Rund 80 Besucher des kleinen Teatro Seki Sano in Bogotá warten darauf, dass das Stück "Antigonas. Tribunal de mujeres" beginnt. Aber dann steht Regisseur Carlos Satizábal auf und spricht zum Publikum:
"Unser Land muss erzählen, was es erlebt hat. Und zwar mit den Stimmen der Betroffenen. Sonst gibt es keine Garantie dafür, dass sich so etwas nicht doch wiederholt."
Sofort ist klar: Das ist keine gewöhnliche Theateraufführung. Wie sollte es auch Normalität in einem Stück geben, dessen Akteure Morddrohungen erhalten haben.
Carlos Satizábal thematisiert Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die der kolumbianische Staat verübt hat und überhöht sie durch Sätze aus "Antigone", der Tragödie von Sophokles.
Die Mütter von Soacha
Frauen in schwarzen Kleidern klagen vor einem imaginären Gericht an. Professionelle Schauspielerinnen stehen zusammen mit Laien auf der Bühne. Darunter Frauen, deren unschuldige Söhne, meist noch Jugendliche, 2008 von der kolumbianischen Armee entführt, gefoltert, ermordet und dann als getötete Rebellen ausgegeben wurden. Dafür erhielten die Militärs laut Zeugenaussagen Kopfgelder, Reisen und Beförderungen.
Bisher sind 6.863 Fälle dieser sogenannten "falschen Positiven" bekannt. Einer davon ist María Sanabrias Sohn Jaime.
María Sanabria sitzt einsam auf dem Bühnenboden. Neben ihr liegt das gerahmte Foto ihres Sohnes. Er war erst 16, als er ermordet wurde. Unter den Fußsohlen der Mutter kleben Fotos von zwei Männern, die sie anklagt: Álvaro Uribe Vélez, bis 2010 Präsident Kolumbiens, und Juan Manuel Santos, der als damaliger Verteidigungsminister nichts von den "falschen Positiven" gewusst haben will. Nun ist er selbst Präsident und setzt sich – so widersprüchlich ist Kolumbien – erfolgreich für den Frieden im Land ein.
Ein paar Tage zuvor gibt María Sanabria ein Interview in dem Büro einer kolumbianischen Anwaltsvereinigung, einem sicheren Ort. Gerade ist ihre gerichtliche Anhörung zum Fall ihres Sohnes verschoben worden. Die Täter sind noch immer auf freiem Fuß. Seit sie für ihren ermordeten Sohn öffentlich kämpft, hat sie zahlreiche Morddrohungen erhalten. Bei einem Spaziergang durch ihre Heimatstadt Soacha hörte sie ein Motorrad näher kommen:
"Mit einem Mal hat das Motorrad direkt vor mir gebremst. Der Fahrer ist abgestiegen, hat mich an den Haaren gepackt, mich gegen eine Hauswand geschleudert und mir gesagt: 'Du dreifache Hurentochter! Sag nichts! Zeig niemanden an! Oder möchtest du, dass auch noch ein anderes deiner Kinder stirbt?' Wenn ich heute ein Motorrad höre, denke ich: Jetzt kommen sie, um mich zu holen."
Auch Luz Marina Bernal hat Morddrohungen erhalten. Ihr Mann hielt das nicht mehr aus, hat sie verlassen. Und ihre Kinder leben aus Sicherheitsgründen an geheimen Orten. Bernal ist die bekannteste der sogenannten Mütter aus Soacha, deren Söhne von der Brigade 15 entführt und ermordet wurden. Acht Monate hat sie ohne Unterstützung der korrupten Justiz nach ihrem Sohn Leonardo gesucht. Bis er, mit den anderen entführten Jugendlichen aus Soacha, in einem Massengrab im Norden des Landes gefunden wurden.
"Am 7. Oktober 2008 erklärte Präsident Álvaro Uribe Vélez vor Medienvertretern, die Jugendlichen von Soacha seien nicht aufgebrochen, um Kaffee zu pflücken, sondern um Straftaten zu begehen. Da habe ich mich gefragt: 'Wer ist er, dass er meint, diese Jungen, die er nicht einmal kennt, als Straftäter diffamieren zu dürfen?' Daraus habe ich die Kraft gezogen, um für meine Rechte zu kämpfen und für den guten Ruf meines Sohnes."
Ein Ding der Unmöglichkeit
Militär und Staatsanwaltschaft behaupteten, ihr Sohn sei ein Rebellenanführer gewesen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Schließlich war Leonardo schwer geistig und körperlich behindert. Mittlerweile sind seine sechs Mörder zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Luz Marina Bernal kämpft aber weiter:
"Ich habe vor nichts mehr Angst. Sie werden mich noch stärker verfolgen und bedrohen. Ich bin das Opfer eines Staatsverbrechens. Das hat die Regierung noch nicht anerkannt. Und wenn mir eines Tages etwas zustoßen sollte, dann waren die Täter der Staat, die Regierung und die Militärführung."
Auch im Theaterstück "Antigonas. Tribunal de mujeres" erzählt sie von ihrem Sohn. Die Hälfte seiner sterblichen Überreste ist noch verschwunden. Bernal kann, wie Antigone, keine Ruhe finden, bevor nicht alle Gebeine ordentlich beigesetzt sind. Künstlerisch gesehen geht Carlos Satizábals Vermengung von dokumentarischem Theater und antiker Tragödie nur in einigen Momenten auf. Aber die realen Geschichten dieses Stücks berühren. Besonders die der beiden Mütter aus Soacha, Luz Marina Bernal und María Sanabria:
"Wir reden! Wir erzählen! Wir sind – verdammt noch mal! – da und machen Druck. Ich will verhindern, dass auch nur eine andere Mutter den Horror erlebt, den wir durchmachen."