Sandra Schulz: "Yo soy Nisman" - das ist so ungefähr das argentinische Pendant zu „Je suis Charlie". Mit dem Satz „Ich bin Nisman" haben zuletzt Tausende in der argentinischen Hauptstadt vor dem Präsidentenpalast ihre Solidarität mit dem Staatsanwalt Alberto Nisman zum Ausdruck gebracht und ihre Bestürzung über den Fall Nisman. Der hatte Präsidentin Kirchner angeklagt, schwere Anschuldigungen erhoben und war am Sonntag tot in seinem Badezimmer aufgefunden worden neben einer Pistole und Patronenhülsen. Die Tür seiner Wohnung war von innen abgeschlossen. Trotzdem bezweifelt Umfragen zufolge jeder zweite Argentinier, dass Nisman sich selbst das Leben genommen hat, und deswegen sind zuletzt Tausende auf die Straße gegangen. - Wir wollen darüber in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Kristin Wesemann, die Leiterin des Auslandsbüros Argentinien der Konrad-Adenauer-Stiftung. Guten Morgen!
Kristin Wesemann: Ja. Guten Morgen nach Köln.
Schulz: Welche Anschuldigungen hat der Staatsanwalt Nisman gegen Christina Kirchner denn erhoben?
Wesemann: Es geht vor allem darum, dass Christina Kirchner, aber auch einige aus ihrem sehr engen Umfeld sich dafür eingesetzt haben, die Beziehungen mit Iran so wieder aufzunehmen, dass man ein Geschäft startet. Tatsächlich hieß es überall "Getreide für Öl". Man wollte, nachdem die Beziehungen brach gelegen hatten nach dem Attentat auf die AMIA - das ist die jüdische Gemeinschaft hier - im Jahr 1994, dass man da mit Iran wieder ins Gespräch kommen wollte. Die Iraner wurden zusammen mit Hisbollah als Hauptverdächtige lange Zeit angesehen und in den letzten Jahren hat es einen Stimmungswandel in der Regierung Kirchner gegeben. Man wollte eben die Beziehungen mit Iran wieder etablieren. Man hat gesehen, dass sich die Exporte nach Iran, gerade was Getreide anging, fast verdreifacht haben in der Amtszeit von Christina Kirchner, und da ging es eben darum, die Anschuldigung ist, dass die Hauptverdächtigen nicht mehr die Hauptverdächtigen sein sollten, sondern man den Verdacht auf andere Kreise umlenken wollte und die Ermittlungen damit auch in eine andere Richtung führen wollte. Das Problem war nur, dass schon Interpol und andere internationale Akteure, auch sehr stark Israel, einbezogen waren in die Ermittlungen, und der Vorwurf ist, dass die Ermittlungen behindert werden sollten zugunsten besserer Beziehungen, Geschäftsbeziehungen mit Iran.
Beschuldigungen gegen Kirchner und Co sind neu
Schulz: Und das heißt, kann man das sagen, dass auch schon klar ist, dass diese Vorwürfe durchaus auch Substanz haben?
Wesemann: Was man vielleicht sagen sollte, ist, dass diese Vorwürfe überhaupt gar nicht neu sind. Das, was Nisman in seinem Bericht zusammengeschrieben hat auf diesen 300 Seiten, das schwelt schon seit mehreren Jahren in Argentinien. Das sind Dinge, die überall vermutet wurden. Es hatten auch Journalisten Kontakt zu ihm, die jetzt nach und nach sich äußern, sagen, das ist das Originaldokument, was er mir dann gegeben hat, und das ist das Originaldokument, was ich bekommen habe, jetzt tauchen die Tonträger auf, die Nisman benutzt hat, die abgehörten Telefonate. Es sind aber Dinge, die überhaupt für einen Argentinier nicht überraschend sein dürften. Sie stehen jetzt das erste Mal schwarz auf weiß, das ist richtig. Aber ansonsten haben hier auch die Zeitungen getitelt, eigentlich ist das ja nichts Neues. Was neu ist, ist, dass es jetzt wirklich schwarz auf weiß diese Beschuldigungen an Christina Kirchner und ihre engsten Mitarbeiter gibt.
Schulz: Nisman wollte diese Vorwürfe auch öffentlich vertreten am Montag. Am Sonntag davor wurde er tot aufgefunden in seiner Wohnung. Die Umstände weisen, ganz oberflächlich gesprochen, auf Selbstmord hin. Das können sich aber wiederum viele Argentinier nicht vorstellen. Warum nicht?
Wesemann: Genau. Es ist so: Er sollte am Montag vor ausgewählten Parlamentariern seinen Bericht vorstellen. Er hat auch immer wieder vorher zu Journalisten und auch Freunden gesagt, er fürchte um sein Leben. Er selbst hatte bis zu zehn Leibwächter. Das muss man auch dazu sagen. Die Präsidentin selbst, die sich mittlerweile nur noch über sehr, sehr lange Facebook-Nachrichten an ihr Volk wendet, hat sofort gesagt, das sei Selbstmord. Das hat sie gestern widerrufen und hat eigentlich gesagt, man würde ihr jetzt die Leiche mehr oder weniger vor die Füße werfen, um ihr schaden zu wollen. Die Argentinier glauben das in der ganz großen Mehrzahl nicht, dass es Selbstmord war, und mittlerweile ist auch die Staatsanwaltschaft wohl so weit zu sagen, das ist Mord unter Fremdeinwirkung gewesen, oder Tod unter Fremdeinwirkung. Es wird immer sehr vorsichtig formuliert. Es wurden dann auch sofort Umfragen geschaltet, wie die Argentinier jetzt meinen, man traue dem Staat zu, dem Staat in Person der Regierung, dass er jemanden, der so ein wichtiger Ermittler war, oder der Staatsanwalt selbst, der auch mal eingesetzt wurde von Kirchner, dass man ihn aus dem Weg schaffen wollte, damit er nichts sagen würde. Es ist alles so schleierhaft, auch was die Umstände des Todes angeht, dass man wirklich sich nur in Spekulationen wagen kann, und auch wir von der KAS - wir schreiben ja normalerweise Hintergrundberichte - haben gesagt, wir müssen mindestens das Wochenende abwarten, um eine bessere Faktenlage zu bekommen. Die Argentinier sagen, im Prinzip braucht kein Mensch abzuwarten, das wird sowieso nie aufgeklärt werden. Da überwiegt eher das Traurige, dieses Misstrauen in die Justiz und in die staatlichen Institutionen.
Kein Vertrauen in die Justiz
Schulz: Aber dann erklären Sie uns diese Zuspitzung. Es scheint ja so zu sein, dass es nicht wenige Argentinier gibt, die zumindest das Szenario, was Sie auch gerade schon sagen, dass der Staat ja einen missliebigen Staatsanwalt per Mordauftrag aus dem Weg schaffen lässt, dass sich viele Argentinier das vorstellen können. Das ist ja ein aufsehenerregendes Szenario. Warum ist das so?
Wesemann: Die Argentinier sind ja seit einigen Jahren daran gewöhnt, dass wenn zum Beispiel auch in der Justiz ein Staatsanwalt ermittelt gegen jemand in der Regierung, einen Politiker von Regierungsseite, dass der abgezogen wird oder dass der nicht nur versetzt, sondern aus dem Dienst getrieben wird. Das sind für Argentinier ganz alltägliche Dinge, dass die Regierung sich in alle Verfahren einmischt, wo sie nur möchte. Christina Kirchner selbst ist jemand, der ein politisches Projekt hat, die Justiz zu demokratisieren, dass man Richter durch populäre Wahlen ernennt und solche Geschichten. Da sind die Argentinier in den letzten Jahren so viel Leid gewöhnt. Sie haben einen Vizepräsidenten, der der schweren Korruption angeklagt ist. Der sitzt immer noch im Amt, und da kommt auch niemand auf die Idee, dass er sich zurückziehen sollte. Der Sicherheits-Staatssekretär war jetzt bei Nisman Stunden vorher am Tatort, bevor die Staatsanwaltschaft kam, bevor die Kriminalpolizei kam. Es gibt also Dinge, die nimmt ein Argentinier mittlerweile nur noch mit Schulterzucken hin, weil er sie einfach auch gewöhnt ist, und gerade im Umgang mit der Justiz ist es nicht überraschend. Es hat aber eine andere Qualität, dass jetzt jemand quasi aus dem Weg genommen wurde, indem man ihm das Leben genommen hat, aber von der Sache her traut man der Regierung doch allerhand zu hier.
Schulz: Heißt dies, auch wenn es so eine Art Normalität gibt, dass es dann gar nicht unbedingt besonders eng wird für Christina Kirchner, politisch?
Wesemann: Ja, absolut. Egal in welcher Schwierigkeit aus unserer äußeren Sicht jetzt auch die Regierung stecken würde - das hat sie jetzt auch wieder in ihren Facebook-Posts beschrieben -, es ist schon so, dass jede Schwierigkeit als Komplott der oppositionellen Medien dargestellt wird, meistens auch der internationalen Kooperation und anderer Regierungen. Aber sie begibt sich im Moment in eine Opferrolle, man wolle ihr schaden. Ich verfolge das ja schon seit einigen Jahren und das ist eigentlich immer dasselbe Muster. Das ist auch nicht überraschend, dass sofort die Erstschuldigen genannt werden, und das ist dann der Medienkonzern Clarin, die anderen oppositionellen Medien und alle, die dazugehören. Im Prinzip wird da jetzt eine Konspiration beschrieben mit Fakten oder nicht Fakten und so begibt sich die Regierung jetzt in die Opferrolle.
Schulz: Kristin Wesemann, die Leiterin des Auslandsbüros Argentinien, heute hier in den „Informationen am Morgen". Vielen Dank Ihnen. Und das war eine Telefonleitung, der man es angehört hat, dass wir ans andere Ende der Welt telefoniert haben. Entschuldigen Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, die schlechte Tonqualität.
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