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Käßmann zu Syrien-Flüchtlingen
"Kompetente Menschen, die wir aufnehmen sollten"

Die evangelische Theologin Margot Käßmann hat dazu aufgerufen, syrische Flüchtlinge nicht abzuwehren, sondern "mit Würde" aufzunehmen. Es gebe unter ihnen "viele sehr kompetente Menschen, die wir nicht abschieben, sondern deren Ressourcen wir ernst nehmen" sollten, sagte Käßmann im DLF.

Margot Käßmann im Gespräch mit Andreas Main |
    Margot Käßmann besucht die Luthergedenkstätte.
    Margot Käßmann, Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017 (picture alliance / dpa / Peter Endig)
    Main:Frau Käßmann, Sie sind gerade zurück aus dem Libanon. Sie waren dort als Botschafterin der EKD für das Reformationsjubiläum. Der Libanon, ein Land, in dem der Bürgerkrieg in Syrien einem plötzlich sehr nahe kommt. Wie haben Sie das erlebt?
    Käßmann: Da muss ich schon sagen, dass das Gefühl in Beirut durchaus da ist. Das sind 80 Kilometer bis zur Grenze und die ISIS ist im Bewusstsein der Menschen doch sehr präsent. Einerseits kann ich sagen, das Leben in Beirut war vielfältig, offen, lebensfroh, und sie haben auch immer gesagt: 'Seht uns nicht als muslimisches Land. Wir sind ein arabisches Land, in dem es eben auch arabische Christen gibt'. Aber trotzdem hatte ich den Eindruck, es gärt eben im Untergrund und das Bewusstsein ist doch sehr nah, gerade auch angesichts der vielen, vielen Flüchtlinge.
    Main: Ja, Libanon ist schon lange ein Zufluchtsland für Christen aus anderen Staaten des Nahen Ostens. Es heißt immer wieder, das Land sei angesichts der Massenflucht aus Syrien komplett überfordert. Welchen Eindruck haben Sie, was die Flüchtlingssituation betrifft?
    Käßmann: Also, ich hatte nicht den Eindruck, dass das Land komplett überfordert ist, aber dass das Land bis an den Rand seiner Möglichkeiten gefordert ist. Mich hat beeindruckt, wie sehr die Menschen Mitleid haben mit den Flüchtlingen und sagen, es ist eine extrem schwierige Lage. Aber die Nähe zu Syrien – auch emotional – ist so dicht, dass eher dieses Gefühl der Empathie mit den Flüchtlingen ganz stark ist und die Menschen, die ich gesprochen habe, wirklich alles tun wollen, um die Flüchtlinge zu unterstützen, aber sagen: 'Wir brauchen dabei Hilfe'. Und – das muss ich auch sagen – dann mit einem gewissen Stirnrunzeln oder einer Fassungslosigkeit fast beobachten, welche Diskussionen wir hier in Deutschland haben. Und das wird sehr bewusst wahrgenommen.
    Käßmann: Deutsche Kirchen sollen kleine Kirchen im Libanon unterstützen
    Main: Angesichts dieses Erlebnisses, welche Konsequenzen ziehen Sie für sich daraus, für die Kirchen in Deutschland und für die deutsche Politik?
    Käßmann: Für die Kirchen in Deutschland ist es wichtig, die kleinen Kirchen im Libanon zu unterstützen. Das sind ja Minderheiten, allerdings doch im Libanon eine erhebliche und sichtbare und klare Minderheit, die allerdings sagt: 'Christen unterstützen: 'Ja', Christen schützen: 'Ja', aber insgesamt wünschen wir uns, dass ihr dafür eintretet, dass alle moderaten Kräfte gestützt werden. Wir wollen auch keinen separaten Christenstaat, sondern wir wollen hier zusammen leben als Christen aus 14 Denominationen mit Schiiten und Sunniten und Drusen. Das ist doch eigentlich das Großartige, dass wir es bis jetzt geschafft haben im Libanon, zusammen zu leben seit dem Ende des Krieges.' Und was die Flüchtlingssituation insgesamt betrifft und die staatliche Seite, da, muss ich sagen, muss die Politik aufhören, denke ich, Abwehrmechanismen aufzubauen, wie wir Menschen abwehren können, dass sie nicht nach Deutschland kommen, sondern wie Deutschland seinen Teil dazu beiträgt, die Menschen mit Würde aufzunehmen. Gerade die Syrer, die wünschen sich, dass der Krieg im Land zu Ende geht und sie in ihr Heimatland zurückkehren können. Und es sind viele sehr kompetente Menschen da, dir wir nicht immer nur abschieben müssen in irgendwelche Lager oder sonst wohin, sondern die wir aufnehmen sollten und deren Ressourcen wir auch ernst nehmen können.
    Main: Sie haben die vielen unterschiedlichen Denominationen im Libanon angesprochen, die vielen christlichen Kirchen. Über die Jahrzehnte sind die mit dem säkularistischen Regime Assad besser gefahren, haben es auch lange unterstützt. Wie ist das heute? Was ist die Position gewesen bei Ihren Gesprächspartnern aus dem protestantischen Milieu?
    Käßmann: Wir haben ja eine Konferenz abgehalten zum Thema "Was ist das reformatorische Erbe im Mittleren Osten heute?" Und Luthers Unterscheidung zwischen dem weltlichen Regime und dem geistlichen Regime oder die "Zwei Regimente-Lehre", wie wir das theologisch nennen, die "Zwei-Reiche-Lehre", erscheint da natürlich sehr nützlich: Der Staat soll tun, was des Staates ist; und die Religion soll tun, was die Religion tut. Und alle haben gesagt: Das kann uns gerade helfen, zu sagen: Wir brauchen einen starken, säkularen Staat mit einem säkularen Recht, in dem viele Religionen dann frei leben können. Das hat mich schon fasziniert, wie manches aus der reformatorischen Zeit dann sehr, sehr konkret und lebendig geworden ist.
    Main: Dass so viele Menschen aus Syrien fliehen, dass dort so viele Menschen sterben, das hat ja auch damit zu tun, dass diejenigen, die üblicherweise "die Kohlen aus dem Feuer holen" in solchen Kriegssituationen, dass die kein Interesse an einem weiteren Krieg haben. Sprich, die USA halten sich zurück, wollen keinen Kriegseinsatz; EU, China, Russland, alle haben unterschiedliche Interessen. Man könnte also sagen, in Syrien führt der Verzicht auf militärische Nothilfe zu einem Massensterben und zu einer Massenflucht. Inwieweit irritiert Sie das in Ihrer pazifistischen Grundeinstellung?
    Käßmann: Also, es ist doch immer so, wenn Menschen Opfer von Kriegen werden, dass einen das emotional mitnimmt und zu Tränen rührt, wenn das Heim zerstört wird, die Kinder in einer traumatischen Situation leben. Ich habe den Pfarrer von Aleppo getroffen, der gesehen hat, wie vor seinen Augen acht Gemeindemitglieder von einer Bombe zerfetzt wurden. Der Mann, der Pfarrer, ist traumatisiert, das ist ganz klar, aber gleichzeitig war auch deutlich: Noch mehr Waffen und noch mehr Krieg werden keinen Frieden bringen, sondern wir müssen fragen: Wie kann in so einer Situation Frieden entstehen? Natürlich muss diese Terrortruppe, die sich "Islamischer Staat" nennt, gestoppt werden, auf eine Art und Weise. Aber der Mittlere Osten ist der größte Waffenimporteur der Welt, und es wurde auf der Konferenz auch sehr deutlich gesagt, dass es auch Interesse gibt an Kriegen, weil Kriege natürlich immer auch Rüstungskäufe bedeuten. Und die Frage war eher: Wie klar verhalten sich die Kirchen in der Frage der Rüstungsexportpolitik? Und ich konnte da zum Glück oder Gott sei Dank sagen, dass die evangelische und die römisch-katholische Kirche in Deutschland jedes Jahr mit der "Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung" einen Bericht über Rüstungsexporte geben und sie klar kritisieren, die Rüstungsexporte, gerade in ein so waffenbesetztes Land und eine solche Region, die so explosiv ist.
    Käßmann: Religion lässt sich immer wieder benutzen, Öl ins Feuer machtpolitischer Konflikte zu gießen
    Main: Sie sagen, der sogenannte "Islamische Staat“ muss gestoppt werden. US-Präsident Obama sagt, er muss vernichtet werden.
    Käßmann: Ja, Sie müssen sich natürlich fragen: Wer ist das eigentlich und welche Interessen stehen dahinter? Also ich bin keine Nahost-Expertin, das würde ich niemals behaupten, aber die Entscheidung fällt zwischen Saudi-Arabien und Iran. Und die Lösung kann nur gefunden werden, wenn diese beiden Staaten eine Lösung wollen.
    Main: Sie sprechen Saudi-Arabien und Iran an – einmal schiitisch, einmal sunnitisch. Ist das Ganze, was wir dort erleben – auch wenn Sie keine Nahost-Expertin sind –, ist das ein Religionskrieg?
    Käßmann: Ich bin immer sehr vorsichtig, zu sagen, dass es die Religion ist, die den Krieg macht, sondern Religion wird benutzt, um politische Konflikte, Machtkonflikte und manchmal ökonomische Konflikte auszutragen. Und leider, leider, muss ich sagen, auch als Christin, lässt sich Religion immer wieder auch benutzen, Öl in das Feuer von solchen machtpolitischen Konflikten zu gießen. Und der Wunsch oder die Sehnsucht, denke ich, der meisten religiösen Menschen ist, dass Religion endlich dazu beiträgt, Konflikte zu deeskalieren. Und Gott sei Dank haben wir eben auch doch Zeichen dafür, dass religiös motivierte Menschen oft die sind, die für den Frieden eintreten. Und ich nenne jetzt nochmal den Pfarrer von Aleppo, der zurück geht und sagt: 'Ich muss diese Kirche wieder aufbauen, wir brauchen Symbole der Hoffnung in dieser so dramatisch zerstörten Region, dass wieder Leben möglich ist für die Menschen.'
    Main: Dieser Pfarrer geht zurück – andere fliehen. Sehen Sie auch die Gefahr, dass diese Region, die man auch als die Wiege des Christentums bezeichnen kann, dass das bald eine Gegend ohne Christen ist?
    Käßmann: Na ja, das könnte so sein, wenn der Terror so weiter geht. Die Gesprächspartner – das muss ich sagen – in Beirut haben gesagt, sie versuchen alles, die Menschen zum Bleiben zu bewegen. Weil es ist natürlich auch die große Hoffnung, dass Religionen in Frieden leben können, gerade in dieser Region der Welt, die für Menschen aller Religionen so eine ganz besondere und symbolische Bedeutung hat. Und wenn Christen, Juden und Muslime dort friedlich zusammenleben könnten, das wäre ja die große Hoffnung. Alle haben gesagt: 'Wenn wir dazu kommen, dass wir jetzt separieren, hier ist die Region für die Christen, hier die für die Juden, da für die Muslime, ist das kein Hoffnungssymbol mehr.‘
    Main: Manchmal erscheint es so, als ob die Weltöffentlichkeit Christen in der Region abhaken würde. Jesidische Kurden konnten Hilfe mobilisieren. Wie erklären Sie sich diese Ignoranz, wenn Christen verfolgt werden?
    Käßmann: Diese Ignoranz sehe ich nicht, das muss ich sagen, weil sie in den Kirchen doch hier sehr präsent sind: Die verfolgten Christen im Mittleren und Nahen Osten. Ich kann sagen, dass bei jedem Gottesdienst, den ich die letzten Wochen erlebt habe, in den Fürbitten das thematisiert wird und hier auch doch sehr deutlich ist, wie viele Christen unter Druck stehen. Und deshalb, denke ich, gilt es alles zu tun, die Christen gerade im Libanon zu stärken, die sich als arabische Christen verstehen. Sie sagen: 'Tut uns nicht immer ab als muslimisches Land, wir sind arabische Christen in einem arabischen Land, mit einer arabischen Kultur.' Und das sollten wir, glaube ich, stärken und wertschätzen auch, in unserer Wahrnehmung.
    Käßman: Bilder-Zerstörungen des Islamischen Staates mit Bilderstürmen im Dreißigjährigen Krieg vergleichbar
    Main: Sie sind als Reformationsbotschafterin im Libanon gewesen. Schwerpunkt in diesem Themenjahr 2015, im Reformationsjubiläum, ist der Aspekt "Bild und Bibel". Von Afghanistan bis Irak werden zurzeit Bilder zerstört, Kunst zerstört. Auch in der Reformation gab es Bilderstürmerei. Wo sehen Sie Parallelen? Ist dieses Zerstören von Bildern womöglich auch religionsimmanent?
    Käßmann: Mir war sehr eindrücklich, wie plötzlich der Bildersturm der Reformation eine ganz aktuelle Bedeutung bekommt. Und da muss ich sagen, Luther ist von der Wartburg wieder runtergekommen, wo er ja Zuflucht gefunden hatte, nachdem er als vogelfrei erklärt wurde, weil er den Bildersturm stoppen wollte. Also, Martin Luther hat sehr klar gesagt: 'Wir brauchen einen kritischen Blick auf das Bild, wir dürfen das Bild nicht zum Gott werden lassen.' Die Menschen haben ja damals, sagen wir mal, die lateinische Messe nicht verstanden und haben sich sehr stark auf die Bilder konzentriert, und die Bilder wurden dann zur Anbetung genutzt. Sie standen an Gottes statt. Das wollte Luther aufheben und sagen: 'Nein, Gott allein ist die Ehre, und wir sollen keine Bilder anbeten.' Aber er wollte die Bilder auch schützen, weil die Bilder den Glauben anregen können, vertiefen können – ja –, die Sinnlichkeit oder auch die Spiritualität, die Erfahrbarkeit des Glaubens stärken. Und deshalb ist bedrückend, wenn diese, ich nenne das Terroristen – weil auch die Muslime, die moderaten Muslime sagen, das hat mit dem Glauben nichts zu tun – diese Bilder zerstören, weil damit ja Tradition, Beheimatung – ja – und auch diese Erfahrbarkeit des Glaubens vernichtet wird. Das ist schon eine Brutalität, die sich gegen Sachen richtet, aber ja letzten Endes die Menschen in ihrer Liebe zu diesen Bildern und ihrer Religion treffen will.
    Main: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, mit Margot Käßmann. Frau Käßmann, Vergleichbares, wie im Nahen Osten, hat sich auf deutschem, auf europäischem Boden auch schon mal abgespielt im Dreißigjährigen Krieg. Da standen sich auch zwei Konfessionen gegenüber, damals Katholiken und Protestanten. Inwieweit hinkt dieser Vergleich – oder überzeugt er Sie?
    Käßmann: Leider überzeugt er mich durchaus, weil damals ja auch es machtpolitische Interessen waren, die sich abgespielt haben und dann zu Konfessionskriegen erklärt wurden. Und es hat 30 Jahre gedauert, eine absolute Zerstörung auch – ein Drittel der Bevölkerung wurde ausgelöscht, bis es endlich zum Westfälischen Frieden kam. Ich habe erlebt bei den Diskussionen in Beirut, dass die Menschen gesagt haben: 'Wir werden einen sehr, sehr langen Atem brauchen', aber sie haben die Hoffnung, dass es möglich ist, wieder zum Frieden zu kommen. Das hat mich doch fasziniert. Und ich glaube ja immer noch an die Lernfähigkeit von Menschen, ihren Friedenswillen auch umzusetzen. Weil die Menschen wollen doch, die normalen Menschen wollen ihre Kinder erziehen, Häuser bauen, arbeiten, Bildung und Gesundheitsversorgung für ihr Leben haben und sind dann zufrieden. Und diese Menschen müssen wir zusammenfinden für diesen Friedenswillen. Und die zerstörerische Kraft des Krieges, gerade auch eines religiös benannten Krieges, haben wir in Europa eben leider kennengelernt.
    Main: Der Westfälische Friede wurde möglich als die Kriegsparteien ermattet waren, erschöpft waren, gar nicht mehr konnten, keinen Krieg mehr brauchen. Ist das womöglich auch die Perspektive mit Blick auf den Nahen Osten? Sie sind etwas optimistischer, höre ich raus.
    Käßmann: Ja, ich bin insofern optimistischer, als die Menschen dort mir einen langen Atem zu haben scheinen. Die sind natürlich verzweifelt, die haben auch Angst. Aber die Hoffnung, dass es doch die Möglichkeit gibt zusammenzuleben, vielleicht stammt die auch daher, dass die Menschen im Nahen und Mittleren Osten natürlich oft erlebt haben, was Terror bedeutet in einer Region, die strategisch natürlich auch so wichtig ist. Ich fand sehr anrührend, dass ein älterer Mann uns in Byblos erklärt hat, dass hier vor 7.000 Jahren Kultur entstanden ist, und dann immer sagte: 'Und hier kam Alexander der Große, und dann kam der nächste Diktator', und sagte: '… wie ISIS heute', also auch das Erleben, dass es immer wieder Terror gab, aber die Menschen zu Frieden finden müssen. Wir brauchen ein Erlernen des Friedens. Deshalb denke ich – nochmal –, wir müssen alles tun, nicht nur die Christen zu schützen, sondern auch die Muslime, die in Frieden mit Christen leben wollen.
    Käßmann: Kein gemeinsames Abendmahl, da katholische Kirche nicht sieht, dass sie das theologisch verantworten kann
    Main: Frau Käßmann, Sie sind Botschafterin für das Reformationsjubiläum. Wenn wir die Feindschaft zwischen Katholiken und Protestanten in der Folge der Reformation vergleichen mit der Situation im Nahen Osten: Können wir uns, was unsere Situation betrifft – evangelisch / katholisch – hierzulande halbwegs entspannt zurücklehnen?
    Käßmann: Ja, da können wir nur sagen, wir haben mit dem Reformationsjubiläum 2017 eine ganz andere Situation als 1917. Wir kennen inzwischen eine ökumenische Bewegung. Und nach dem Zweiten Weltkrieg, durch die Flüchtlingsströme, die es gegeben hat, gab es auch eine große Mischung von Protestanten und Katholiken – was nicht immer einfach war, wenn wir die Geschichten der Menschen anhören, die das miterlebt haben, aber was dazu geführt hat, dass die Menschen entdeckt haben: Uns verbindet ja viel mehr, als uns trennt. Natürlich bleibt da Trennendes: Also, für die Lutheraner wird das Papsttum immer eine Frage bleiben. Das Kirchenverständnis wird wahrscheinlich immer unterschiedlich bleiben, und auch das Abendmahls- und Amtsverständnis. Aber trotzdem kann ich im Verschiedenen auch das Gemeinsame entdecken. Ja, wir würden heute, denke ich, sagen: Es gibt sogar eine kreative Kraft dieser konfessionellen Differenz. Weil gerade in der Differenz kommt natürlich auch Kreativität auf, wenn ich anfangen muss zu überlegen: Wer bin ich eigentlich im Gegenüber zu jemandem, der bestimmte Dinge anders sieht? Sodass ich sagen würde: Heute gibt es eine große gegenseitige Wertschätzung – gerade in Deutschland – zwischen Katholiken und Protestanten. Und ob Einheit als Einheitlichkeit das Ziel sein kann von Ökumene, bezweifle ich sogar, sondern ich finde gerade in der Verschiedenheit, die sich natürlich versöhnt haben soll, steckt auch – ja – diese kreative Kraft.
    Main: Es hat rund ums Reformationsjubiläum ein paar irritierte Fragen von katholischer Seite gegeben, ob Katholiken mit Protestanten zusammen dieses Jubiläum feiern könnten, ob das eben ein Grund zu feiern sei. Was hat sich an dieser Front getan, was ist der Stand der Dinge an diesem Punkt?
    Käßmann: Da, denke ich, hat sich doch einiges entwickelt. Es gab sicher eine Beunruhigung auf römisch-katholischer Seite anfangs, es könnte wieder eine Art Kult um Luther geben und wir würden ein Reformationsjubiläum in Abgrenzung gegenüber Katholiken feiern, also hier die Kirche der Freiheit und da die alte römische Kirche. Ich habe den Eindruck, dass diese Irritationen doch nicht mehr vorhanden sind, weil wir sehr deutlich gemacht haben: Wir wollen kein deutsches Luther-Jubiläum, sondern wir wollen ein internationales Reformationsjubiläum im ökumenischen Horizont feiern. Und manchmal finde ich diese feinen Versuche zu differenzieren: Gedenken oder Feiern ... also, ich finde, wir können natürlich auch feiern in dem Sinne, dass ja Feiern nicht immer Karnevalisierung bedeutet – ja –, also wir machen ein einziges Festival daraus, sondern auch der Karfreitag beispielsweise ist ein Feiertag. Das Gedenken ist ja immer auch Teil des Reflektierens. Also, wir werden auf jeden Fall bei dieser "Weltausstellung Reformation", die von Mai bis Oktober in Wittenberg stattfinden wird, einen "Dialog Protestanten / Katholiken" haben. Ich hoffe, dass es auch Versöhnungsgottesdienste gibt.
    Main: Mit gemeinsamem Abendmahl?
    Käßmann: Das wird es wahrscheinlich nicht geben, weil die römisch-katholische Kirche im Moment nicht sieht, dass sie das theologisch verantworten kann. Und das müssen die Lutheraner dann – oder die Kirchen der Reformation insgesamt – respektieren. Natürlich sagen wir: Christus ist der Einladende, deshalb kann jeder Mensch, der möchte, jeder getaufte Christ zu uns zum Abendmahl kommen. Aber ich habe auch Respekt dafür, wenn jemand anderes das anders sieht. Das muss einfach auch möglich sein. Ich war gerade eingeladen vom Diözesanrat der Diözese Köln, und das war wirklich so, diese Katholiken, da waren ein paar Hundert Katholiken, die ein großes Interesse daran haben, wie das aussieht und ob sie sich irgendwo beteiligten können. Und ich finde schon, dass wir sehen können: Es ist eine gemeinsame Geschichte. Es ist ja nicht nur die lutherische oder die Reformationsgeschichte, sondern es ist die Geschichte, die wir gemeinsam erlebt haben in diesen 500 Jahren. Und feiern können wir auf jeden Fall, dass wir inzwischen eine ökumenische Bewegung und ein ökumenisches Miteinander kennen, wie das vor hundert Jahren nicht der Fall war.
    Käßmann: Auch Katholiken wollen sich beim Reformationsjubiläum einbringen
    Main: Sie haben eben einen möglichen Luther-Kult angesprochen. Ihr offizieller Titel ist: Botschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum. Das ist der offizielle Titel. Oft werden Sie einfach als "Luther-Botschafterin" bezeichnet. Inwieweit ärgert oder freut Sie das?
    Käßmann: Na, ich finde es eben besser zu sagen: Ich bin Reformationsbotschafterin. Ich war auf der Synode in Zürich eingeladen, und da gab es vorher einen Zeitungsartikel, der gesagt hat: "Die deutschen Lutheraner werden wieder Calvin zur Vorspeise und Zwingli zum Dessert machen; und Luther ist immer das Hauptgericht". Und da habe ich sehr deutlich gesagt: Es ist ein reformatorisches gemeinsames Erbe und ich freue mich sehr – Gott, ich kann sagen, die ganze EKD freut sich sehr –, dass der Schweizerische Evangelische Kirchenbund gesagt hat: 'Gut, wir werden 2017 gemeinsam begehen, es ist ein Symboldatum' – 1517 ist natürlich für die Schweizer erst mal kein Datum, aber es ist ein Symboldatum. Die Schweizer sind in der Vorbereitung alle sehr engagiert. Und es wird wirklich ein Reformationsjubiläum begangen, bei dem wir uns klarmachen: Reformation ist nicht nur Luther, ist nicht nur 1517, sondern ein breiter Prozess im gesamten 16. Jahrhundert. Und Reformation hat natürlich auch die Kirche, die wir heute als römisch-katholische kennen, auch verändert. Also Reformation ist ein breiter Prozess und deshalb heißt es auch nicht: Wir haben eine "Weltausstellung der Reformation", sondern eine "Weltausstellung Reformation", bei der wir auch fragen: Was bedeutet es für alle Kirchen, immer wieder reformatorisch zu sein, aber auch natürlich für den Staat? Reformation hat ja auch gesellschaftspolitisch viel bedeutet.
    Main: Und dennoch gibt es eine gewisse Personalisierung – das hat wahrscheinlich auch mit unserer Medienlandschaft zu tun –, eine Personalisierung und Fixierung auf Luther. Und wenn man dann anfängt, zu personalisieren, dann muss man auch die Schattenseiten sehen. In neueren Forschungen heißt es, Luthers Bereitschaft zur Dämonisierung von Juden kannte weder Maß noch Grenze. Ist Luthers Judenhass ein dunkler Fleck in seinem Leben und Denken – oder schränkt das seine Bedeutung für Sie ein?
    Käßmann: Für mich ist es wichtig, dass wir beim Reformationsjubiläum 2017 Luthers Antijudaismus – manche sagen sogar Antisemitismus – nicht ausklammern. Das wurde vor hundert Jahren überhaupt nicht thematisiert. Und ich merke auch, dass viele Menschen noch große Mühe haben und wenn ich über Luthers Antijudaismus spreche oder Antisemitismus gar, dann gesagt wird: 'Kratzen Sie jetzt nicht am Luther-Bild, machen Sie uns unseren Luther nicht kaputt!' Nein, ich finde, wir müssen diesen Menschen auch mit seinen Schattenseiten sehen. Ich finde sehr gut, dass das auch wissenschaftlich aufgearbeitet wird. Thomas Kaufmann hat letztes Jahr ein gutes Buch herausgegeben, das sehr klar schildert Luther in seiner Zeit, aber auch doch Luthers antisemitische Züge, wenn er etwa bezweifelt, ob Juden tatsächlich konvertieren wollten, wenn sie sich taufen ließen, weil sie eben Juden sind. Also, das hat mich schon sehr nachdenklich gemacht. Und ich finde gut, dass wir heute darüber sprechen können. Es nimmt aber davon nichts, dass Luther ein großartiger, sprachbegabter, überzeugender Theologe war, der mich auch bis heute fasziniert. Und wir müssen ja sehen: Luthers Schriften, das waren Bestseller zu seiner Zeit. Das ist unfassbar, wenn man die Zahlen sieht. Ein Drittel von allem, was in Deutschland veröffentlicht wurde im 16. Jahrhundert, sind Luthers Schriften. Und als er das Neue Testament von der Wartburg mitbrachte, übersetzt hatte, das ging weg wie warme Semmeln, würden wir heute sagen. Er hat die Sprache, die deutsche Sprache geprägt, aber er hat die Menschen auch bewegt. Ihm wurde ja von den Professoren vorgeworfen, dass er nicht Latein schreibt und dass er so kurz schreibt. Aber in diesen kurzen deutschen Texten – auch wenn wir die heute lesen – hat der Mann eine Sprachkraft, die mich bis heute fasziniert.
    "Ich finde schon, wir sollten als Christinnen und Christen bewusster zu unserer Tradition stehen"
    Main: Margot Käßmann im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Frau Käßmann, es ist Osterzeit, was ist für Sie in Ihrem Leben und auch theologisch wichtiger: der Karfreitag oder der Ostersonntag?
    Käßmann: Das können Sie nicht auseinander definieren, finde ich. Mir ist wichtig, dass meine Religion die Passion kennt, also dass wir am Karfreitag daran gedacht haben, dass Gott selbst Leid kennt. Das ist für mich eine faszinierende Idee, dass wir meinen, wir können auch gerade im Leid zu Gott beten, weil Gott das selbst erfahren hat, selbst die Ohnmacht gegenüber dem Tod. Bonhoeffer hat so gut mal formuliert, dass wir bei Gott immer Ohnmacht und Allmacht deshalb zusammen denken müssen. Das ist eine große theologische Herausforderung. Ich finde aber, es hilft Menschen auch, Gott nicht als den zu sehen, der hier Strafe, da Zerstörung, hier Krankheit schickt, sondern Gott als den zu sehen, der dir die Kraft gibt, mit dem Leid, mit der Passion, die es in jedem Leben irgendwann gibt, zu leben. Aber dazu gehört natürlich auch, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, also dass der Tod, wie wir heute an Ostern feiern, Auferstehung bedeutet in dem Sinne, dass es nicht das Ende ist. Deshalb ist die Macht des Todes auch gebrochen. Also der Tod macht uns ja solche Angst, weil wir Angst haben und befürchten, dass der Tod alles zerstört, was an Leben da ist. Und das Christentum sagt: 'Nein, der Tod hat nicht das letzte Wort!' Ich finde, der Theologe Heinz Zahrnt, der dieses Jahr 100 Jahre geworden wäre, hat das so schön gesagt: 'Was Gott mit uns tut nach dem Tod, bleibt ein Geheimnis, aber mit einem Geheimnis kann der Mensch leben, wenn er Vertrauen hat.' Zu allererst ist für mich Auferstehung keine Vertröstung ins Jenseits – also die Zeiten sind vorbei –, sondern Auferstehung kann hier und jetzt geschehen, wo wir sagen, dass wir erleben, dass Leben gegen den Tod gestellt wird. Ich finde schon, dass gerade in der hebräischen Rede davon, das immer schon hier anfängt. Also ich bin jetzt schon in einem Prozess, der den Tod nicht einfach als Sackgasse ansieht, sondern den Tod als Durchgangspunkt auf einem Weg hin zu Gott. Also der Weg zu Gott ist eine Einbahnstraße, aber die endet nicht in einer Sackgasse mit dem Tod. Wir brauchen Bilder, denke ich, dafür. Noch mal Heinz Zahrnt – weil ich gerade seine Texte zum hundertsten Geburtstag gelesen habe –, der sagt sehr schön: "Wenn der Arzt sagt: 'Exitus', sagt unsere Liturgie: 'Introitus'." Das letzte bei der Beerdigung, was wir sagen ist: "Der Herr segne deinen Ausgang und Eingang". Manche sagen das falsch herum, aber die Liturgie sagt "Ausgang und Eingang". Den Ausgang aus diesem Leben und den Eingang ins nächste. Die Bibel sagt uns gar nicht so viel darüber, wie die Zukunft bei Gott aussehen wird, aber sie sagt: "Dann werden alle Tränen abgewischt“ – Offenbarung 21 – "und Not, Leid, Geschrei, ja, der Tod wird nicht mehr sein". Und mit dieser Hoffnung oder diesem Geheimnis kann ich dann in Gottvertrauen leben.
    Main: Wenn Sie in Berlin, einer Stadt in der nur noch ein Drittel der Menschen Kirchenmitglied ist, wenn Sie dort in der Karwoche einkaufen gehen, sagen Sie dann zum Abschied "Frohe Ostern" oder "Schöne Feiertage"?
    Käßmann: Na, also ich sage schon "Frohe Ostern" zu den Menschen. Das würde ich allerdings noch nicht am Karfreitag tun.
    Main: Da können Sie auch nicht einkaufen gehen.
    Käßmann: Ja, selbst in Berlin nicht, sage ich mal, auch Gott sei Dank. Ich finde: Ein paar Feiertage und stille Tage muss es auch noch geben dürfen in diesem Land, das meint, dass es permanent einkaufen muss. Ich finde schon, wir sollten als Christinnen und Christen bewusster zu unserer Tradition stehen, und dann würde vielleicht auch die Angst vor anderer Religion nicht so groß sein. Wenn mir Menschen sagen: 'Ach, Frau Käßmann, die Moscheen sind voll, die Kirchen sind leer, ist das nicht furchtbar?!' Dann sage ich: 'Ja, dann gehen Sie doch Sonntags in die Kirche, dann sind die Kirchen auch voll, müssen Sie weniger Angst haben.' Ich finde, wir können unsere Religion ja auch praktizieren, und ich wünsche mir da schon auch ein gesundes Selbstbewusstsein der Christinnen und Christen.
    Main: Frau Käßmann, vielen Dank für das Gespräch und Frohe Ostern!
    Käßmann: Ja, Ihnen gesegnete Ostern auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.