentlich eher dem liberalen, großstädtischen Milieu zugehörig fühlen. Weil Sie auch eine Partei zu sein scheinen, die auch kompromissfähig und konsensfähig ist.
"Mitte ist der Ort, wo die Deutungshoheit in der Gesellschaft liegt"
Kühnert: Das stimmt. Trotzdem liegt dem ganzen ein Irrglaube zugrunde. Wir stellen uns viel zu häufig die Gesellschaft in ihren politischen Einstellungen wie so ein Bundestagsplenum vor, wo die Parteien von links nach rechts aufgereiht sitzen. Und dann sitzen ein paar Leute links und ein paar rechts, und ein paar sitzen in der Mitte. Und die verändern sich dann auch angeblich ihr Leben lang nicht. Faktisch ist es aber doch anders. Die wenigsten haben feste politische Einstellungen, die sich ein ganzes Leben lang nicht ändern, sondern – deshalb diskutieren wir ja auch politisch – die meisten sind offen dafür, Meinungen auch zu ändern, anzupassen und noch mal zu überdenken. Und das ist doch der eigentliche politische Wettstreit. Wenn ich keine Mehrheit für meine Position habe, dann ringe ich darum, Mehrheiten zu gewinnen, den Leuten klar zu machen, dass mein Argument das bessere ist und dass sie bei mir besser aufgehoben sind. Und die Mitte, und das ist die schöne Definition von Sigmar Gabriel damals gewesen, als er angetreten ist, die Mitte ist dann letztlich der Ort, wo die Deutungshoheit in der Gesellschaft liegt. Derjenige, der am meisten Menschen von seinen Überzeugungen, der sie dafür mitreißen und auch zur Wahl dieser Partei begeistern konnte, der repräsentiert die Mitte. Die Mitte kann aber politisch deutlich links oder auch deutlich rechts verortet sein. Das ist erst mal unabhängig davon.
May: Aber wir sind uns einig, die Deutungshoheit, die hat die SPD schon lange nicht mehr. Sie werden mir da sicherlich auch nicht widersprechen, Sie haben es auch schon in dem Interview anklingen lassen, die Partei erweckt seit Jahren im Prinzip den Eindruck, nur noch mit sich selbst und ihren Entscheidungen in der Vergangenheit beschäftigt zu sein. Jetzt hatten wir auch Debatten-Camps innerhalb der SPD in diesem Jahr. Ist das nicht möglicherweise Teil des Problems und nicht der Lösung? Sprich, die reden die ganze Zeit mit sich selbst, aber zu großen Themen – ein großes Thema zum Beispiel Migration –, da bieten sie keine Antworten an.
Kühnert: Das ist ein großes Problem in der Politik, dass zumindest der Eindruck entsteht der permanenten Selbstbeschäftigung. Aber gerade unser Debatten-Camp ist, finde ich, ein sehr gutes Gegenbeispiel gewesen. Die CDU wird dieser Tage dafür gefeiert, vorbildhaft innerparteiliche Demokratie gelebt zu haben. Aber was haben die gemacht? Die haben acht Regionalkonferenzen gemacht, da sind nur Mitglieder hingegangen. Die durften am Ende aber nicht mal abstimmen, sondern die gleichen tausend Delegierten, die immer abstimmen, haben das gemacht –
May: Aber die CDU, die macht das halt einmal in 18 Jahren, und die SPD macht es ständig.
"Signale zu senden, das ersetzt keine tatsächliche Politik"
Kühnert: Ja. Aber das ist ja bei uns auch ernst gemeint. Wenn wir ein Debatten-Camp veranstalten, zu dem über 3.000 Menschen hingehen, und davon auch ein ganz großer Teil Leute, die gar keine Mitglieder der SPD sind, dann ist das doch eigentlich eine Stärke, zu zeigen, wir wollen nicht im eigenen Saft schmoren die ganze Zeit, sondern wir reden natürlich auch und vor allem mit Leuten, die nicht unser Parteibuch haben, weil um die geht es ja.
May: Sie haben Andrea Nahles, wo wir beim Thema sind, für den banalen Satz kritisiert, "Wir können nicht jeden aufnehmen." Würden wahrscheinlich die meisten Menschen in Deutschland so unterschreiben. Dass Sie sie jetzt kritisiert haben, klingt jetzt nicht nach einer Partei, die mit sich im Reinen ist bei diesem Thema.
Kühnert: Der Satz ist eine Banalität. Das ist ungefähr so wie "Morgens geht die Sonne auf." Da würde so gut wie niemand widersprechen. Aber was heißt denn das jetzt politisch eigentlich? Wir haben eine hochgradig aufgeladene Diskussion in der Gesellschaft in den letzten Jahren rund ums Thema Flucht und Migration – was ja übrigens auch noch mal zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind. Da gibt es politische Kräfte, die wollen Grenzen wieder hochziehen, die wollen Stacheldrahtzäune aufbauen. Die wollen überhaupt niemanden aufnehmen. Die schert das nicht, dass Leute im Mittelmeer ertrinken. Und wir stellen uns dann hin und sagen, es können nicht alle kommen. Das ist keine Antwort auf die Auseinandersetzung, die in der Gesellschaft passiert. Da hat übrigens die SPD und auch Andrea Nahles an anderen Stellen viel klügere Sachen zu diesem Thema gesagt. Und deshalb habe ich es kritisiert, weil ich den Eindruck hatte, da geht es vor allem darum, so ein Signal in die Gesellschaft reinzusenden, wir sind aber auch kritisch, und wir sind nicht ideologisch verblendet. Das ist auch alles schön und gut, diese Signale zu senden, aber das ersetzt ja keine tatsächliche Politik. Sondern viel wichtiger sind eben Debatten, wie wir sie jetzt im Moment haben, um das Einwanderungsgesetz beispielsweise, um die Frage, wen wollen wir eigentlich auch gezielt anwerben für unsere Gesellschaft, um auf dem Arbeitsmarkt Lücken füllen zu können, die seit Jahren gerissen worden sind. Das sind doch die viel zielführenderen Debatten, und nicht eben diese Auseinandersetzung um die Frage, sind es jetzt 100.000, 200.000 oder noch mehr Flüchtlinge, die da kommen.
May: Herr Kühnert, guten Rutsch!
Kühnert: Danke, ebenso!
May: Das Gespräch haben wir aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.