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Justiz in der Türkei
Anwälte kämpfen für den Rechtsstaat

Umstrittene Verfassungsänderungen, Terroranschläge, der gescheiterte Putschversuch: Das politische Klima in der Türkei wird immer aggressiver. Fast jeder dritte Staatsanwalt und Richter ist in Haft oder vom Dienst suspendiert. Doch während die politische Opposition mit immer gleichen Appellen hilflos wirkt, wächst die türkische Anwaltschaft über sich hinaus.

Von Daniel Heinrich |
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will ein Präsidialsystem einführen. (imago / Depo Photos)
    In Ankara ist alles bereit für einen großen Abend. Die Dinnertafel ist angerichtet, die Glasfront im elften Stock gibt den Blick frei über die glitzernden Lichter der türkischen Hauptstadt. Der Rahmen ist angemessen, Metin Feyzioglu hat eingeladen. Feyzioglu ist der Präsident der türkischen Anwaltskammer. Spätestens seitdem sich der 47-Jährige 2014 öffentlich einen Schlagabtausch mit Präsident Erdogan geliefert hat, ist er ein Star in der Türkei. 1,2 Millionen Menschen folgen ihm auf Twitter.
    "Die Situation der türkischen Justiz ist eine Katastrophe. Nach dem gescheiterten Putsch wurden über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus den Ämtern verdrängt. Es gibt bei weitem nicht genügend Leute, die sie hätten ersetzen können. Normalerweise müssen Jura-Absolventen eine zweijährige Zusatzausbildung zum Richter durchlaufen. Derzeit herrscht ein solcher Mangel an Richtern, da werden Leute nach einem Crashkurs ins Richteramt gehoben. Viele von denen sind mit der Situation total überfordert."
    Inhaftierte haben derzeit fünf Tage lang keinen Zugang zu einem Anwalt, Gespräche zwischen Anwälten und Mandanten werden aufgezeichnet. So hat es auch Ayse Acinikli erlebt. Sie wirkt aufgeräumt, als sie in der Deutschen Botschaft in Ankara von ihren Erlebnissen erzählt. Die Anwältin war fünf Monate selbst in Haft, sie ist angeklagt wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
    Die Anwältin Ayse Acinikli steht in der deutschen Botschaft in Ankara. 
    Die Anwältin Ayse Acinikli in der deutschen Botschaft in Ankara (dpa/ picture alliance/ Can Merey)
    "Als ich inhaftiert war, wurde ich zum Beispiel gefragt, warum ich als Anwältin Kontakt zu bestimmten Mitgliedern der PKK habe. Ich habe diese Kontakte aus einem einzigen Grund. Weil diese meine Mandanten sind. Die Bedingungen in türkischen Haftanstalten sind unter normalen Bedingungen schon nicht gut. Durch die aufgeheizte Stimmung nach dem Putschversuch und die Dekrete, die im Ausnahmezustand verabschiedet wurden, sind die Bedingungen noch schwieriger geworden."
    Stimmung der Angst in der Justiz
    Seit dem vergangenen September ist sie wieder auf freiem Fuß, das Verfahren läuft noch, die Anklageschrift hat sie noch immer nicht. Ulrich Schellenberg hat Ayse Acinikli aufmerksam zugehört. Der Präsident des Deutschen Anwaltsvereins will sich in der Türkei ein Bild von der Situation seiner Kollegen machen. Er glaubt nicht, dass seine türkischen Kollegen ihrer Arbeit noch unbefangen nachgehen können.
    "Das machen wir daran fest, dass wir in den Gesprächen mit den Anwälten sehr schnell zu dem Punkt gekommen sind, dass viele Akteure in der Justiz Angst haben. Richter haben Angst, Staatsanwälte haben Angst und auch Anwälte haben Angst. Und wenn Sie Angst in der Justiz haben, dann können sie nicht unabhängig, nicht nach den gesetzlichen Vorgaben entscheiden, sondern sie entscheiden nach Angst."
    Präsident Erdogan und die Regierungspartei AKP scheinen das Land fest im Griff zu haben, die Opposition wirkt kraftlos. Besuch im türkischen Parlament, in der "Großen Nationalversammlung" in Ankara. In einem altbackenen Sitzungssaal mit beigem Parkett sitzen auf alten Ledersesseln Sezgin Tanrikulu und Mahmut Tanal. Die beiden sind Abgeordnete der kemalistischen CHP, der größten Oppositionspartei im Land. Unter ihren Augen zeichnen sich tiefe Ringe ab, bis vier Uhr morgens haben sie in der Nacht beraten. Tanrikulu, selbst ein Anwalt, wirkt vollkommen desillusioniert.
    "Präsident Erdogan ist derzeit in der Lage, per Dekret zu regieren. Diese Dekrete zielen vor allem auf die Einschränkung von Persönlichkeitsrechten ab. Wenn Sie von ihrer Arbeit suspendiert werden, haben Sie keine Möglichkeit, dagegen gerichtlich vorzugehen, hinzu kommen zahlreiche Enteignungen. Vor allem, dass ganz bestimmte Personengruppen im Fokus liegen, erinnert mich sehr an die Verhältnisse in Deutschland unter den Nationalsozialisten und unter Adolf Hitler."
    Die Lage in der Türkei ist komplex, die CHP an der Pogromstimmung im Land nicht unschuldig. Im vergangenen Jahr stimmte die Partei zusammen mit der regierenden AKP und der ultranationalistischen MHP für die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der pro-kurdischen HDP.
    Anwältin Ayse Acinikli vertritt selbst viele Kurden, das Misstrauen in ihren Kreisen gegenüber dem gesamten Politestablishment ist groß. Doch trotz dieser Lage. Die Anwältin gibt sich kämpferisch.
    "Natürlich ist es dieser Tage schwierig, in der Türkei als Anwältin zu arbeiten. Aber wissen Sie, Anwältin zu sein ist nicht nur ein Beruf, es ist eine Berufung. Und deswegen müssen wir auch gerade in diesen schwierigen Zeiten arbeiten. Wir sind sogar dazu verpflichtet. Wer, wenn nicht wir, soll sich denn sonst um unsere Mandanten kümmern? Für ihre Rechte eintreten?"
    Bankrott der dritten Gewalt im Staat?
    Es ist wohl auch dieses Berufsethos, das dieser Tage in der Türkei viele Anwälte über sich hinauswachsen lässt. Im schicken Bankettsaal in der Innenstadt von Ankara ist Mitternacht ist schon lange vorbei. Metin Feyzioglu, Präsident der türkischen Anwaltskammer, zeigt immer noch keine Anzeichen von Müdigkeit. In eindringlichen Worten warnt er vor dem Bankrott der dritten Gewalt im Staat:
    "Die Judikative in der Türkei ist derzeit nicht in der Lage zu arbeiten. Nach dem gescheiterten Putsch im vergangenen Juli wurden alle Richter und Staatsanwälte entfernt, die auch nur ansatzweise der Gülen-Bewegung nahe standen und somit den vermeintlichen Putschisten nahe standen. Dieser Schock, diese Angst. Sie wirkt bis heute nach. Die Richter und Staatsanwälte trauen sich in Zeiten des Ausnahmezustands schlicht und ergreifend nicht Maßnahmen zu ergreifen, die der Regierung missfallen könnten."
    Der Ausnahmezustand ist bis Mitte April verlängert worden. Bis dahin soll auch das Volk in einem Referendum über das Präsidialsystem abstimmen. Die Judikative des Landes scheint in dessen bis ganz nach oben wie paralysiert. Alleine beim Verfassungsgericht liegen derzeit über 50.000 unbearbeitete Klagen.