Ein kleiner Trupp Neugieriger hat sich an der Endstation des Busses versammelt. Bis hierhin hat sich ein Gewerbegebiet ausgedehnt, dahinter beginnt das Reich der Kleingärtner. Lange, ungeteerte Wege mit Namen wie Milanweg oder Gartensängerweg, schmale Gräben und Kanäle, und hinter den Hecken die sogenannten "Parzellen". Die meisten sind gepflegt, mit kurz geschnittenem Rasen, Blumenrabatten oder Gemüsebeeten, andere völlig zugewuchert mit Brombeerbüschen, Farn, Brennnesseln und verwilderten Obstbäumen. Aus der Ferne tönt der Schallteppich einer Autobahn.
An der Haltestelle wartet schon Kirsten Tiedemann.
"Ich begrüße Sie herzlich hier zu unserem Rundgang durch das Parzellengebiet, ein Teil der Waller Feldmark. Ich bin Historikerin und habe mich seit längerem mit den Bremer "Kaisenhäusern" beschäftigt. Das ist ja das Wohnen auf der Parzelle in der Nachkriegszeit und habe dabei auch mich mit der Geschichte der Kleingartengebiete beschäftigt."
Einige leben bis heute auf den Grundstücken
Im August 1945 hatte Bremens Bürgermeister Wilhelm Kaisen per Erlass gestattet, dass Ausgebombte und Flüchtlinge in den beengten Lauben der Schrebergärten wohnen durften. Das sollte nur ein Provisorium für wenige Jahre sein, aber tatsächlich blieben etliche Familien auf den billigen Pachtgrundstücken wohnen - bis heute. Die Lauben wurden bald "Kaisenhäuser" genannt und durften bis zu 30 Quadratmeter groß sein.
"Das reichte für eine Familie mit zwei oder drei Kindern, also fünf Personen, nicht aus. Wie wir uns leicht vorstellen können, hat man halt angebaut, weil man keinen anderen Wohnraum in der Stadt erhalten konnte."
Der Typ des "Kaisenhauses" steht also für ein Behelfsheim, das von den Bewohnern im Laufe der Zeit immer wieder vergrößert, umgebaut und mit mehr Komfort ausgestattet wurde. Alles jedoch ohne behördliche Genehmigung, meist ohne Bauplan, Statiker oder Architekten.
Kirsten Tiedemann führt zu dem etwas versteckt liegenden, heute unbewohnten Haus der Familie Wyte und öffnet die Gartenpforte.
"1955 hat die fünfköpfige Familie diese beiden Räume bezogen. Und zwar waren das 18 Quadratmeter. Und zwar war das ein Wohnzimmer, ein ganz schmaler Flur. Eine Küche. Und eine Waschküche."
Bald wurde die Großmutter ins Haus geholt, die Kinder kamen in die Pubertät und sollten getrennt schlafen. Die Folge: An die 18-Quadratmeter-Bude wurde laufend angebaut, Durchbrüche gemacht, Fenster verschlossen.
"Jetzt hat man natürlich das Problem, dass dieses eine Zimmer kein Tageslicht mehr hat. Sie sehen da oben diese Glasbausteine, und diese Glasbausteine, da hat der Herr Wyte das so pfiffig gemacht, ich find das klasse, dass das Tageslicht in den umschlossenen Raum gelangt. Ein Glasbaustein lässt sich kippen, man kann es lüften!"
Eigeninitiative war unerlässlich
Familie Wyte lebte schließlich auf 100 Quadratmetern. Allerdings weigerte sich die Stadt, die Waller Feldmark mit Kanalisation auszurüsten. Frischwasser musste anfangs noch mit Eimern und Kanistern an Zapfstellen geholt werden. Dann legten Bewohner selber Frischwasserleitungen. Überhaupt war Eigeninitiative unerlässlich.
"Wer jetzt aufmerksam schaut, sieht dort die Stromleitungen, das hat man nach dem Krieg sehr schnell legen können, da hatte die Stadt keine Bedenken, dass die Menschen hier mit Strom versorgt sind. Jedenfalls kam von den Stadtwerken die Aufforderung: Stellt euch Masten auf, dann hängen wir euch die Leitungen ein!"
Die Nachbarn hielten zusammen, und nicht selten kam es zu regelrechten Katz-und-Maus-Spielen mit der Bauaufsicht. Maurer Wyte zum Beispiel hatte aus allerhand Gebrauchtmaterialien einen zusätzlichen Schuppen vorne auf sein Grundstück gesetzt. Natürlich ohne Genehmigung. Die Behörde verlangte den Abriss des "Schwarzbaus".
"Dann haben die eine Runde starker kräftiger Leute zusammen gerufen, den Schuppen an vier Ecken genommen, hinter die Garage gestellt. Man kann den Schuppen nicht mehr von der Straße sehen. Die Baupolizei kam und hat das kontrolliert. Nein, der Schuppen ist weg, super, alles schön. Sie sehen den Schuppen noch heute hier stehen. Er ist vor über 40 Jahren verrückt worden."
Gunda Golinski, Jahrgang 1954, wohnt noch heute in einem "Kaisenhaus". Sie erinnert sich an eine wunderbare Kindheit.
"Wir konnten immer rausgehen, spielen. Auch im Winter. Mein Vaddi hat immer den Graben im Oktober richtig schön sauber gemacht. Und denn hat's nachher im Dezember gefroren. Und dann sind wir da Schlittschuh gelaufen, und denn habe ich mit meinen Freundinnen da so Tänze einstudiert."
Häuser werden nicht mehr abgerissen
Ab 1974 wurde verstärkt überprüft, ob jemand unbefugt in die Feldmark gezogen war. Die Kaisenhausbewohner, die schon vorher da waren, erhielten ein verbrieftes Wohnrecht auf Lebenszeit. Aber gleichzeitig wurden "ausgewohnte" Häuser, selbst in tadellosem Zustand, auf Kosten der Stadt abgerissen. Die Gärten drum herum verwilderten.
Im vergangenen Jahr hat die Stadt Bremen ihren Kurs gegenüber den verbliebenen, hoch betagten "Kaisenhaus"-Bewohnern geändert. Wenn jemand wegzieht oder stirbt, wird das Haus nicht mehr abgerissen - die nächste Generation darf dort zwar nicht wohnen, aber das Haus als gewöhnliche Gartenlaube weiter nutzen.
Seit drei Jahren hält ein kleines Museum die Erinnerung an Bremens bescheidene Nachkriegsjahre lebendig. Es ist selbstverständlich in einem ehemaligen "Kaisenhaus" eingerichtet. Dort ist auch ein wichtiges Requisit der Selbstversorgung und Improvisationskunst zu sehen, sagt Jürgen Pohlmann vom "Kaisenhäuser"-Verein. Ein Zampel!
"Viele der Menschen haben im Hafen gearbeitet, man hat seinen Zampel, seine Umhängetasche mitgenommen, und wenn man ausm Hafen zurückkam, dann war da ab und zu auch eine Latte oder ein Kantholz, und das wurde mit nach Hause genommen. Entweder für die Bauarbeiten, oder auch, um zu heizen."