Peter Kapern: Zehntausende waren es, die am Wochenende in Polen gegen die von der Regierung vorangetriebene Zerschlagung einer unabhängigen Justiz auf die Straße gegangen sind – nur Zehntausende muss man wohl sagen, denn die Opposition im Lande ist schwach und zersplittert. Nur langsam bündelt sie ihre Proteste. Am Wochenende hat der Widerstand gegen die Justizreform aber immerhin einen prominenten Unterstützer gefunden: Polens legendären Arbeiterführer Lech Walesa. Florian Kellermann berichtet.
Bei uns am Telefon ist nun Reinhard Bütikofer, Abgeordneter der Grünen im Europaparlament. Guten Morgen!
Reinhard Bütikofer: Schönen guten Morgen, Herr Kapern!
Kapern: Herr Bütikofer, wir haben gerade von unserem Korrespondenten gehört, dass sich Lech Walesa auf die Seite der Demonstranten gegen die Justizreform gestellt hat. Wir erreichen Sie heute früh in Danzig, dort werden Sie nachher Lech Walesa persönlich treffen. Was denken Sie, was seine Positionierung im Streit um die Justizreform bedeutet?
Bütikofer: Er verbindet, indem er an die Jugend Polens appelliert, den Kampf um die Rechtstaatlichkeit heute in die eigene Hand zu nehmen. Er verbindet eine große historische Befreiungstat mit einer aktuellen Situation. Damit gibt er der ganzen Auseinandersetzung eine große Tiefe, und ich glaube, seine politische und historische Autorität kann durchaus dazu beitragen, diesen Kampf noch stärker zu machen.
Formfehler bei der Abstimmung
Kapern: Was denken Sie, warum der Widerstand gegen die Justizreform der rechtsnationalen Regierung, die auf eine Abschaffung der Gewaltenteilung hinausläuft, bislang doch noch relativ verhalten ist? Es demonstrieren Zehntausende, nicht Hunderttausende, wie man sich das eigentlich ausmalen oder vorstellen könnte?
Bütikofer: Nach allem, was ich sehen kann und höre, nimmt der Widerstand zu, und das ist, glaube ich, entscheidend, dass die Kräfte nicht nachlassen, dass es eine Dynamik gibt, die klaren Willen zur Opposition ausdrückt und den Willen, das nicht hinzunehmen, und ich glaube, dass dieser Widerstand auch eine zusätzliche Chance hat, weil ja offenbar bei der Abstimmung in den beiden Kammern wesentliche Formfehler gemacht worden sind, sodass man spekulieren kann, ob nicht Präsident Duda durch diese Formfehler jetzt eigentlich gezwungen ist, ein Veto einzulegen.
"Letztlich entscheidet tatsächlich die Bevölkerung"
Kapern: Andererseits hat sich Präsident Duda bislang immer als getreuer Gefolgsmann der rechtsnationalen PiS-Regierung bewiesen.
Bütikofer: Ja, das stimmt.
Kapern: Das heißt, wie groß ist Ihre Hoffnung dann darauf, dass Duda tatsächlich sein Veto einlegt?
Bütikofer: Meine Hoffnung geht nicht vor allem auf Präsident Duda, sondern meine Hoffnung geht vor allem auf die polnische Zivilgesellschaft, die in dieser Frage sehr eindeutige Positionen bezieht und die auch uns Europäern sagt, ihr müsst uns unterstützen, und ihr müsst alle Mittel in Ansatz bringen, die ihr habt, um klarzumachen, dass hier eine rote Linie überschritten wird, und vielleicht ist ja Herr Duda in der Lage, einzusehen, dass das kein guter Weg ist. Ich will darauf nicht spekulieren. Ich glaube, letztlich entscheidet tatsächlich die Bevölkerung.
Orban könnte Kaszinsyki hängen lassen
Kapern: Nun sind Sie nach Danzig aus Brüssel angereist, wo die EU-Kommission in Permanenz Warnungen und Mahnungen gegen die polnische Regierung formuliert, wo Rechtstaatsverfahren gestartet werden, bei denen aber absehbar ist, dass die nie zu einem Ergebnis führen, weil die polnischen Rechtsnationalen sich auf das Veto der ungarischen Rechtsnationalen verlassen können. Muss die EU in der Tat wehrlos zuschauen, wenn einzelne Mitgliedsstaaten das Fundament der gemeinsamen Werte demontieren?
Bütikofer: Ich glaube, so ist es nicht. Zwar ist bisher Praxis gewesen, dass die EU vor allem auf ihre rhetorischen und nicht auf ihre juristischen Mittel zurückgegriffen hat, aber es gibt diese Mittel, und wenn man das Verfahren nach Artikel 7 der europäischen Verträge anwenden will, dann hat Ungarn in der ersten Stufe des Verfahrens gar kein Vetorecht. Erst ganz am Ende, wenn es drum geht, ob Sanktionen verhängt werden, könnte möglicherweise ein einzelnes Land ein Veto einlegen, aber ich glaube, das muss man schon mal noch sehen.
Ich erinnere daran, dass Herr Orbán bei dem verrückten Kampf von Herrn Kaczynski gegen die Wiederernennung von Präsident Tusk als europäischer Ratspräsident, hat Orbán Kaczynski hängen lassen, und ich bin nicht sicher, dass Orbán sich tatsächlich am Ende hinstellen würde und sagen würde, gegen alle anderen 27 europäischen Länder werde ich, oder gegen alle anderen 26, werde ich das blockieren. Ich glaube, da kann man Druck machen. Man muss allerdings jetzt Entschlossenheit zeigen.
Kapern: Andererseits haben wir am Wochenende gehört, wie Viktor Orbán, der ungarische Premierminister, das Vorgehen der EU gegen Polen als Inquisition bezeichnet hat und gewissermaßen Stein und Bein geschworen hat, dass er dieses Veto einlegen wird.
Bütikofer: Das hat man gehört. Ich habe gesagt, wie die Rechtslage ist. Das heißt, er kann gar nicht verhindern, dass ein solches Verfahren losgeht. Dazu braucht man nur 80 Prozent der europäischen Stimmen im Rat.
"Es wäre ein richtiger Verrat"
Kapern: Aber er kann verhindern, dass es zu einem Ergebnis kommt.
Bütikofer: In der ersten Stufe kann er ein Ergebnis nicht verhindern. Ein Veto eines einzelnen Landes kann möglicherweise am Schluss verhindern, dass Polen die Stimmrechte in den Ministerräten entzogen werden, aber da sind wir noch nicht. Ich glaube, was man an der Stelle jetzt tun muss, ist eine eigene Entschlossenheit zustande bringen. Ich sage es noch mal: Mir gefällt es nicht, wenn Proeuropäer sich jetzt einfach bluffen lassen von Orbán, statt hinzusehen und zu sagen, wir wollen das nicht akzeptieren, statt dass jetzt die einzelnen Staats- und Regierungschefs klar Position beziehen, zieht man sich billig zurück, zieht hinter die resignative Linie, wir können ja nix machen, weil Orbán dagegen ist. Wir haben schon mal in jüngerer Vergangenheit erlebt, dass man auch Orbán auch ein Stück weit beeindrucken kann. Als die EVP ihm gedroht hat, sie schmeißen ihn raus aus ihrem Club, wenn er sich nicht gegenüber den Forderungen der europäischen Kommission verständiger verhält. Da hat er zurückgezuckt. Ich glaube, das Entscheidende wäre … Also es wäre ein richtiger Verrat, wenn jetzt die Europäer so hilflos tun würden, und der Einzige, der Willenskraft hat, ist Kaczynski und Orbán.
"Eine Waffe, die man gar nicht hat"
Kapern: Es gibt allerdings auch Europapolitiker, die noch andere Waffen schärfen im Kampf mit der polnischen Regierung: Da geht es um den Entzug von Geldern. Ist das eine weitere Option im Köcher der Europäischen Union?
Bütikofer: Ich glaube, das ist keine Option. Das ist meines Erachtens rechtlich keine Option. Nach meiner Kenntnis hat auch Präsident Juncker sehr klar gemacht, dass er das genauso sieht. Ich halte es auch politisch für nicht besonders klug, jetzt mit einer Waffe zu drohen, die man gar nicht hat, zumal das den Eindruck erweckt, als wolle man jetzt die Polen bestrafen für die Verrücktheit ihrer Regierung, während Polen doch, wenn man den Umfragen glauben darf, das proeuropäischste Land ist, das wir im Moment in der EU haben.
Kapern: Der Grüne Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer, den wir heute Morgen in Danzig erreicht haben. Das Interview haben wir vor einer halben Stunde aufgezeichnet.
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