Wieder einmal Panik in der Stadt. Wieder einmal die Angst vor einer Übernahme durch die Taliban. Kundus, Nordafghanistan in den vergangenen Tagen und Wochen. Kundus ist vom Krieg besonders betroffen, weil sich hier Schmuggler-Routen und Hauptstraßen nach Kabul sowie Mazar-i-Sharif kreuzen. Außerdem leben hier mehrere Ethnien nicht gerade spannungsfrei zusammen. Und die politischen Eliten haben, so der häufig genannte Vorwurf, diese Spannungen eher geschürt, statt etwas dagegen zu unternehmen.
Kundus seit Monaten umzingelt
Die Taliban jedenfalls haben die Stadt Kundus seit Monaten praktisch umzingelt. Einige Zufahrtsstraßen sind lediglich vormittags gesichert. Wenn die Polizei und die Armee ihre Straßenposten wieder räumen, rücken die Taliban vor. So geht es in Kundus schon seit Jahren, seit die Bundeswehr 2013 abgezogen ist. Wer Pech hat, wird auf einer der Hauptstraßen entführt oder ermordet. Im Spätsommer ist die Lage meist besonders kritisch.
Schon 2014 war im August und September in Kundus-Stadt Gefechtslärm aus den umliegenden Gegenden zu hören. Im vergangenen Jahr fiel sogar die Stadt Kundus zwischenzeitlich – die erste Provinzhauptstadt, die die Taliban seit ihrem Sturz im Jahr 2001 erobern konnten. Und auch in diesem Jahr gibt es schwere Kämpfe. Am vergangenen Wochenende schafften es die Taliban, den Distrikt Chanabad unter ihre Kontrolle zu bringen, zumindest für einen Tag. Chanabad grenzt an die Stadt Kundus. Dann begann der Gegenangriff der Sicherheitskräfte:
"Wir haben die Taliban aus der Luft und aus verschiedenen Richtungen angegriffen. Sie hatten große Furcht unter den Bewohnern der Stadt Kundus verbreitet", so einer der Kommandeure der afghanischen Armee.
Zahl der zivilen Opfer steigt
Die Angst der Einwohner von Kundus-Stadt ist wohl begründet. Im Juli waren bereits zwei weitere Distrikt-Hauptorte gefallen. In diesen Orten brach die öffentliche Verwaltung zusammen, die Beamten zogen sich zwischenzeitlich in ein Ausbildungszentrum für Lehrer sowie in ein nahe gelegenes Dorf zurück. Ein weiterer Distrikt sei zu 90 Prozent unter Taliban-Kontrolle – das schreibt das Afghanistan Analysts Network, eine unabhängige Rechercheorganisation. Damit ist der Großteil der Provinz entweder umkämpft oder unter Kontrolle der Taliban.
Mehr als 20.000 Menschen sind laut den Vereinten Nationen bis zum Frühjahr 2016 geflohen. Jetzt dürften es Tausende weitere Binnenflüchtlinge sein. Die Zahl der zivilen Opfer in ganz Afghanistan dürfte in diesem Jahr wieder einmal steigen, auch das deuten jüngste Zahlen der Vereinten Nationen an.
Ein Einwohner aus Kundus fasst die Furcht vieler Menschen in seiner Stadt so zusammen: "Die Lage ist kritisch. Die Straßen in die Distrikte sind alle blockiert. Hier sterben Menschen, aber die Regierung stört das nicht."
Unterstützung von NATO und Bundeswehr
Die Sicherheitskräfte erhielten nach eigenen Angaben Verstärkung von Einheiten aus Kabul. NATO-Jets unterstützen demnach die afghanischen Sicherheitskräfte mit Luftangriffen. Die Bundeswehr ist seit Wochen mit einem kleinen Team vor Ort, das die afghanischen Kollegen beraten soll. In Kundus waren bis 2013 dauerhaft deutsche Soldaten stationiert.
Im Rahmen der Ausbildungs- und Beratungsmission "Resolute Support" gehört Kundus derzeit zum deutschen Regional-Kommando Nord (Train Assist Advise Command North, TAAC-N). Vor einem Jahr noch hatte der zuständige Bundeswehrgeneral im ARD-Hörfunk-Interview erklärt, die Lage in Kundus sei bei weitem nicht so schlimm wie häufig dargestellt. Wenige Wochen später eroberten die Taliban die Provinzhauptstadt, in der geschätzt 300.000 Menschen leben. Die Kämpfe dauerten weit mehr als eine Woche. Unter anderem stürmten die Taliban auch die Büros der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), dem entwicklungspolitischen Arm der Bundesregierung.
Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte Kundus-Stadt zurück erobern konnten, schafften sie es nicht, die umliegenden Distrikte dauerhaft unter ihre Kontrolle zu bringen. Laut den Recherchen des Afghanistan Analysts Network können sowohl die Provinzregierung als auch internationale Hilfsorganisationen derzeit kaum noch zivile Projekte durchführen. Stattdessen gebe es zum Teil eine Parallelverwaltung der Taliban, mit Scannern für Fingerabdrücke, Computern und Druckern - technische Geräte, die die Extremisten offenbar vor einem Jahr nach ihrem Sturm auf die Stadt Kundus erbeutet hatten.