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Kafka in tausend Bildern

Mit mehr als 1200 Fotos legt Hartmut Binder eine monumentale Bildbiografie zu Franz Kafkas Leben und Werk vor. Von Kafkas Spaziergängen, über seine Kuraufenthalte bis hin zu seinen Bordellbesuchen beschreibt Binder in "Kafkas Welt" akribisch, fast voyeuristisch das Leben des vor 125 Jahren geborenen Literaten.

Von Simone Hamm |
    Ich will hier nochmals die Gestalt meines Freundes heraufbeschwören: schlank, groß, etwas vorgebeugt - die Augen kühn, blitzend - grau, die Gesichtsfarbe bräunlich, der Haarbusch hoch und pechschwarz, - schöne Zähne, ein freundliches, höfliches Lächeln, wenn nicht zuweilen ein geistesabwesend trüber Ausdruck, das schöne scharfgeschnittene Gesicht verdüsterte.

    Franz Kafka, wie ihn Max Brod beschrieben hat. Ein schmales Gesicht mit feinen Gesichtszügen, ein klarer Blick aus dunklen Augen, so kennen wir Franz Kafka von Fotos.

    "Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern" hat der Kafka Forscher und Biograf Hartmut Binder sein über drei Kilo schweres, opulentes, großformatiges Buch genannt. Auf fast 700 Seiten legt er 1200 historische Fotos aus Kafkas Zeit vor, natürlich sind viele Porträts von Kafka selbst darunter. Jahrzehntelang hat Binder akribisch recherchiert. Er hat Kunstbände ausgegraben, die Kafka gesehen, Kunstzeitschriften, die er gelesen, Schulbücher, mit denen er gearbeitet hat. Er nennt sogar die Marke des Haarwassers, die Kafka benutzt hat.

    Binder ist auf Kafkas Spuren durch Prag gelaufen, zeigt Fotos von Wohnungen, in denen dieser gelebt hat, von Strassen, durch die er zur Arbeit gegangen, von Wegen, auf denen er flaniert ist. Auf dreißig Seiten beschreibt er Kafkas Weg zum Büro hin - und zurück.

    Täglich hat Kafka Spaziergänge durch Prag gemacht. Wie Architektur und Topografie der Stadt Prag in Kafkas Werk eingeflossen sind, das hat schon Klaus Wagenbach herausgearbeitet - und bei Hartmut Binder wird es noch einmal überdeutlich.

    Er zeigt Fotos von Buchläden, in denen Kafka gestöbert hat, Badeanstalten, in denen er zum Schwimmen ging, Läden, die Kafkas Verwandten gehört haben, Cafes, in denen Kafka Mokka getrunken, Weinstuben, in denen er verweilt hat, manchmal ohne auch nur ein einziges Mal an einem Glas genippt zu haben. Binder setzt diesen Fotografien, die größten Teils noch nie veröffentlicht worden sind, Tagebucheinträge und Stellen aus Kafkas Briefen gegenüber: Alltagswelt, eine Welt des jüdischen Mittelstandes im deutschsprachigen Prag.

    Man hätte sich bei diesem opulenten Werk ein Glossar mit Namen-, und Ortsregistern gewünscht.

    Großen Raum widmet Binder auch Kafkas Reisen und Kuraufenthalten. Etliche Ansichtskarten sind beigefügt. Kein Wunder, dass man sich manchmal von all dem erschlagen fühlt. Dass man sich fragt, ob man wirklich jeden Stein kennen muss, auf den Kafka seinen Fuß gesetzt hat.

    Binder ist ein Sammler, akribisch hat er alles aufgezeichnet, was er gefunden hat. Rein positivistisch ist seine Arbeit. Da wird nichts interpretiert. Es wird auch nichts eingeordnet. Nie hat man mehr über Kafka erfahren. Und doch bleibt er ein Rätsel.

    Hartmut Binder zeigt Fotografien nicht nur der Stadt, in der Kafka lebte, sondern auch der Menschen, die ihn umgaben, die ihn prägten: der dominante herrische Vater, der den Sohn verachtete und die Dienstboten quälte. So zitiert Binder aus einem Kafka Brief, wie die bissige, sich von Kafkas Eltern ungerecht behandelt fühlende Haushälterin sich am Schüler Franz Kafka rächte. Jeden Tag brachte sie ihn zur Schule und jeden Tag drohte sie, seinem Lehrer zu erzählen, wie unartig er gewesen sei. Und jeden Tag flösste sie ihm aufs Neue wieder Angst ein.
    Hartmut Binder zeigt Kafka, wie er sich selbst sah, etwa im Spiegel:

    Ein klares, übersichtlich gebildetes, fast schön begrenztes Gesicht. Das Schwarz der Haare, der Brauen und der Augenhöhlen dringt wie Leben aus der übrigen, abwartenden Masse. Der Blick ist gar nicht verwüstet, davon keine Spur, er ist aber auch nicht kindlich, eher Unglaublicherweise energisch, aber vielleicht war er nur beobachtend, da ich mich eben beobachtet und mir Angst machen wollte.

    Binder bringt uns die Menschen nahe, mit denen Kafka lebte. Er beschreibt deren Lebenswege auch dann, wenn Kafka sie nur kurz in seinen Briefen, seinen Tagebüchern erwähnte.

    Hartmut Binder begleitet die Menschen aus Kafkas Leben auch nach dessen Tod weiter. Etliche seiner Verwandten, Freunde, Schulkameraden, Kollegen, auch eine seiner Vermieterinnen sind in Konzentrationslagern ermordet worden.

    Kafkas Schwester Ellie wurde in Chelmno umgebracht, seine jüngste Schwester Ottla, zu der er ein inniges Verhältnis hatte, ging mit einer Gruppe von Kindern in Auschwitz in die Gaskammer. Grete Bloch, mit der er sich brieflich austauschte, wurde von den Nationalsozialisten ebenso ermordet wie seine zweite Verlobte Julie Wohryzek, die er heiraten und doch nicht heiraten wollte - und die nach Auschwitz verschleppt wurde. Seine Geliebte Milena starb in Ravensbrück.

    Hartmut Binder schafft Parallelen zu Kafkas Werk, findet heraus, wann Kafka in welchem Zirkus die Zirkusreiterin gesehen hat, wer die Wirtsleute waren, die Pate standen für die Wirtsleute im "Schloss". Die Schwarzweißzeichnungen aus einer "Naturgeschichte des Tierreiches", mit der Kafka sich befasste, könnte, so Binder, ihren literarischen Niederschlag gefunden haben in den Erzählungen Kafkas, in denen Tiere im Mittelpunkt stehen. Der Schimpanse, der in einem Variete aufgetreten ist, ist Vorbild für den Affen aus Bericht für eine Akademie. Kafka liebte Zirkus und Variete. Eine Fotografie der Großeltern wird haargenau im "Verschollenen" beschrieben.

    Wir lernen die Frauen kennen, die Kafka liebte: Felice Bauer hat er Hunderte von Briefen geschrieben, er war zweimal verlobt mit ihr und hat sich zweimal von ihr getrennt. Er begehrte die unangepasste Milena Jesenska, der er auf Augenhöhe begegnen konnte, und die einen andern liebte. Er verlobte sich mit Julie Wohryzek, die lungenkrank war wie er, und schließlich verliebte er sich in Dora Diamant, die bei ihm war, als er todkrank war, als er starb. Jahre später wird die Gestapo in Dora Diamants Berliner Wohnung eindringen und etliche Manuskripte von Kafka beschlagnahmen.

    Binder zeigt in seinem Buch den Kafka, den wir kennen: den Schriftsteller, der seinen Brotberuf als Jurist in einer Versicherungsgesellschaft hasste, den Mann, der die Frauen liebte, und sich dennoch niemals binden wollte.

    Mein Leben habe ich damit verbracht mich gegen die Lust zu wehren es zu beenden.

    Den weniger bekannten, weil dem Bild vom düsteren, sich mit Selbstzweifeln quälenden Kafka nicht entsprechenden, zeigt er auch: den Reisenden, den eleganten Flaneur, den humorvollen Cafehausbesucher.

    Hartmut Binder stellt uns Kafkas Freundinnen vor. Viele Kellnerinnen hat es gegeben, Bordellbesuche, Kurschatten, Stenotypistinnen. Und spätestens hier stellt man sich dann die Frage, ob wir das wirklich alles wissen wollen: wann und mit wem Kafka welches Bordell besucht hat, in welchem Gasthaus er was gegessen hat, welche Theateraufführung mit welcher Schauspielerin er gesehen hat. Bisweilen kommt sich der Leser vor wie ein Voyeur. Bisweilen wird er sich langweilen. An der literarischen Rezeption Kafkas wird dieses Wissen ohnehin nichts ändern.

    Hartmut Binder: Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern
    Circa 1200 zweifarbige Abbildungen
    Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008, 687 Seiten, 68 Euro