Vor 150 Jahren, am 18. Januar 1871, entstand das Deutsche Kaiserreich. Vorausgegangen waren drei Kriege: gegen Dänemark 1864, zwei Jahre später die Schlacht von Königgrätz gegen Österreich, das damit aus Deutschland herausgedrängt wurde, und der deutsch-französische Krieg 1870/71. Der Ort der Reichsgründung, Versailles, war mit Bedacht gewählt. Der Tag war es auch: Denn am 18. Januar 1701 hatte sich der damalige Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg zum Ersten König in Preußen krönen lassen. Und – auch das gehört zur deutsch-französischen Geschichte – am 18. Januar 1919 begannen die Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg, die in den Versailler Vertrag mündeten. Also immer wieder der 18. Januar und Versailles.
Professorin Hélène Miard-Delacroix lehrt Geschichte an der Sorbonne in Paris. Zusammen mit ihrem deutschen Kollegen Professor Andreas Wirsching hat sie das Dialogbuch "Von Erbfeinden zu guten Nachbarn" herausgegeben.
Christoph Heinemann: Wieso wurde der preußische König in Versailles zum Kaiser des Deutschen Reichs ausgerufen?
Hélène Miard-Delacroix: Es scheint in der Tat etwas eigenartig, dass eine Reichsgründung im Ausland stattfindet. Das hat damit zu tun, dass in dieser Zeit, im Januar 1871, der deutsch-französische Krieg oder der preußische Krieg noch nicht zu Ende war. Man weiß in Deutschland, dass die Schlacht in Sedan am 2. September 1870 im Prinzip der Sieg Preußens über Frankreich ist. Aber der Krieg ging weiter, weil am 4. September die Französische Republik ausgerufen worden ist, und die französische Seite hat sich geweigert, die Kapitulation mit der Abtretung der französischen Gebiete anzuerkennen. Insofern wurde weiter gekämpft. Paris wurde belagert von den Deutschen seit Mitte September. Und es war in diesem eigenartigen Kontext, wo der Generalstab mit dem König von Preußen sein Hauptquartier im nahegelegenen schönen Schloss in Versailles bezog, nicht sehr weit von Paris bekanntlich. Das war Gastschloss der französischen Könige, insbesondere von Ludwig XIV.
"Beginn einer Vendetta"
Heinemann: Genau das wäre meine nächste Frage. Welche Bedeutung hat dieses Schloss und auch der Spiegelsaal von Versailles für Frankreich?
Miard-Delacroix: Ja, das war kein Zufall, dass diese Kaiserproklamation in diesem Ort stattfand, insbesondere an diesem Tag. Denn der Spiegelsaal ist der schönste Saal in dem Schloss der französischen Könige und des Sonnenkönigs. Insofern ist es etwas Sakrales, wenn man will. Die Proklamation eines deutschen Nationalstaates im Kontext eines deutsch-französischen Krieges, die Proklamation eines militärisch geprägten Staates war aus französischer Sicht eine symbolische Aggression und eine Demütigung, eine Erniedrigung, wenn man will, mehr noch als die Niederlage, und insbesondere in diesem Krieg, wo es auf beiden Seiten um die nationale Ehre ging. Auf der deutschen Seite gesehen war es eine Rache für die im Spiegelsaal dargestellte Zerstörung der Pfalz früher mal. Insofern ist es der Beginn einer Art Vendetta zwischen beiden Ländern.
"Preußen beanspruchte die Hegemonie"
Heinemann: Jahrhundertelang bestand in der Mitte Europas ein Flickenteppich. Nun auf einmal ein Nationalstaat, eine militärische, eine zunehmend auch wirtschaftliche und wissenschaftliche Großmacht. Was bedeutete diese Reichsgründung für Europa?
Miard-Delacroix: Seit den Napoleonischen Kriegen war die Ordnung in Europa gesichert durch den Frieden von 1815. Und der Aufstieg einer Macht in Europa in der Form von Preußen, das sich behauptete nicht nur gegenüber den Nachbarn, sondern sogar gegenüber Österreich, bedeutete mit der Reichsgründung den Umsturz der europäischen Ordnung. Dieser neue Staat als Militärstaat, wenn man will, zeigte sehr klar auch in der Form der Kaiserproklamation, dass Preußen die kontinentaleuropäische Hegemonie beanspruchte. Insofern ist es nicht nur für die besiegten Franzosen eine Wende, sondern für ganz Europa.
Die Frage der Nationalstaatsgründung
Heinemann: Wobei es nicht nur ein Militärstaat war; Es war ja auch mit der Gründerzeit eine wirtschaftliche Großmacht, die da entstand. Gab es aus Ihrer Sicht eine Alternative zur Reichsgründung?
Miard-Delacroix: Die wirtschaftliche Großmacht, die entsteht mit dieser Gründerzeit damals noch nicht. Preußen war auf dem Weg zur wirtschaftlichen Großmacht. Insbesondere war es ein langer Weg im Laufe des 19. Jahrhunderts mit dem Zollverein und so weiter. Aber die Gründerzeit, die findet in den Jahren danach statt, nicht wenig auch mit den fünf Milliarden Franc, Gold-Franc, die Frankreich gezahlt hatte.
Heinemann: Die Reparation.
Miard-Delacroix: Die Reparation. Ob es eine Alternative gab? Es gibt immer Alternativen. Geschichte wird von Akteuren gemacht, von Entscheidungsträgern, denn sonst, wenn es keine Alternative gibt, ist es ein Determinismus, und das geht nicht. Was man aber sagen kann ist, dass die Frage der Nationalstaatsgründung in Deutschland sich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestellt hatte, im Rahmen der Revolution von 1848. Und in 1849 hätte man diese Frage lösen können, aber in der Form, die dem preußischen König damals nicht gefallen hat. Ja, man hätte einen deutschen Nationalstaat gründen können, aber zusammen mit Österreich, was wiederum kompliziert war, weil es bedeutet hätte, dass Österreich sich getrennt hätte von den nicht deutschsprachigen Gebieten. Und sowieso war das Ergebnis des Krieges zwischen Österreich und Preußen 1877, dass Österreich sozusagen aus der europäischen Ordnung an die Peripherie gedrängt wurde als südosteuropäische Macht, sodass Preußen auch freie Bahn hatte um die Nationalstaatsgründung um sich herum.
Aggressive Züge auf beiden Seiten
Heinemann: Frau Professorin Miard-Delacroix, Sie haben in Ihrem Dialogbuch mit Andreas Wirsching auf die Weltausstellung von 1867 in Paris verwiesen, auf die großen Pavillons von Preußen, Baden und Bayern, und die Germania-Statue auch angesprochen und diese gewaltige Krupp-Kanone, die dort ausgestellt wurden. Wann begann man in Paris zu ahnen, dass jenseits des Rheins etwas Neues entstehen würde?
Miard-Delacroix: Ja, das war ein langsamer Prozess. Auseinandersetzungen hat es zwischen den zwei Nachbarländern immer wieder gegeben. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts, 1840 mit der Rhein-Krise, zeigte Preußen aus französischer Sicht aggressive Züge. Aus der deutschen Sicht war es umgekehrt. Aber mit dem Zollverein allmählich und vor allem mit seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten 1862 in Preußen war aus Pariser Perspektive klar, dass Deutschland nicht mehr so ein kleines Land, sagen wir mal, des "Ancien Regimes war", sondern Ansprüche hatte, in die "Normalität" von einem Nationalstaat zu kommen.
"Der Erste Weltkrieg war vorprogrammiert"
Heinemann: Wie hat Frankreich auf diese Gründung des Deutschen Reichs geblickt?
Miard-Delacroix: Es war eine Mischung aus Demütigung, wie ich gesagt habe, und Besorgnis – aus den Gründen, die wir genannt haben. Weil da mit dem klaren Anspruch auf eine kontinentaleuropäische Hegemonie auch der militärische Kontext, auch die Prägung durch den Krieg – alle kennen diese berühmten Gemälde, wo man diese Reichsproklamation sieht. Man sieht nur Militärs. Man sieht nur Säbel, keine Vertreter der Zivilgesellschaft sind da. Da hat man sehr wohl verstanden, dass da nicht nur ein Staat sich gründete, sondern dass dieser Staat Ansprüche hatte und wahrscheinlich weiterhin in kriegerischen Auseinandersetzungen getroffen wird.
Heinemann: Das heißt, aus französischer Sicht war der Kampf um die Vorherrschaft in Europa damit vorprogrammiert?
Miard-Delacroix: Wenn man eine Rück-Perspektive nimmt - Frankreich wie England wie andere Mächte auch in Europa haben immer in einem Wettbewerb gestanden im Laufe der Jahrhunderte. Aber diesmal stellte sich die Frage nach der Vorherrschaft. Man könnte sagen, dass Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch die Frage gestellt hatte. Aber da, am Ende des 19. Jahrhunderts, stellte sich die Frage nach der Macht unter sogenannten sozial-darwinistischen Zügen. Das heißt, es entwickelte sich in allen Ländern eine Form des Nationalismus, in vielen Ländern auch ethnisch geprägt, mit der Vorstellung, dass es ein Kampf ums Überleben und um die Vorherrschaft gegenüber den Nachbarn ist. Preußen war besonders geprägt von diesem Denken. Diese Mischung aus der preußischen Tradition, die Realpolitik, Primat des Krieges, Clausewitz, Sozialdarwinismus und das Denken in Kriegskategorien. Das ist das ganz besonders Neue. Diese Wende am Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem in der Tat der Erste Weltkrieg sozusagen vorprogrammiert war, auch weil mit dieser Demütigung des französischen Staates, dieser Bevölkerung, der Geist der Revanche gepflegt wurde und dass die Gegnerschaft konstruiert wurde zu einer sogenannten Erbfeindschaft, die nicht nur die Kabinette, nicht nur die Militärs einbezieht, sondern die Völker, denen man erklärt, dass sie bis zum Äußersten gegen den Gegner, gegen den Nachbarn kämpfen müssen.
"Demütigungen haben ungeheure Dynamik entfaltet"
Heinemann: Demütigung, Vendetta, sagten Sie, am 18. Januar 1871 in Versailles. Auch an einem 18. Januar begannen die Verhandlungen auch in Versailles nach dem Ersten Weltkrieg zum Friedensvertrag. Welche Rolle spielten gegenseitige Demütigungen in der deutsch-französischen Geschichte bis 1945?
Miard-Delacroix: Man stellt als Historiker fest, dass diese Demütigungen eine ungeheure Dynamik entfaltet haben. Sie haben zugleich das Verhältnis vergiftet, die Natur des Krieges und auch die Deutung des Krieges. Und das ist ein fantastisches Mobilisierungsinstrument gewesen - sowohl real, weil jeder Soldat dann einen Sinn fand für sein Opfer, aber auch propagandistisch war es extrem effizient. Insofern konnte man diese Kriege erklären als Volkskriege. Die Ehre des Volkes, das heißt jedes einzelnen Teilnehmers vom Volke, sei da angegriffen worden, und das ermöglichte die Eskalation. Insofern kann man aus dieser Sicht gesehen sagen, dass die nächsten Kriege vorprogrammiert waren.
Heinemann: Genau. Und die Spuren sind bis heute sichtbar. Der Pariser Platz in Berlin, heute die Adresse der französischen Botschaft, bekam seinen Namen 1814 zur Erinnerung an den Sieg preußischer Truppen in der Schlacht bei Paris. Die Straßen umgekehrt rund um den Triumphbogen in Paris bei Ihnen sind nach napoleonischen Siegen unter anderem gegen Preußen benannt – Friedland, Tilsit, Jena. In der Avenue de Jena befindet sich das Goethe-Institut. Wie sollten beide, wie sollten Franzosen und Deutsche mit diesem Erbe umgehen?
"Gemeinsame Geschichte nicht verdrängen"
Miard-Delacroix: Sie müssen mit diesem Erbe umgehen, wie man mit einer gemeinsamen Geschichte umgeht. Das heißt, man soll sich zunächst einmal vergegenwärtigen, was die damalige Deutung war, mit einem gekreuzten Blick auch verstehen, was die Deutung der anderen Seite gewesen ist, und das heute als gemeinsame Geschichte zu betrachten. Das heißt, nicht zu verdrängen, nicht zu sagen, ach, wir lieben uns alle und es ist alles schön und gut, sondern mit diesem Bewusstsein von der Wucht früherer Auseinandersetzungen eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft zu gestalten.
Heinemann: Was lernen französische Schülerinnen und Schüler über den 18. Januar 1871?
Miard-Delacroix: In den Schulbüchern muss man immer ein bisschen schnell gehen. Insofern vereinfacht man etwas. Aber in den französischen Schulbüchern dominiert immerhin die Figur Bismarck. Bismarck als der große Architekt, der Realpolitiker, der zum Teil auch so gar nicht aufpasste, ob es den anderen gefiel oder nicht. Der es geschafft habe, dieses ursprünglich kleine Preußen zum Machtzentrum in Europa zu schaffen. Man lernt auch, dass das Deutsche Reich auch eine extrem große Dynamik hatte, eine wirtschaftliche, eine wissenschaftliche, aber man lernt weiterhin, dass diese militärische Prägung bei der Reichsgründung die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches verhindert hat und dass man eines verlorenen Krieges und einer Revolution 1918 bedurfte, um überhaupt in Deutschland Demokratie herzustellen.
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