Wer spielt heute eigentlich noch Theater? "Wir alle spielen Theater", hat der Soziologie Erving Goffman vor 50 Jahren geschrieben, und damit nicht gemeint, dass wir alle Laiendarsteller sind. Goffman wollte vielmehr zeigen, dass unsere Alltagsinteraktion insgesamt theatral ist. Das stimmt damals, und es stimmt heute noch mehr. Ist nicht unser Leben durch das Internet noch theatraler geworden? Die sozialen Netzwerke sind die Alltagsbühne, auf der wir unserer Lust am Publikum-Sein oder Publikum-Haben frönen. Niemand ist "nur" Zuschauer, alle sind Ko-Akteure bei einem Geschehen, das man optimistisch "interaktiv" nennt. Im Internet sind Träume wahr geworden, die das progressive Theater mindestens seit Brecht geträumt hatte. Es gibt hier kein zur Passivität verdammtes Publikum mehr, nein, alle sind aktiviert, dürfen mitmachen, mitbestimmen, "liken" oder "disliken".
Diese scheinbare Befreiung des Kunstbetrachters und insgesamt des Konsumenten zum Ko-Akteur hat das Theater von langer Hand vorbereitet. Was bleibt ihm nun zu tun, in einer Situation, in der "Partizipation" der neue Standard ist? Der Rückweg zur hergebrachten Bühnenform -mit Stücken, Rollen, rezitiertem Text -scheint verbaut. Wer heute im Theater etwas auf sich hält, spricht von Projekten, Prozessen und offenen Formen, holt Laien auf die Bühne und läßt sie ihr Leben dokumentieren oder verlegt die Bühne in ein Hotel oder einen Konferenzsaal, um näher an der Realität zu sein. Die Klügeren unter den heutigen Theatermachen, allen voran René Pollesch, haben natürlich gemerkt, dass mit dieser Art Theater etwas nicht stimmt. Es hat sich mimetisch einem Arbeitsbegriff genähert, den man mit Kai van Eikels als "postfordistisch" bezeichnen kann. Wer jetzt im Theater von Improvisation, Turbulenz, Chaos oder gar "Schwarmintelligenz" spricht, der redet exakt wie ein Manager. Man wird sich wohl vergeblich fragen, ob nun die Wirtschaft das Kunstsystem gekapert hat oder ob umgekehrt die Kunst sich nun auch die kapitalistische Wirtschaft einverleibt hat -das wäre dann die Diktatur der Kunst, die etwa der Performer Jonathan Meese nicht müde wird zu proklamieren.
Laboratorium der Geselligkeit
Performance zwischen Kunst und Kapitalismus, das ist das Thema, dem der Theaterwissenschaftler Kai van Eikels eine große Studie gewidmet hat. Das Buch beginnt mit einem langen Essay darüber, "wie Performance Kollektive organisiert" und schließt daran drei ebenfalls Analysen von Performances im Theaterkontext an. Die Gruppen, um die es geht, heißen LIGNA, Forced Entertainment und Geheimagentur. Zwei Dinge lassen sich sogleich konstatieren. Erstens: Kai van Eikels glaubt an und argumentiert für die gesellschaftsverändernde Kraft der Performance-Kunst. Und zweitens: Die Ensembles, von denen hier die Rede ist, kennt außer ein paar Festival-Insidern niemand. Wenn Kunst, die kaum einer kennt, dennoch die Gesellschaft verändern kann oder wenigstens soll, dann nennt man das Avantgarde. Die neue Performance-Kunst ist nach van Eikels ein Laboratorium der Geselligkeit. Hier werden "Kollektive organisiert", indem das alltäglich unbewusst eingeübte Soziale in seine Bestandteile zerlegt und sodann neu konfiguriert wird. Experiment und "Forschung" sind wichtiger als Ergebnisse, schon gar künstlerische.
Nicht immer löst die Performance-Kunst ihre eigenen Ansprüche ein, aber man gewinnt bei van Eikels Hinweise darauf, dass diese neuen Theaterformen etwas von unserer heutigen Lebens- und Arbeitswelt begriffen haben oder begreifen wollen. Es geht in ihnen um eine Neubestimmung des Kollektiven und deshalb, um eine kritische Inventur all dessen, worin wir uns als "Wir" erleben. Nichts ist, folgt man van Eikels, der "Kunst des Kollektivs" weniger zuträglich als übernommene Ideen von Zusammenarbeit und "Miteinander", wie sie in der Politik so beliebt sind. Im Gegenteil, man muss sich erst noch viel gründlicher distanzieren, um von dort die Idee des Kollektivs neu zu entwickeln. "Wer wissen will", schreibt van Eikels, "wie man in einer Performance-Gesellschaft kollektiv handeln, wie man das Leben kollektiv verändern kann, sollte (...) die unterschiedlichen Folgen unserer Distanziertheit erforschen". Distanz erst, nicht etwa voreilige "Solidarität" oder geteilte "Werte", mache es leichter, "Dinge zusammen zu tun: zu Mehreren, zu Vielen, zuweilen zu sehr Vielen."
Was bleibt übrig für die Kunst?
Man möchte es so gerne glauben, dass von dieser überschaubaren Sub-Szene des heutigen Theaters, die kaum je den Blick auf ein breites Publikum gerichtet hat, ein politischer Funke überspringen könnte. Ob aber die neue Kunst des Kollektiven politisch etwas ausrichten kann, und was dann dieses Politische genau wäre, bleibt auch van Eikels verständlicherweise unscharf. Wie weit das neu gedachte Kollektive trägt, hat man etwa an von New York ausgehenden Bewegung "Occupy Wall Street" sehen können. Wer eine Revolution erwartet hatte, der wurde enttäuscht. Aber vielleicht war das die falsche Erwartung. Die neuen Kollektive, so könnte man sagen, üben noch, in New York, Kairo und anderswo. Sie organisieren sich "diesseits der Versammlung", wie van Eikels schreibt, und man wird sehen, in welche Versammlungsformen ihre Übungen führen. Wichtig bei alledem wird sein, die Distanz zu markieren zu dem, was ohnehin um uns herum als "Performance" grassiert.
Wenn sich in der herrschenden Vorstellung von "work performance" (früher einmal "Arbeitsleistung") alle die Motive wiederfinden, die ehedem die künstlerische Praxis beschrieben -zum Beispiel "Kreativität" oder "Improvisation" -was bleibt dann der Kunst zu tun übrig, außer vielleicht einem konservativ klingenden Appell an Menschenwürde? Kai van Eikels geht diesen Fragen mit insistierender Leidenschaft nach. Es ist auch die Leidenschaft eines Zuschauers/Betrachters/Ko-Akteurs, der das politische Potential der Performance an manchen Abenden erlebt, auch oder weil sich an ihnen nichts Politisches oder gar Didaktisches ereignet hat. "In der Flüchtigkeit eines Abends ohne großes Ereignis", schreibt er am Ende seines Buches, "erinnere ich etwas von einem zeitgenössischen politischen Leben.
Kai von Eikels: "Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie." Wilhelm Fink Verlag, München 2013. 558 Seiten, 59 Euro