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Justiz
Verfall des russischen Rechtsstaats

Auf dem Papier besitzt Russland ein unabhängiges Rechtssystem. Doch seit den 90ern zerfällt die Rechtsordnung zusehends. Viele russische Bürger haben mittlerweile mehr Angst vor ihren Ordnungshütern, als vor Kriminellen. "Silowikí" nennen sie dieses informelle Machtgefüge aus Militär, Polizei, Justiz - und sogar der Feuerwehr.

Von Boris Schumatsky |
    Protestierende vor dem Moskauer Bezirksgericht am 24.2.2014, gegen die Verurteilungen von acht Kreml-Gegnern, die am 6. Mai 2012 an einer genehmigten Demonstration gegen Präsident Putin teilgenommen hatten.
    Protest vor dem Moskauer Bezirksgericht am 24.2.2014 gegen die Verurteilungen von acht Kreml-Gegnern, die im Mai 2012 an einer genehmigten Demonstration gegen Präsident Putin teilgenommen hatten. (picture alliance / dpa / Dzhavakhadze Zurab)
    "Das ist eine friedliche Demo! Keine Gewalt", rufen die Demonstranten auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz. "Lassen Sie uns zivilisiert bleiben", mahnt ein Mann, während zwei Polizisten eine junge Frau am Kragen packen und wegzerren. Die Frau muss sich unter dem Druck so stark nach vorne beugen, dass sie bei jedem Schritt auf die Knie zu fallen droht.
    Das brutale Einschreiten der Polizei am 6. Mai 2012 war ein Wendepunkt in Russlands neuester Geschichte. Bei den Protesten gegen den erneuten Machtantritt von Staatspräsident Wladimir Putin wurden erstmals nicht nur einzelne Regimekritiker, sondern eine ganze Bevölkerungsgruppe zum Ziel für den Repressionsapparat aus Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht und schließlich Strafvollzug. Über 600 Demonstranten wurden festgenommen. Man ließ sie am nächsten Tag wieder frei, doch 28 von ihnen wurden in den nächsten Wochen und Monaten erneut verhaftet und zu Hauptfiguren des sogenannten Bolotnaja-Falls – den Kritiker als größten russischen Schauprozess im 21. Jahrhundert bezeichnen. Die Rechtsanwältin Tatjana Prilipko war am 6. Mai 2012 am Bolotnaja-Platz dabei:
    "Es gab dort gar keinen Krawall, sondern eine klare Provokation der Polizei. Eine lupenreine Provokation, der eine Prügelattacke auf unbewaffnete Menschen folgte. Wir hatten doch gar nichts dabei! Wir waren ja zunächst durch Metalldetektoren geschleust worden. Man hat uns nur Fotokameras, Transparente und Zigaretten gelassen, alles andere nahmen sie uns ab, sogar Wasserflaschen aus Plastik. Ich habe mit eigenen Augen ungefähr 20 Provokateure gesehen. Sie haben sich unter die Demonstranten gemischt und sofort hat einer von ihnen einen Feuerwerkskörper auf die Polizisten geworfen. Die Demonstranten besaßen so etwas natürlich nicht, sie hatten nicht mal Steine. Es begann ein Massaker. Die Leute erstarrten zuerst vor Schock. Und dann schlugen sie zurück. So war es."
    "Schande! Schande", riefen die angegriffenen Demonstranten, bis jemand plötzlich schrie: "Schlag die Bullen!"
    Die Expertin der Bürgerrechtsorganisation "Für Menschenrechte", Alexandra Bukvareva, beobachtet seit Jahren einen schleichenden Prozess in Russland: das Ende der Justiz als unabhängige Institution.
    "Der Bolotnaja-Fall wurde von vornherein mit der Absicht der öffentlichen Verurteilung der Angeklagten konstruiert. Er ist ein betont politischer Fall mit dem Ziel, Leute einzuschüchtern und sie zu unterdrücken. Einerseits wurde gezeigt, dass die Polizei unschuldige Menschen ungeachtet von Alter und Geschlecht massenhaft verprügeln kann und keiner dafür zur Verantwortung gezogen wird. Und andererseits wurden später nach und nach Menschen abgeholt, die längst vergessen hatten, dass sie überhaupt auf der Demo waren. Man verhaftete sie nach dem Zufallsprinzip, damit einfach jeder, der gegen das Regime demonstriert, sich bedroht fühlte."
    "Silowiki" unterdrückt Opposition auf vielen Ebenen
    Im Russischen gibt es ein schwer übersetzbares Wort: "Silowikí" leitet sich von der russischen Vokabel "sila" ab, die für "Stärke, Macht, Gewalt" steht. Mit "Silowiki" wurde zunächst die Führung von Geheimpolizei und Streitkräften bezeichnet, die Präsident Putin von Anfang an gestützt hat. Später erweiterte man den Begriff auch auf die Polizei, dann die Staatsanwaltschaft und die Ermittlungsbehörden – heute zählt für viele auch die Judikative zu den Organen des Staates, die der Sicherung der Staatsführung dienen und der Unterdrückung der politischen Opposition.
    In den Straßen um das Moskauer Stadtgericht, wo heute zwei Angeklagte im Bolotnaja- Prozess verurteilt werden sollen, patrouillieren Polizisten in Kampfmontur. Den Eingang sichern dagegen nur Polizeikadetten, blutjunge Männer in himmelblauen Hemden und mit Schirmmützen. Die Polizei erwartet heute keine Schwierigkeiten von den Mitstreitern der Angeklagten. Heute wird nicht das erste, und auch nicht das letzte Urteil im Prozess gesprochen, und die bereits verhängten Lagerstrafen haben die Opposition offensichtlich eingeschüchtert. Nur wenige Demonstranten mit einem großen Transparent "Der Bolotnaja-Prozess geht jeden an!" stehen schweigend den ebenfalls schweigenden Polizeischülern gegenüber.
    Vor dem Gerichtssaal warten gut zwei Dutzend Unterstützer und Verwandte der Angeklagten, denen Teilnahme am und Anstiftung zum Krawall vorgeworfen werden. Ein schweres Strafdelikt im russischen Strafgesetzbuch, in dem es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keinen politischen Paragrafen mehr gibt. In der UdSSR wurden Andersdenkende für die "antisowjetische Agitation" oder für die "Diffamierung der Staatsordnung" eingesperrt. Heute werden sie wie gewöhnliche Kriminelle behandelt. Leonid, der einen der Angeklagten kennt, erzählt mit leiser Stimme:
    "Ein Politischer zu sein, ist eine schlimme Sache, denn genauso, wie in der Sowjetunion, behaupten unsere Herrscher: Nein, es gibt hier keine politischen Häftlinge - und es hat sie nie gegeben. Und wenn sie einen verurteilen wollen, konstruieren sie einen Straffall und keinen politischen Fall."
    Massenunruhen am Bolotnaja-Platz in Moskau.
    Massenunruhen am Bolotnaja-Platz in Moskau. (picture-alliance / dpa / Sergei Karpov)
    Leonid passt nicht in das Klischee von einem Regimegegner. Der ehemalige Soldat der Sowjetarmee ist heute noch stolz darauf, dass er gleich fünfmal an der großen Militärparade vor dem Kreml teilnehmen durfte.
    Eine kaum hörbare Stimme dringt durch die Tür in den Gang, wo die Menschen dem zu folgen versuchen, was im Gerichtssaal gerade passiert. Hinter der Tür ist aber nur ein Vorraum für die Presse, in den die Verhandlung übertragen wird.
    Nicht einmal Journalisten dürfen in den Gerichtssaal. Durch Panzerglas sehen sie den Richter, der bereits seit Stunden mit wachsendem Tempo das Urteil verliest. Die Angeklagten sitzen derweil in Glaskäfigen, die von Männern in Springerstiefeln und dunklen Uniformen sowie einem schwarzen Kampfhund bewacht werden.
    Draußen auf dem Gang hören Leonid und eine Frau, die ihr Ohr an die Tür drückt, wie der Richter Aussagen von Polizeibeamten vorliest. Angeblich waren sie Zeugen der Straftat der Angeklagten. Plötzlich springt die Tür auf, die Frau muss zurückweichen.
    Ein Gerichtsaufseher kommt heraus, macht die Tür hinter sich zu und fordert die Frau auf, den Gang zu verlassen. Sie würde den Prozess stören. Er fordere sie letztmalig auf, zu gehen, sonst... Die Frau geht, fast läuft sie zum Ausgang.
    "Sehen Sie? Jeder kann festgenommen werden, nur weil die denken, dass man ihrer Meinung nach zu laut redet. Wenn einem das zum ersten Mal passiert und wenn man still bleibt, ist es lediglich eine Ordnungswidrigkeit. Wird man aber laut, kommt man nicht mit einer Geldstrafe davon. Man wird verhaftet."
    Gesetz als Instrument der Obrigkeit
    Im traditionellen russischen Verständnis hat das Recht wenig mit Gerechtigkeit zu tun, das Gesetz ist das Instrument der Obrigkeit. Aus dem lateinischen Spruch Ubi lex, ibi poena, nur wo ein Gesetz ist, ist auch Strafe, hat der russische Volksmund das Gegenteil gemacht: Wo das Gesetz ist, ist gleich auch das Gefängnis. Das entsprach der gelebten Realität in den Jahrhunderten der Autokratie.
    Der politische Wille kam immer vor dem Gesetz. In der Sowjetunion sprach man vom Telefonrecht, weil Parteifunktionäre Gerichtsurteile per Telefon diktierten. Die Rechtsanwältin Tatjana Prilipko, die Zeugin des Polizeieinsatzes am Bolotnaja-Platz, sitzt auf der offenen Terrasse eines teuren Restaurants, in das sie ihre Klienten gerne zu Fallbesprechungen einlädt. Die Mitte-60-Jährige hat hier in der Sowjetzeit als Ermittlerin bei der Polizei gearbeitet:
    "Wir sitzen hier sozusagen in meinem Terrain, in diesem Kiez habe ich lange Jahre Ermittlungen geführt. Und ich muss Ihnen eins sagen: Die Polizei war nie ein Tempel der Heiligen. Sie war immer eine Institution, der die Errungenschaften auf Papier wichtiger waren als tatsächliche Resultate. Aber in der damaligen Polizei gab es tausendmal weniger Niederträchtigkeit als heute. Ich bin 1991 gegangen, als bei uns Leute angefangen haben, die nicht dienen, sondern nur verdienen wollten."
    Nach dem Zerfall der UdSSR 1991 begann in Russland eine rechtsstaatliche Gerichtsreform, doch gleichzeitig ließen sich die bestehenden Institutionen immer stärker korrumpieren.
    "Wenn in den 90er-Jahren die Zersetzung der Rechtsordnung begonnen hat, sehen wir heute ihren Höhepunkt. Ich habe ständig mit Ermittlern, mit Staatsanwälten und Richtern zu tun, und die sind furchtbar! Schon das Niveau der Ermittlungen ist derart gesunken, es gibt einfach keine Fachleute. Ich glaube, dass die Leute dort leider nur eins wollen: Geld. Und natürlich auch Macht."
    Auf dem Papier besitzt Russland ein unabhängiges Rechtssystem. Doch in der Realität gibt es nur noch eine Gewalt in Russland, die Silowiki, die Gewaltorgane. Und es gibt nur eine Quelle dieser Gewalt: Wladimir Putin.
    Telefonrecht wird in Russland wieder angewandt
    Die traditionellen russischen Herrschaftsmuster kehren offensichtlich zurück. Und sogar das Telefonrecht wird wieder angewendet. Zum ersten Mal war davon während der Prozesse gegen den russischen Unternehmer Michail Chodorkowski die Rede. Der Name des Richters in Chodorkowskis zweitem Prozess, Wiktor Danilkin, ist sprichwörtlich geworden für einen obrigkeitshörigen Richter. Danilkins Assistentin erzählte damals den Medien:
    "Zuerst hatte er begonnen, die Urteilsschrift selbst zu schreiben, aber es gibt ja eine ständige Kontrolle der oberen Instanz. Und die fand das, was Danilkin geschrieben hat, überhaupt nicht gut. Also wurde seine Urteilsschrift einfach ausgetauscht."
    Danilkin verurteilte Putins finanzstarken Gegner zu zehn Jahren Lagerhaft. Kaum ein Richter ist noch imstande, sich dem Druck der Vorgesetzten zu widersetzen. "Das System befreit sich von starken und unabhängigen Persönlichkeiten, während Richter wie Daniklin Karriere machen", sagt die ehemalige Ermittlerin Tatjana Prilipko.
    "Ich kenne doch diesen Danilkin, er war bei uns Praktikant, ich musste ihm beibringen, wie man Vorladungen schreibt! Er war immer wie aus Gummi. Und so blieb er als Richter. Wenn seine Assistentin sagt, dass er sein Urteil von oben bekam, kann ich das absolut nachvollziehen. Die Richter verdienen heute sehr gut. Und sie klammern sich deswegen an ihre Sessel. Also fällen sie Urteile, für die es heute in diesem Staat einen Auftrag gibt. Und dieser Auftrag lautet: Einsperren! Insbesondere in einem politischen Prozess."
    Das Gesetz war in Russland nie heilig. Aber heute wird die Staatsduma als "verrückt gewordener Drucker" verhöhnt, weil sie fast täglich neue Restriktionen verabschiedet. Mal verbieten die Parlamentarier Spitzenunterwäsche, mal grobe Flüche. Doch die meisten neuen Gesetze entstehen im politischen Auftrag.
    "Die Staatsduma, die man heute auch die Staatsdumme nennt, verabschiedet seit zwei Jahren lediglich repressive Gesetze. Denn unser Putin hat am 6. Mai 2012 Angst bekommen. Die jüngste Novelle lautet im Klartext: Versuch mal nur zu sagen, dass die Krim nicht russisch ist! Dafür gibt es fünf Jährchen. Für die Teilnahme an Demonstrationen gibt es auch fünf Jährchen. Unser Präsident sagt gerne Jährchen, er ist halt ein sanfter Mensch."
    So drückte sich Wladimir Putin auch nach der Verurteilung von Pussy Riot aus.
    Putin brummt Oppositionellen "Jährchen" auf
    Ein ehemaliger Kollege Putins im Auslandsgeheimdienst erzählte, dass der Präsident auf einer Feier war, als die jungen Frauen in der Moskauer Erlöserkathedrale sangen: "Mutter Gottes, verjage Putin!"
    "Sie haben mir das Fest verdorben", soll Putin damals gesagt haben. Später sprach er in einem Flugzeuginterview vergnügt über die "zwei Jährchen" Lagerstrafe für die "Mädchen". Verurteilt würden aber nicht allein politische Aktivisten, sagt Tatjana Prilipko.
    "Es gibt einen vertraulichen Auftrag an die Richter, keine Freisprüche zu verkünden. Schauen wir uns die Statistik an: 1913 hatte es in Russland nur 40 Prozent Schuldsprüche gegeben. Mitte der 1930er-Jahre, auf dem Höhepunkt der stalinistischen Repression, gab es immerhin zwölf bis 15 Prozent Freisprüche. Und jetzt im Jahr 2013: 0,5 Prozent Freisprüche in Russland!"
    Die hohen Gerichtsinstanzen bestreiten diese Zahl. Sie bestehen darauf, dass nicht etwa weniger als ein Prozent, sondern 1,4 Prozent aller Verfahren mit einem Freispruch endeten. Doch klar ist: Wird einmal Anklage erhoben, hat der Bürger statistisch betrachtet nur eine Chance von eins zu 500, freigesprochen zu werden. In den ländlichen Gebieten Russlands hat fast jeder zweite Mann eine Freiheitsstrafe abgesessen. In Großstädten ist die Lage nicht viel besser.
    Auch die jungen Frauen, die im Moskauer Kaffeehaus "Schokoladen" an ihrem Cappuccino mit Zimt nippen, stünden stets mit einem Bein in der Strafkolonie. Das sagt Alexandra Bukvareva, die junge Bürgerrechtlerin von der etablierten Nichtregierungsorganisation "Für Menschenrechte":
    Die Aktivistinnen der Band Pussy Riot
    Die Aktivistinnen der Band Pussy Riot (picture alliance / dpa / Karpov Sergei)
    "Auf den ersten Blick ist bei uns alles zivilisiert, wie dieses Café oder die teuren Autos auf der Straße. Es lauert aber auf buchstäblich jeden hier eine Gefahr. Jeder Bürger kann in eine Situation geraten, in der seine Rechte missachtet werden. Die grundlegendsten Rechte, das Recht auf Leben und darauf, nicht gefoltert zu werden. Zum Beispiel wenn man in der Dunkelheit einen betrunkenen Polizisten trifft, der einen verprügelt. Nur den wenigsten bei uns ist klar, dass ihre Sicherheit gleich null ist. Es ist wie unter Beschuss, vielleicht trifft es dich, vielleicht nicht."
    Die russischen Bürger haben größere Angst vor Ordnungshütern als vor Kriminellen. Sogar in den letzten Jahren der Sowjetunion war die Gefahr, unschuldig eingesperrt zu werden, nicht so groß wie heute. Zwar war der Anteil von Freisprüchen nicht höher. Doch wenn die Schuld von Angeklagten nicht ausreichend bewiesen war, wurden die Verfahren von Ermittlern geschlossen, von Staatsanwälten eingestellt oder später von Richtern abgewiesen. Heute ziehen alle an einem Strang, bis der unschuldige Bürger im Gefängnis landet. Dahinter stecke mehr als die Angst vor politischer Opposition, glaubt Alexandra Bukvareva:
    "Wenn es weniger als ein Prozent Freisprüche gibt, heißt es denn, dass 99 Prozent der Urteile politisch motiviert sind? Nichts dergleichen! Das hat mir ein Polizeiermittler einmal so erklärt: "So ist unser System. Wenn es ein Verfahren gibt, muss es abgeschlossen werden. Das heißt, es kommt vor Gericht. Und der Richter wird auch angehalten, niemanden freizulassen." Hier ist die korporative Solidarität am Werk, im Grunde genommen Klüngelei."
    System wächst wie ein Krebsgeschwür
    Dieses System wächst wie ein Krebsgeschwür. Zur Korporation der Silowiki gehören heute auch Zöllner, Finanz- und Ordnungsbeamte sowie die Feuerwehr. Der mittelständische Unternehmer Andrej kommt mit einem Flugzeugkoffer ins Café. Andrej ist mit Mitte 40 und hat einen erfolgreichen Kinderbuchverlag aufgebaut.
    "Ich habe das Gefühl, dass jedes Jahr neue Vorschriften erlassen werden, und die alten bleiben in Kraft. Dann kommen sie zu einem und sagen, deine Bürotür ist falsch eingehängt. Aus Sicht der Feuerwehr soll sie nach außen aufgehen und für die Medizininspektion nach innen. Diese Situation nutzt allein den Beamten und den Geschäftsleuten, die mit ihnen zusammenarbeiten. Das ist ein System, das aus jedem einen Gesetzesbrecher macht."
    Andrej hat einen Koffer dabei, weil er heute nach Lettland fliegt, auf der Suche nach einem Land mit unternehmerfreundlichem Rechtssystem. Bürgerrechtler wie Alexandra Bukvareva werden im System Putin als ausländische Agenten diffamiert. Dennoch zählen sie heute, wie schon in der Sowjetunion, zu den wenigen wahrnehmbaren Stimmen gegen die repressive Rechtsauffassung im Land:
    "In der Sowjetzeit forderten die Menschenrechtler, 'Respektiert Eure eigene Verfassung!' Und das ist jetzt wieder aktuell. In unseren Strafvollzugsanstalten sind 800.000 Menschen eingesperrt. Und viele werden dort misshandelt. Wirklich körperlich gefoltert, wie einst im Gulag. Die gesetzliche Strafe lautet doch Freiheitsentzug, stattdessen wird aber gefoltert. Und jeder von uns könnte dort landen."