Archiv


Jutta Held: Avantgarde und Politik in Frankreich. Revolution, Krieg und Faschismus im Blickfeld der Künste

Die künstlerischen Positionen der Avantgarde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind nur im Zusammenhang mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen zu verstehen. Paris war der Ort, an dem sich diese Avantgarde versammelte: Franzosen, Russen, Deutsche und Spanier. Die Kunsthistorikerin Jutta Held hat in einem Band nun verschiedene Monographien zum Verhältnis von künstlerischer Avantgarde und Politik in Frankreich zusammengestellt.

Von Ruth Jung |
    "Ich liebe die Umsicht Goethes nicht. Das reine Meditieren scheint mir ein bisschen zu bequem zu sein. Ich sehe in der traditionellen Verabsolutierung der Würde des Geistes eine Konsequenz der Arbeitsteilung, der Klassenspaltung, ein Stück unbewusster Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Sklaverei es ausgewählten Menschen ermöglichte, lange und gut zu denken."

    Als der Dichter Paul Nizan im Juni 1935 auf dem Schriftstellerkongress in Paris diese Worte sprach, hatte die Welt allen Grund, am abendländischen Humanismus zu zweifeln. Realität in Europa im Sommer 1935 ist der Sieg des Faschismus in Italien und in Deutschland, die Bedrohung der Spanischen Republik und die aggressive Propaganda rechtsradikaler Ligues in Frankreich. Welche Eingreifmöglichkeiten die Kunst angesichts solcher Bedrohungen entwickeln könnte und dabei

    " ... die konkreten Bedingungen des menschlichen Lebens und nicht die abstrakten Bedingungen des menschlichen Denkens berücksichtigen würde,"

    beschäftigte die Künstler auf dem legendären Schriftstellerkongress. Unter dieser Ausgangsfrage präsentiert die Kunsthistorikerin Jutta Held jetzt mehrere Einzelstudien in einem ansprechend aufgemachten Sammelband über avantgardistische Kunst in Frankreich:

    "Es ging um die Frage, wie sich die Künstler mit ihrer Kunst, aber auch als Intellektuelle in ihrer Zeitgenossenschaft zu den dramatischen Ereignissen ihrer Gegenwart, zu Revolution und Faschismus, Krieg und Bürgerkrieg verhalten konnten und sollten. Es ging nicht nur um das Problem der künstlerischen Repräsentation – statt der kubistischen Stillleben in den abgeschlossenen Räumen des Ateliers der Aufschrei von Guernica -, sondern auch um die Frage, mit welchen spezifischen Handlungskompetenzen die Künstler politisch eingreifen und wirken konnten."

    Den Rahmen ihrer Untersuchungen bilden das Frühwerk Chagalls mit dem Bild und den Vorstudien Adam und Eva von 1912 und Picassos Massaker in Korea von 1951. Im Zentrum aber stehen Beispiele avantgardistischer Kunst eben jener "dramatischen" 30er Jahre. Erklärtes Ziel der Autorin ist die Entwicklung neuer Ansätze einer politischen Kunstgeschichte, einer interdisziplinär angelegten Kunstbetrachtung, die die politisch-sozialen Bedingtheiten künstlerischen Schaffens in den Blick nehmen will. Doch dem Leser wird es schwer gemacht, die zehn Einzelstudien als aufeinander folgende Kapitel einer Monographie über das Verhältnis von historischer Avantgarde zu politisch bedrohlichen Krisensituationen zu lesen. Zu sehr sind die einzelnen Beiträge als thesenhafte Vorträge angelegt und eigensinnig in sich abgeschlossen. Dennoch lassen sich aufschlussreiche Konstellationen und thematische Schwerpunktsetzungen ausmachen. So die Positionierung der Arbeiten der Künstler Chagall und Picasso im Jahr 1937 angesichts des Verteidigungskriegs der Republik in Spanien, der Befriedungspolitik der Volksfrontregierung in Frankreich und des Friedensgedankens auf der Weltausstellung von Paris: Chagall inszeniert mit seinem Bild Die Revolution eine Rückbesinnung auf die Oktoberrevolution von 1917. Picasso antwortet mit Guernica auf die Bombardierung der baskischen Stadt.

    "Picasso ist es gelungen, zwei zumeist getrennte Bildtraditionen zu vereinen: die künstlerische mit ihrer avantgardistischen selbstreferentiellen Formensprache und die politische mit ihren unzweideutigen semiotischen Funktionen."

    Aber ist die historische Avantgarde des 20. Jahrhunderts nicht gerade durch die Verbindung von ästhetischer Neuerung in Funktion einer sozialpolitischen Erneuerung gekennzeichnet? Demnach wäre Avantgarde nicht zu reduzieren auf einen ästhetischen Formalismus oder eine modisch-kommerzielle Moderne, ebenso wenig wie auf einen parteipolitischen Diskurs im Sinne des Sozialistischen Realismus. Leider bleibt der Begriff der Avantgarde unscharf; die Autorin entwickelt ihn nicht aus der vorgängigen kunsttheoretischen Debatte seit der Oktoberrevolution, sondern bleibt in der störenden Entgegensetzung von Form und Inhalt befangen. An vielen Beispielen hingegen eröffnet sie einen neuen Blick auf scheinbar bekannte Bilder, so auf das erst 1940 einer kleinen Öffentlichkeit gezeigte Bild Die Revolution von Chagall. Und geradezu einmalig ist die Konfrontation des Realismus von Max Lingner in der französischen Druckgraphik mit der "kritisch-paranoischen" Methode von Salvador Dalí: zu Diskussion steht hier die Mutter- und Familienimago des bürgerlichen Wertegefüges.

    Schade nur, dass sich diese Bildbetrachtungen immer wieder in einem umfangreichen engmaschigen Netz von in Fußnoten verpackten Verweisen verfangen. Dem akademisch wenig geübten Leser wird so der Zugang zu der brisanten Thematik außerordentlich erschwert. Dabei wäre die in der Einleitung entwickelte vielversprechende Fragestellung auch für interessierte Laien spannend gewesen. Ist doch die Frage nach der Positionierung und der Instrumentalisierung avantgardistischer Kunst höchst aktuell, wie sich am Beispiel der Schmähreden renommierter Pariser Kunsthistoriker nach dem 11. September gegen den Surrealismus hätte aufzeigen lassen können: Die Surrealisten waren als die geistigen Brandstifter der Attentate des 11. September 2001 diffamiert worden. Dass Jutta Held dabei selbst eine gewisse Abwehrhaltung dem Surrealismus und seinen Provokationen gegenüber einnimmt, soll nicht verschwiegen werden. Im Kapitel Horden und Barbaren heißt es über die gleichnamige Bilderserie von Max Ernst:

    "Sind es die zu organisierenden positiven Barbaren, die proletarischen Massen, deren politische Mission darin lag, den Faschismus abzuwehren, oder sind sie als Allegorien der faschistischen Gefahr, der fanatisierten nationalsozialistischen Massen anzusehen? Schon Bretons politische Strategie konnte seinen eigenwilligen Antifaschismus nur mit Mühe von faschistischen Erscheinungen abgrenzen, das heißt einem linken "surfascisme" entkommen. Es gibt Indizien, die darauf hinweisen, dass Max Ernst bereits um 1935 die euphorische Bewertung des Barbarentums aufgab und Freuds Skepsis näher war als Bretons politischem Kraftakt."

    Bretons politische Strategie der 1930er Jahre in die Nähe "faschistischer Erscheinungen" zu rücken, ist kühn. Eine folgenschwere Behauptung, zumal die Autorin der surrealistischen Avantgarde durchgehend die größte Aufmerksamkeit widmet. Jutta Held bezieht sich hier auf das von Breton im Oktober 1935 verfasste Gründungsmanifest von Contre-Attaque, union de la lutte des intellectuels révolutionnaires. Die Auseinandersetzung der Surrealisten mit dem Faschismus als Massenbewegung hatte auf die psychischen Dispositionen und Energien der unterdrückten Klassen aufmerksam gemacht:

    "Der Faschismus bringt die Massen zu ihrem Ausdruck, beileibe nicht zu ihrem Recht."
    Formulierte Walter Benjamin. Die Surrealisten erkannten, wie der Faschismus die unterdrückten Klassen an sich bindet und als Masse sich zu unterwerfen versteht. Contre-Attaque nimmt politisch für sich in Anspruch, die psychischen Energien der Massen neu zu organisieren und auf die Revolution auszurichten. Damit wollten die Surrealisten der von ihnen seit 1929 verfochtenen politischen Linie "der Surrealismus steht im Dienste der Revolution" treu bleiben. Ihr Manifest sucht im Kampf gegen den Faschismus provokativ nach einer Alternative, nach dem ihrem Verständnis nach die Volksfrontbewegung in bürgerliche Politikformen integriert werden konnte und von der nationalistischen Reaktion irregeleitet worden war. Jutta Helds Begriff des Politischen erweist sich bei der Analyse einzelner Kunstwerke an manchen Stellen als sehr eng gefasst im Sinne einer bestimmten offiziellen Politiklinie. Gerade so, als sollten die Sprengkraft, das Verstörende und die Brisanz künstlerischer Artikulation, die sich zur Revolte und zur Revolution bekennt, abgefedert werden. André Breton übrigens war vom Schriftstellerkongress ausgeschlossen worden, weil er den Kulturminister der Sowjetunion, Ilja Ehrenburg, öffentlich geohrfeigt hatte wegen dessen politisch diffamierender Darstellung des Surrealismus.

    Ruth Jung war das über "Avantgarde und Politik in Frankreich" von Jutta Held, erschienen im Reimer Verlag. 250 Seiten für 39 Euro.